Rolf Dieter Brinkmann war ein Kölner Schriftsteller. Er wäre in diesem Jahr 80 Jahre alt geworden. Er starb am 23. April 1975 in London, nachdem er, im Anschluss an eine erfolgreiche Lesung beim “Cambridge Poetry Festival“, vor dem Pub Shakespeare beim Versuch, die Strasse zu überqueren, aufgrund des für ihn ungewohnten Linksverkehrs von einem Auto erfasst wurde. Er wurde nur 35 Jahre alt.
Mein Zugang zu seinem Werk verlief über mehrere Stationen. Zunächst machte mich Dieter Wellershoff auf ihn aufmerksam, der sein Lektor bei Kiepenheuer & Witsch war. Noch am Vorabend seines Todes hatte er sich mit ihm in einer Kneipe getroffen, da Brinkmann sich in einer Schreibkrise wähnte.
Ich gebe zu, ich hatte Schwierigkeiten, mich den Texten Brinkmanns zu nähern. Dann lernte ich auf dem Nippesser Flohmarkt einen Antiquar kennen, der lange mit Brinkmann befreundet war. Gemeinsam hatten sie im Buchhandel gearbeitet. Er erzählte mir einiges über die Persönlichkeit Brinkmanns. Er hatte ihn am Tage seines Todes früh morgens zum Kölner Flughafen kutschiert.
Um den ersten Gedichtband Brinkmanns herauszubringen, hatte er eigens einen kleinen Verlag gegründet. Er ließ 1000 Exemplare drucken, die leider einige Druckfehler enthielten. Brinkmann bestand darauf, dass die Auflage eingestampft wurde. Das war gleichzeitig das Ende des Verlags. Zum Glück brachte der Antiquar einige Exemplare in Sicherheit, die er heute zu einem stattlichen Preis an Brinkmann-Verehrer verkaufen kann.
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Brinkmanns Schreiben ist ein einziges Aufbegehren gegen die Umstände seiner alltäglichen Lebenssituation: die Enge der Wohnung, die ständigen Geldnöte, die familiären Verhältnisse. Und gegen die Zumutungen des Großstadtlebens, die Gleichgültigkeit und Abgestumpftheit der Menschen, die Hässlichkeit der Architektur, den Lärm, Gestank und Schmutz der Straße, die Penetranz der Warenästhetik mit ihren Scheinangeboten und Glücksversprechen. Wollte man einen Begriff finden, der Brinkmanns Empfindungen ausdrückt, wäre dies zweifellos der Begriff der Entfremdung: und zwar im umfassenden Sinne – so wie Marx den Begriff geprägt hat: von den gesellschaftlichen Umständen; von sich als Person; von den zwischenmenschlichen Beziehungen und selbst von den Produkten seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Eines bedingt das andere: eine zutiefst verunsicherte und unglückliche Persönlichkeit bewegt sich in einem gesellschaftlichen Kontext voller innerer Widersprüche; die Erfahrungswelt des Autors ist von Zerrissenheit und einem Gefühl der Fremdheit und Verlorenheit geprägt.
Dieter Wellershoff, der für Brinkmann wohl so etwas wie eine Vertrauensperson war, schildert die Intentionen seines Schreibens so: Schreiben ist für Brinkmann spontane Intuition, innere Aufwallung, Zustrom von Eindrücken, eine Kette momentaner Evidenzen, immer und, solange es andauert, eine grandiose Form der Existenz, mal punktgenau den Augenblick treffend, mal gestenreich sich in weiträumiger Gedankenflucht verlierend, vor dem Hintergrund einer verwirrend vielfältigen, aber für sich seienden, in sich verschlossenen Welt, wo er sich letzten Endes immer in derselben Situation sieht.
