Der Ankündigung von Angela Merkel mit dem „Wir schaffen das!“ folgte spontan eine geradezu einzigartige Willkommenskultur, wie es sie im wiedervereinigten Deutschland zuvor nicht gab. Vor allem ehrenamtliche Helfer empfingen die vielen tausend Flüchtlinge an Grenzübergängen, Bahnhöfen und wo auch immer. Sie ließen den Menschen, die dem schrecklichen Krieg in Syrien, den Wirren in Eritrea, im Jemen oder in Afghanistan entkommen waren, die Leib und Leben retten konnten, eine herzliche Zuwendung zuteilwerden. Das Deutschland-Bild in der Welt erreichte so positive Werte wie niemals zuvor. Die Bundeskanzlerin wurde schon bald als „Heilige Angela der Flüchtlinge“ verehrt – insbesondere in den Regionen, in denen Menschen auf der Flucht sind und sich in Not befinden.
Unterschätzter Flüchtlingsstrom
Das politische Gerangel um die Migration, das in mehreren Akten seit etwa 3 Monaten hierzulande stattfindet, hat die Stimmung zum Teil gewaltig verändert. Die Mehrzahl der Bürger musste den Eindruck gewinnen, dass Politik und Verwaltung dem Zustrom von Menschen jenseits deutscher Grenzen nicht Herr werden können. Aus vielen Kommunen mehren sich die „Land-unter-Meldungen“: Die Kapazitäten seien erschöpft, Turnhallen und andere Gebäude seien bereits belegt, winterfeste Quartiere nicht in Sicht. Die Regierungen im Bund und in den Ländern hatten ohne Zweifel die Breite des Flüchtlingsstroms völlig unterschätzt. Waren Anfang diesen Jahres etwa 200.000 bis höchstens 400.000 Flüchtlinge erwartet worden, so wird die Zahl der Migranten bis Ende 2015 auf über 1 Million steigen.
Integrationskultur gefordert
So großartig die Willkommenskultur auch war, die Integrationskultur ist eher miserabel bis beschämend. Da die meisten Partner in der EU völlig überfordert sind, wurde das einst von allen vereinbarte Dublin-Abkommen schnell über Bord geworfen. Kontrollen, Registrierung und Aufnahme an den EU-Außengrenzen waren schier unmöglich und sind es immer noch. Ungarn baute Zäune, Slowenien und Kroatien gingen in der Flüchtlingsflut geradezu unter. Mit Bussen und Zügen wurden die Migranten vom einen Land ins andere weitertransportiert. Die meisten Menschen, die sich zu einer Völkerwanderung aufgemacht hatten, wurden einfach weitergeschickt und durch Wegweiser über die richtigen Pfade vor allem nach Deutschland –insbesondere nach Bayern- geleitet.
Notmaßnahmen gegen Zuwanderung
Ziemlich lange Zeit brauchte es, bis sich die Bundesregierung des größten Problems engagiert annahm. Der Bundesinnenminister, sein Amt und die nachgeordneten Behörden waren völlig überfordert. Peter Altmaier, der Chef des Kanzleramtes, wurde dann zum Flüchtlingskoordinator ernannt. Die Politiker der großen Koalition diskutierten und stritten lange Zeit darüber, was sie nicht wollten. Der Bundesfinanzminister stellte immerhin Milliarden-Beträge für Länder und Kommunen zur Verfügung. Ob diese ausreichen, ist ungewiss; ob finanzpolitisch die „schwarze Null“ einzuhalten ist, bleibt abzuwarten. Immerhin haben die Berliner Koalitionäre erste Positionspapiere zustande gebracht, die darauf abzielen, die Zuwanderung zu ordnen und zu steuern, die Fluchtursachen zu bekämpfen und die Integration der Schutzbedürftigen zu sichern. In Einreisezentren sollen vor allem diejenigen ohne jede Aussicht auf Asyl-Anerkennung „aussortiert“ und in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden.
