Wie zynisch, dass erst eine Lastwagenbombe, die in Kabul mehr als 90 Menschen tötete, diese Atempause ermöglicht. Von langer Dauer wird das Innehalten nicht sein. Denn Menschlichkeit ist in der deutschen Abschiebepraxis kein Maßstab mehr. Wahltaktische Überlegungen beeinflussen die Entscheidungen. Um den Rechtspopulisten vor der Bundestagswahl das Wasser abzugraben, heißt die Devise: Abschieben auf Teufel komm raus.
Das Außenministerium wird nun früher als geplant einen neuen Lagebericht zur Sicherheit in Afghanistan erstellen. Doch wenn sich der neue Minister Sigmar Gabriel (SPD) allein auf die Einschätzung der deutschen Botschaft in Kabul verlässt, wird das Ergebnis kaum wahrhaftiger ausfallen. Seit Monaten widersprechen Hilfsorganisationen und die Vereinten Nationen der amtlichen deutschen Darstellung von sicheren Regionen und warnen vor den anhaltenden Gefahren für Leib und Leben, seit Monaten ignoriert die Bundesregierung diese Warnungen.
Einige Bundesländer, die in der Sache zuständig sind, haben im Alleingang die Abschiebungen gestoppt, die Mehrheit aber folgte der rigorosen Linie von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesinnenminister Thomas de Maizière (beide CDU) – im Vertrauen auf den Lagebericht des Auswärtigen Amtes, auf den sich auch Richter in den entsprechenden Verfahren verlassen. Sicherheit per Definition von außen hat aber, wie nicht erst der blutige Anschlag von Kabul zeigt, wenig mit der Wirklichkeit zu tun.
Im kriegszerrütteten und wirtschaftlich desolaten Afghanistan ist Gewalt durch die Taliban und zunehmend auch den Islamischen Staat an der Tagesordnung. Die Regierung hat dem wenig entgegenzusetzen, kann die Sicherheit der Bevölkerung nicht garantieren, bekommt die grassierende Korruption nicht in den Griff und sieht sich nicht einmal in der Lage, die überfälligen Parlamentswahlen zu organisieren. Sie ist äußerst labil, das Land am Boden und die angeblich sicheren Regionen sind allenfalls für Angehörige der jeweils herrschenden Ethnie relativ sicher.
Das Argument, in dem Land lebten Millionen Menschen ohne Bedrohung, zieht schon von daher nicht, um Abschiebungen zu rechtfertigen. Ebensowenig trifft der Verweis auf die weitaus größere Zahl freiwilliger Rückkehrer, die in Clans oder funktionierenden Familienstrukturen aufgenommen werden. Denn die alleinstehenden Männer, die mit Priorität zwangsweise nach Afghanistan ausgeflogen werden, sind oft entwurzelt, ohne Halt und ohne Angehörige in dem Land, das ihnen längst nicht mehr Heimat ist.
Die Flüge mit ein oder zwei Dutzend „Schüblingen“, wie es in der Amtssprache heißt, sind zur Routine geworden, und erregen nur noch selten öffentliche Aufmerksamkeit. An Einzelschicksalen aber, wie gerade erst dem eines 20-Jährigen aus Bayern, für den sich massiv Mitschüler und Lehrer einsetzten, wird die tiefe Unmenschlichkeit des Verfahrens deutlich. Der junge Mann ist im besten Sinne angekommen, und auch wenn ihm Asyl nicht zugebilligt wird, ist seine Abschiebung ins Ungewisse, in Angst und Perspektivlosigkeit tragisch. Er muss mit einigen Hundert Landsleuten ähnlicher Biografie dafür herhalten, dass die Bundesregierung Härte demonstrieren und die vermehrte freiwillige Ausreise anreizen will.
Menschlichkeit ist in der internationalen Politik kein Maßstab und darf dies auch nicht werden. In der anarchischen Ordnung des internationalen Staatensystems sterben die Staaten über kurz oder lang aus, da sie sich nicht gegen Staaten durchsetzen, die blanke Realpolitik zu ihren Gunsten vertreten. Niemand kann sich erlauben Ressourcen zu verschwenden. Im Makrokosmos der politischen Ordnung zählen Einzelschicksale nicht. Wer Humanismus zur Leitlinie seiner Politik erklärt – verliert. Das hat schon Machiavelli vor 500 Jahren festgestellt.