Brinkmann versucht, die innere und äußere Zerrissenheit seiner Lebensumstände schreibend zu verarbeiten. Womöglich, um sie auf diese Weise zu bewältigen oder zumindest dagegen an zu schreiben. Dass dies eine Illusion bleiben würde, ist Brinkmann wohl zunehmend bewusst geworden und hat immer wieder zu Situationen der Resignation und Verzweiflung geführt. In einem Brief an seinen Freund Hartmut schildert er seine Lebenssituation:
Was mich betrifft, bin ich ziemlich aus der Form gekommen. Die Arbeit am Gedichtband seit Sommer, das Hin und Her mit den Verlagen und dem Geld…Pump, Kredite von Freunden, das Telefon abgekniffen, der schreckliche Kölner Winter in einer engen vergammelten Wohnung, wo`s zieht, die Fensterrahmen faulen, die Küche zu groß und hoch, „klassizistisch“, ohne zu beheizen..die endlosen lichtlosen engen, niedrigen Tage, ein dumpfes Gemisch, der Stadtverkehr, mit dem man konkurrieren muß, ist man draußen, Spaziergänge, die nur Gänge zum Einkaufen sind, keine Vegetation, alles nur verstaubter Stein, Wohnungen wie Steinhöhlen…wieder meine angesammelte Bibliothek Stück für Stück verkaufen müssen. Zersplitterter Sex, oder was schlaffes, weil nachts man zu sehr erschöpft ist vom Tag (und das Allerschlimmste ist, dass diese miese Realität einen, mich, jeden, so angespannt hält, dass man zwischendurch gar nicht mehr tagträumen kann, keine Pausen einlegen kann) —ich fühle mich total unterlegen und runtergebeugt, – gehe ich mir ne Arbeit suchen, kann ich nicht mit Schreiben Geld verdienen, wenigstens etwas, und alles muß man vorfinanzieren, jeden Tag leben….: kannst Du Dir vorstellen, wie das alles zersetzend ist? Mich überkommt einfach dann eine große Müdigkeit, die träge macht und schwerfällig macht…kurz nach dem Aufstehen könnte ich manchmal schon wieder einschlafen. Oder der Schlaf ist benommen und benommen davon wacht man auf und muß sich erst mal vom Schlafen erholen….weil’s nämlich keine Aussichten in dieser Stadt gibt, alles nur entsetzlich hässlich ist, wie in jeder westdeutschen Großstadt, besonders seit den letzten vier, fünf, sechs, sieben Jahren in einem rasenden Tempo geworden, nichts als Industrie, kaufen, verkaufen, dazu die Tränensäcke der Theoretiker, die durch die Gegend wandern…. und die Stadt, Umwelt, unästhetisch wie`n verstopftes Klosett, und das Klima, ebenso verstopft, macht aggressiv und schlampig — das ist die genaue Beschreibung Kölns, eine Drecksstadt.
Textstellen wie diese gibt es Dutzende bei Brinkmann. Man braucht sie nicht zu interpretieren. In ihrer Direktheit und Schonungslosigkeit sprechen sie für sich. Dies
entsprach der Schreibintention Brinkmanns in einer bestimmten Phase seiner Entwicklung. Ihm gefällt es, einfach und direkt etwas zu sagen. Er sieht darin einen größeren Freiraum für sein Schreiben, selbst wenn das so direkt gar nicht in der deutschen überlasteten, mit Begriffen und weltanschaulichen Abstraktionen (unsinnlichen Begriffen) überlasteten Sprache möglich ist….
Fast immer sind es Alltagssituationen, die das auslösende Moment für Brinkmanns Schreiben bilden. Scheinbar nebensächliche Dinge, etwas, das ihn stört oder sonst wie seine Aufmerksamkeit hervorruft. Diese Wahrnehmungen werden in ihrer oft brutalen Unmittelbarkeit umstandslos benannt. Sie sind es, die Irritationen auslösen und den Autor zur Reflexion über sich und die Welt veranlassen. Dabei entwickelt Brinkmann eine erstaunliche, fast schon pathologisch anmutende Sensibilität: alltägliche, scheinbar vertraute Alltagssituationen, an die man sich längst gewöhnt zu haben scheint, werden durch Brinkmann ihrer Selbstverständlichkeit beraubt. Mit einer geradezu fotografischen Präzision führt Brinkmann alltägliche Abläufe vor, um deren Monotonie, Sinnlosigkeit und zerstörerische Potenz bewusst zu machen. Es sind zugleich die Abläufe, unter denen er selbst leidet und gegen die er sich auflehnt – mit all seiner Phantasie, Wut und Verzweiflung.