Zerreißprobe für die EU
Angela Merkel ist sogar zu Erdogan in die Türkei gereist, um dort um Hilfe zu bitten. Milliarden Euro wurden dem Land, in dem sich etwa 2 Millionen Flüchtlinge aufhalten, in Aussicht gestellt, wenn es die Weiterwanderung in Richtung EU unterbindet. Finanzielle und personelle Hilfen sollen auch Griechenland und Italien gegeben werden, damit diese Länder den Flüchtlingsstrom verringern. Krisengipfel der EU wurden veranstaltet. Doch von einer Solidaritätsgemeinschaft ist Europa meilenweit entfernt. Polen, Rumänien, Bulgarien, Tschechien, Slowakei und andere EU-Partner wollen möglichst keine Flüchtlinge aufnehmen. Sie versuchen, der Bundeskanzlerin immer wieder klar zu machen, dass die Migranten gar nicht in deren Länder, sondern vor allem nach Deutschland wollen. So steht die europäische Gemeinschaft inzwischen vor einer ihrer schwierigsten Bewährungsproben. Deutschlands Bevölkerung hat in weiten Teilen nicht den Eindruck, dass die verantwortlichen Politiker mit der neuen Art von Völkerwanderung fertig werden und dass insbesondere auch die staatlichen Institutionen damit völlig überfordert sind. Die konsequente Anwendung des Asylrechts wird bereits daran scheitern, dass einige Bundesländer nicht zügig Abschiebungen vornehmen oder auch daran, dass sie den Ersatz des Taschengeldes durch Sachleistungen als zu kompliziert ablehnen. Die Befriedung Syriens, die Herstellung der Sicherheit in Afghanistan, Eritrea, im Jemen oder in Somalia sowie in anderen Staaten, in denen der IS seinen Terror fortsetzt, können von deutscher Politik nur marginal beeinflusst werden. Die Herstellung von besseren politischen und wirtschaftlichen Perspektiven in vielen Ländern Afrikas und Asiens ist richtig und wichtig, doch selbst mit wesentlich höheren Finanzleistungen als bisher wird das viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, dauern.
Gefährlicher Trend nach rechts
Deutschland steht damit nolens volens vor einer Jahrhundertaufgabe. Die neuzeitliche Völkerwanderung wird unser Land enorm fordern und enorm verändern. Viele Menschen fürchten sich gar vor einer Destabilisierung und Erosion der inneren Ordnung. Gewiss, Umfragen sind noch keine Wahlergebnisse. Doch spiegeln sie Trends wider. Trotz der nach wie vor hohen Popularität von Angela Merkel ist die Union von über 40 % auf 36 % abgestürzt. CDU- und CSU-Anhänger mögen dieses Ergebnis der Sonntagsfrage „Wenn … Bundestagswahl wäre…“ als Menetekel betrachten. Die SPD profitiert von diesem Absturz der Union kaum. Die FDP kommt bei dem bundesweiten Befund nicht einmal über die 5 %-Hürde. Doch die vor wenigen Monaten totgesagte AfD springt auf 9 %. In einigen ostdeutschen Ländern –so die Demoskopen– würden sogar 18 % der männlichen Wähler auf diese Partei setzen. Ein solcher Rutsch nach rechts sollte die Alarmglocken läuten lassen – vor allem bei der CDU und CSU sowie bei der SPD. Ihr Hick-Hack in der Flüchtlingspolitik muss schnellstens beendet werden. Was CDU, CSU und SPD in den letzten Wochen geboten haben, war mehr dazu geeignet, die Bevölkerung zu verwirren. Quer durch die Bundesregierung und die Parteien gehen Risse in der Flüchtlingspolitik. Das schafft Verunsicherung und Angst davor, dass weder die Union noch die SPD, weder Thomas de Maizière noch Sigmar Gabriel, weder Peter Altmaier noch Wolfgang Schäuble, diese schwierigste Herausforderung meistern können, zumal die klaren Vorgaben der Kanzlerin fehlen und ihre Richtlinienkompetenz nicht sichtbar wird.
Regierung muss alle Menschen gründlich informieren
Wenn in diesem Jahr 1 Million Flüchtlinge und in den nächsten Jahren möglicherweise noch mehr nach Deutschland kommen, muss die Bundesregierung mit ihren politischen Vorgaben Länder und Kommunen darauf richtig einstellen, die gesetzlichen Regelungen für alle verständlich festlegen, die Finanzierung der Kosten sicherstellen und alle Menschen im Land über die notwendigen Veränderungen informieren. Ein klarer, verständlicher Asyl-Kurs muss gesteuert werden. Vor allem muss dieser den Bürgerinnen und Bürgern offensiv erklärt werden. Sonst besteht die Gefahr, dass immer mehr Menschen in unserem Lande fürchten: Wir schaffen das nicht. Wenn selbsternannte Patrioten gegen die Islamisierung des Abendlandes Front machen und die pure Angst vor Flüchtlingen mit großer Propaganda schüren, sind dies sehr gefährliche Signale. Niemand darf sie übersehen – auch die Kanzlerin nicht! Denn der Rutsch nach rechts könnte sich sonst noch verstärken.
Bildquelle: Inessa Podushko / pixelio.de
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