Manchmal, wenn ich rausgehe, kriege ich nach einiger Zeit regelrechte Wutanfälle und ich könnte den Leuten mit ihren angelernten Redensarten und Ansichten faule Putzlumpen in ihre Mäuler stopfen, Fernsehgeräte auf die Straße werfen, die Musiksendungen nachmittags mit den chicen ordentlichen modernen Sprechern durchprügeln, die glotzenden Rentner, die überall rumsitzen, die ganze sogenannte „humane“ Kacke, von denen das Land hier vollgestopft ist, dieses miese mickrige Arbeitslager, das sie so perfekt mies und kleinbürgerlich ordentlich gemacht haben, überall eingeteilt in kleine Kästchen mit Geranien, diese Muffpopgeneration aus den Vorstädten – ah, da schüttelt mich Wut, was gar nicht gut ist, denn ich bin es ja, der sich über den enormen Scheißdreck ärgert, und ärgern tut weh, da muß ich mich anstrengen, abzubiegen, mich selber rauskatapultieren aus den Zusammenhängen, dem vorgegebenen Sinn, der immer enger, dichter, stickiger zu werden scheint. Und die Leute rotieren wie blödsinnig auf der Stelle, hin und hergeschüttelt durch Mode, Musik, noch ein Fetzchen neues, noch wieder eine neue miese Kitschmodesaison. Dabei ist alles, wirklich alles, so ungeheuer schäbig und klapprig! Aber sie alle gehen da hindurch, wie die Könige des Drecks! Viel zu viele „Engel“ singen in dem Muff hier!
Der Versuch Brinkmanns, die Dinge unmittelbar und ohne Umschweife zu benennen, ist nicht nur Ausdruck seiner Verzweiflung, ja seines Hasses auf die Zumutungen der Zivilisation (in seiner Schreibart: Ziviehlisation); gleichzeitig handelt es sich dabei um ein ästhetisches Prinzip. Brinkmann nimmt Maß an Schriftstellern wie W.C. Williams oder den jüngeren PopArt Autoren wie z.B. Frank O`Hara. Aber er orientiert sich ebenso an ästhetischen Vorbildern wie Western oder sog. B-Movies oder Texten des Rockn`Roll. Er bewundert an ihnen die präzise Beobachtung alltäglicher Details. Empfindungen ganz dinglich-konkret auszudrücken – das ist für ihn ein künstlerisches Ideal, dem er nachstrebt. Ihm geht es um den rohen, unmittelbaren Effekt und nicht um einen Kunsteffekt.
Er möchte seinen Wahrnehmungen ein gewisses Maß an Konkretheit verleihen. Ganz im Sinne Hegels, wonach die Wahrheit immer konkret ist. Nichts soll aufgebläht, begrifflich verbrämt oder gekünstelt daherkommen. Auf diese Weise versucht, er ein gewisses Maß an Selbstvergewisserung zu erreichen; den Dingen nahe zu kommen. Möglicherweise unterliegt Brinkmann gar der Illusion, dass die vorwärts drängende Energie des Schreibprozesses selbst schon die Überwindung der Probleme mit sich bringt, die ihn bedrängen.
Teilweise fließen seine Alltagserfahrungen ungefiltert in sein literarisches Schreiben ein. Insbesondere gilt dies für seinen Roman Keiner weiß mehr, den man als ein einziges Lamento auf seine Lebensumstände lesen kann. Wellershoff weist in diesem Zusammenhang auf das begrenzte thematische Repertoire Brinkmanns hin:
Sein autobiografisches Material war der kleinbürgerliche Alltag in seiner unverhüllten Schäbigkeit aus täglichen Wiederholungen und Frustrationen: eheliche Entfremdung, Missverständnisse, verstörte, gehemmte Sexualität und ausbrechender Streit, Flucht aus der Wohnung, um der erstarrten Aussichtslosigkeit zu entkommen, zielloses Herumlaufen in der Stadt, ständig verwirrt durch den Anblick fremder Frauen, die alle in einem anderen, besseren Leben zu Hause zu sein schienen und für ihn unerreichbar waren, Kinobesuche, um sich abzulenken, nach langem Zögern ein blamabler, unbefriedigender Bordellbesuch, Freunde, die mit ihren Erfolgen angaben, bei denen alles zu stimmen schien, während er in einer Sackgasse steckte.
Aber Wellershoff ist es auch, der darauf hinweist, dass die Darstellung alltäglicher Abläufe keineswegs gering zu schätzen ist. Im Unterschied zur Schilderung grenzüberschreitender Ausnahmesituationen wie Verbrechen, großen Unglücken usw. , denen die Aura der Grandiosität anhafte, verlange die Darstellung der erbärmlichen Alltagsverhältnisse ein erhebliches Maß an Selbstüberwindung. Die Kunst Brinkmanns besteht darin, zu zeigen, dass den sogenannten kleinen Dingen des Alltags gesellschaftliche Relevanz zukommt. In den Worten Jürgen Theobaldys, eine Freundes von ihm:
Die ‚kleinen Dinge’ bei Brinkmann, das sind nicht Wörter, die ein beschädigtes Leben beschönigen, indem sie diesen Zustand in herkömmlicher Sprache fassen, vielmehr geben diese ‚kleinen Dinge’ Gesellschaft wieder, Welt, Leben, verdichtet zu einigen Zeilen. Sie drücken nicht Protest aus, sie s i n d P r o t e s t , Einspruch, Gegenbilder. Worum es geht ist, dass die Sprache, in der sich die Lyrik derzeit organisiert, eine der persönlichen Erfahrung ist, ein Widerstand gegen die Massenmedien, Wirtschaftsverbände, Parteien und Ministerien mit ihren verstümmelnden, wirklichkeitsverzerrenden oder synthetischen Produkten. Der Bezug auf das Selbsterlebte ist der Versuch, Verlässliches, Überprüfbares zu sagen angesichts der öffentlichen Parolen.
Indem der Autor sich einer Sprache bedient, die seine persönlichen Erfahrungen zum Ausdruck bringt, verwahrt er sich gegen die Worthülsen der Politik, Werbung und Medien. Als Resultat eines Reflexionsprozesses und Formgebung, wird gleichzeitig Sprachkritik geübt. Durch die poetische Verarbeitung der alltäglichen Erlebnisse, werden die Dinge ihrer Alltäglichkeit enthoben. Das Selbstverständliche, Gewohnheitsmäßige, Eingespielte wird benannt und auf diese Weise hinterfragt. Damit wird vermieden, dass der Autor sich in einen selbstgenügsamen Detailrealismus verliert. Das geschieht häufig auch dadurch, dass der Vorgang des Schreibens selbst mitthematisiert wird, indem die Anlässe des Schreibens mitreflektiert werden und der Autor sich selbst ins Geschehen einbezieht. Auch als Beobachter bleibt er auf diese Weise immer Beteiligter. Brinkmann ist sich der Problematik bewusst, dass die Alltagsdinge, die er schildert, sprachlich – und das heißt immer auch mit Bedeutungen – vorgeprägt sind: Ich weiß, dass das gegenwärtige System, ich meine damit eigentlich alle die kleinen alltäglichen Lebenssachen so sehr zwanghaft mit Bedeutungen festgelegt sind, dass man sie selber gar nicht mehr richtig gebrauchen kann, ohne eine Menge Verkrustungen und Erstarrungen und Panzer bei Seite zu schaffen, was sehr mühsam ist.
Darin sieht er die Aufgabe des Schriftstellers, die Verkrustungen und Erstarrungen der Alltagssprache aufzubrechen und ihnen eine neue, authentische Bedeutung zu verschaffen. Nicht die bloße Mitteilung, sondern die verdichtete Verarbeitung des Erlebten ist entscheidend. Die Dinge müssen zurecht gerückt und der Erfahrung zugänglich gemacht werden. Oft sind es ganz flüchtige, unscheinbare Erlebnisse, die den Autor inspirieren. Dinge, die in der unmittelbaren Umgebung, auf der Straße, passieren. Dinge, die eigentlich jedem zugänglich sind. Durch die Thematisierung erhalten sie ihren besonderen Stellenwert. Das Verfahren Brinkmanns könnte man als Versuch beschreiben, sich die alltäglichen Erfahrungen in ihrer unverstellten Bedeutung zurück zu erobern. Dazu ein Beispiel: Es handelt sich um ein Gedicht aus dem Zyklus Westwärts 1 & 2:
Einen jener klassischen
schwarzen Tangos in Köln, Ende des
Monats August, da der Sommer schon
ganz verstaubt ist, kurz nach Laden
Schluß aus der offenen Tür einer
dunklen Wirtschaft, die einem
Griechen gehört, hören, ist beinahe
ein Wunder: für einen Moment eine
Überraschung, für einen Moment
Aufatmen, für einen Moment
eine Pause in dieser Straße,
die niemand liebt und atemlos
macht, beim Hindurchgehen. Ich
schrieb das schnell auf, bevor
der Moment in der verfluchten
dunstigen Abgestorbenheit Kölns
wieder erlosch.
Inmitten des Alltagsgeschehens geschieht beinahe ein kleines Wunder. Aus einer Gaststätte erklingt einer jener klassischen schwarzen Tangos. Dieses Erlebnis muss der Umgebung, einer Straße, geradezu abgezwungen werden. Denn nur für einen Moment – für einen Moment Aufatmen – ist die Musik zu hören. Das kurze Innehalten setzt gleichwohl einen Reflexionsprozess in Gang. Der Autor weiß um die Vergänglichkeit dieser Erfahrung. Um sie festzuhalten, schreibt er sie schnell auf. Bevor sie in der verfluchten dunstigen Abgestorbenheit wieder erlischt. Nicht die Musik ist das Wunder; es ist die Tatsache, dass man die Musik hören kann im Alltagsgetriebe; im Lärm der Straße. Bevor dieser wieder einsetzt, muss der Moment festgehalten werden. Die Ruhe ist flüchtig und das weiß der Autor aus Erfahrung. Und daher konfrontiert er die Momentaufnahme mit der Realität der Stadt.
Formal wird der geschilderte Eindruck durch den zweizeiligen Strophenaufbau immer wieder gebrochen; dadurch entsteht eine widersprüchliche Einheit von Dynamik und Unterbrechung. Der Rhythmus wird durch Pausen und Zäsuren unterbrochen, so dass die Präzision der Schilderung bei allem Flüchtigen eine gewisse Spannung enthält. Man spürt förmlich das Aufatmen und weiß gleichwohl, dass der Moment des Hörens gleich wieder vorbei sein wird.
Der Text weist gewissermaßen innere Schwellen auf, die den Leser dazu bringen, innezuhalten und die Bedeutung des Textes zu verstehen. Ein weiteres Merkmal seines Schreibens ist, dass die Texte nicht hermetisch sind. D.h.: sie haben keinen Abschluss. In seiner Vorbemerkung zu Westwärts 1 & 2 spricht Brinkmann von der Möglichkeit, von einem Satz oder Satzteil zum nächsten überzugehen.
Diese springende Form, mit den Zwischenräumen, die vorhanden sind, Gedankensprünge, Abbrüche, Risse, und neu ansetzen, nach dem zuletzt Geschriebenen, hat mir jedenfalls die Gelegenheit mehrerer Abflüge gegeben. Daß diese Abflüge dann jeweils wieder dort landeten, wo ich gerade war, mag zeigen, wie schwerfällig tatsächlich Sprache ist, ein Fossil….Und so ist immer der jeweils zuletzt geschriebene Satz ein Ende gewesen, von dem ich mit jedem Mal neu beginnen musste, also lauter Endpunkte, aber genauso gut und zutreffend ist, Anfänge, und diese Anfänge ausweiten, gehen, fortgehen. Zusammenhänge sehe ich keine.
Das autobiographisch motivierte Schreiben und die darin verwobenen Sprach-Reflexionen gehen bei Brinkmann eine enge Beziehung ein. So wie jeder Alltag mit all seinen fragmentierten Abläufen jeweils am vorigen Tag anschließt und doch immer wieder neu bewältigt werden muss – so vollzieht sich auch der Schreibprozess als ständiges Anknüpfen und Fortschreiben. Die einzelnen Texte weisen untereinander Verbindungen auf, wie auch der Tagesablauf mit seinen immer gleichen Anforderungen uns darauf verweist, dass alles schon einmal da gewesen zu sein scheint und die Gleichförmigkeit der Abläufe sich ständig nur wiederholt.
Im Unterschied zur oft hermetischen Form seiner Prosa bleiben die Gedichte Brinkmanns an vielen Stellen offen für Licht, Luft und Lust. Die durch die Formgebung eröffneten leeren Stellen kann der Leser mit Hilfe seiner Phantasie selbst füllen und weiterspinnen – gemäß einem Diktum Gottfried Benns, das Brinkmann sich zu eigen gemacht hat: Jedes Gedicht wird erst durch den Leser gefüllt und lebt erst durch den Leser. Brinkmann jedenfalls wünscht sich Leser, die den Mut, die Kraft und die Lockerheit besitzen, seine Gedichte weiterzuführen. Insbesondere seine frühen Gedichte spiegeln eine gewisse Unbefangenheit und Leichtigkeit wider, die später verlorengeht. Der Gedichtband Vorstellung meiner Hände, der einige dieser frühen Gedichte aus der Zeit von 1959 bis 1963 versammelt, enthält Gedichte von Krolowscher Schönheit, wie Brinkmann selbstironisch bemerkt:
Eingedenk der Märchenzeit
Eingedenk der Märchenzeit
mit Tauben – wir bauten
uns Nester aus Schnee tief unterm
Schlaf: von blauen Beeren
aßen wir und waren
wie leichte, schnelle Flügel der Luft
zwischen den Wolken. Mit einem
Fliederhimmel, der
unsere Augen erblinden
ließ, und schauten dem Schweigen
der Hände die langsame Sprache
ab: wir nannten
uns Namen wie
Gestern und Heut
und hatten wohl Kleider aus
Blättern und Licht
und schlürften im Flug
die Körner der Stille
aus den silbernen
Kehlen des Morgens.
In einem Brief an seinen Freund Ralf-Rainer Rygulla aus dem Jahre 1962 schreibt Brinkmann, dass er viele seiner frühen Gedichte liquidiert habe. Sie enthielten zuviel an lyrischem Sperma. Die Sprache müsse apodiktischer werden, so sein neues Credo.
Im Vergleich mit seinen Gedichten wirkt die Prosa Brinkmanns irgendwie schwergewichtiger und oft geradezu überfüllt mit der Last des Lebens. Das gilt vor allem für seinen Roman Keiner weiß mehr – dem einzigen, den er vollendet hat.
Jedesmal war es für ihn ein befreiendes Gefühl, wieder unten aus dem Haus herauszukommen und sich einzufügen in die anderen Geräusche und Bewegungen, den Verkehr, die Leute, beschäftigt mit genauen Zielen, Aufgaben, die zu erledigen waren. Er hatte Zeit und konnte darin herumgehen, sich das ansehen, das Geschiebe, die Geräusche hören, Wagen, Leute, von alledem er sich wie von etwas Sicherem umgeben fühlte, das immer da war, eine feststehende Ordnung aus Geschäftszeiten, offenen Kaufhäusern, den einzelnen Ständen in den Hallen mit genau abgeteilten Waren, alles voll aufgehäuft…
Das befreiende Gefühl hatte er schon längst wieder verloren, und jetzt war es wieder eine schwankende Unruhe, während er durch die Stadt ging, als ob er in einem viel zu großen Bild herumtappte…Er tappte durch die Straßen weiter an den Geschäften entlang.
Das befreiende Gefühl, das der Autor empfindet, sobald er der häuslichen Enge entflieht, wird durch die schwankende Unruhe abgelöst, die ihn überkommt, während er sich der Geschäftigkeit des Großstadtlebens überlässt. Im Unterschied zum Autor, der ziellos durch die Strassen geht, scheint das Leben der „normalen“ Menschen durch Regeln und Normen strukturiert zu sein. Dadurch entsteht ein Spannungsverhältnis, ein Gefühl der Fremdheit inmitten des ganz und gar Alltäglichen. Man gehört nicht dazu und je stärker dies empfunden wird, desto größer wird die Distanz zur Normalität der alltäglichen Abläufe. Diese werden Gegenstand der Reflexion und stellen schließlich das Material dar, an dem der Autor sich abarbeitet. Die fehlende Distanz zum Geschehen mag unter ästhetischen Gesichtspunkten kritisch gesehen werden: gleichwohl kann die unverstellte Schilderung der Alltagswahrnehmungen den Leser inspirieren, sein eigenes Verhalten, ja Mittun, zu reflektieren. Das kann zu einer Art Selbsterkenntnis führen – zur Frage, was eigentlich mit uns geschieht, die wir uns täglich nahezu bewusstlos in das gewohnte Getriebe der alltäglichen Abläufe begeben ohne nach der Relevanz dessen zu fragen, was wir da tun.
Das Schreiben, so schmerzhaft das Geschriebene auf den Leser auch wirken mag, scheint für Brinkmann eine vorübergehende „Befreiung“ gewesen zu sein, die sich bis ins Körperliche ausgewirkt hat. Dieses Durchschütteln von Wörtern und Bildern im Schreibakt selber, ohne links und rechts und um mich herumzuschauen, ohne Rücksicht auf Konstruktionen und Folgerichtigkeit, erfahre ich beim Schreiben tatsächlich als eine physiologische Befreiung aus dem zusammengezogenen geduckten Verharren.
Aber wie gesagt: das Schreiben bedeutet noch keine Überwindung seiner Alltagsprobleme. Immer wieder gelangt Brinkmann an Punkte, an denen er glaubt, nicht mehr weiterschreiben zu können. Vielleicht erklärt sich so sein Versuch, andere Medien wie die Fotografie und den Film in sein künstlerisches Schaffen einzubeziehen. Während die Sprache sinnlose Anstrengungen verlangt, lässt sich Unmittelbarkeit mit Hilfe der genannten Medien viel direkter und unverfälschter darstellen. In Anlehnung an Ludwig Tieck versucht Brinkmann, den Figuren mehr Raum zu geben. Geräuschlosigkeit (Schatten) und bewegliche Geräusche (Schnitte, Schritte, Risse) hängen an unterschiedlichen Medien wie Bild, Hörspiel, Text als Lese- oder Spielmaterial, (Stumm-) Film, und Traum-(Sprache). Auf den Fotos sah alles friedlich aus, weil die Wörter fehlten, heißt es denn auch bei ihm. Anders gesagt: während die Wörter Wirklichkeit fixieren und immer schon vorgeprägte Bedeutungen in ihnen mitschwingen, lässt sich das Spektrum der Wahrnehmungen mittels anderer Medien erheblich erweitern. Aber Brinkmann scheint zu spüren, dass der Rückgriff auf andere Medien die Wirklichkeit auch fragmentiert und es eines reflexiven Verfahrens bedarf, um sie wieder zusammenzufügen. In den Erkundungen heißt es:
Ich müsste nun eine passable Theorie zur Hand haben, die das Ganze für mich fein bündelt, ordnet, sehr kommod, so richtig in ein System bringt, mit Zusammenhängen, die unabweisbar sind, dass ich tippe, Wörter, den startenden Wagen auf der Straße, die Mittagspause, Sonnenlicht, Traurigkeit, die Zigarette, den grauen Schaum, dass die orangefarbenen Zuhänge noch immer halb vorgezogen sind, dass ich hier bin, in Köln, und den Neubau dort an der Ecke, sowie das Unbehagen, ein Gefühl, die eigene exquisite Verfassung, ja eine Theorie, einen großen Gedanken, der das alles ordnet, erträglicher macht, die Mittagspause. Ich schaffs bis zu so was nicht. Schluß.
Brinkmann versucht, die Gleichzeitigkeit der Wahrnehmungen mittels verschiedener Medien zu bannen. Auf diese Weise gelingt es, möglichst viele Aspekte der Wirklichkeit einzufangen. Aber dabei soll es nicht bleiben. Er muss ein Verfahren finden, um die zerfaserten, möglicherweise gar auseinander driftenden Momente wieder zusammen zu bringen. Dazu bedarf es eines Konstruktionsprinzips, das es ermöglicht, das Bildmaterial wieder in Sprache zu überführen. Denn die augenblicklichen Bildvorstellungen werden durch Wörter erzeugt und festgehalten – ansonsten verflüchtigen sie sich. Das bedeutet: das Bildmaterial muss in gewisser Weise „zerstört“ und neu wieder zusammengesetzt werden. Film in Worten nennt Brinkmann selbst das Verfahren, das Ablaufen der Bilder im Kopf als Tagträume, beobachtete Alltagswirklichkeit, phantasierte Wunschstrategien zu erfassen. Der Wort-Film legt sich gewissermaßen wie ein Schleier über die Wirklichkeit, die dadurch nur noch als etwas Imaginäres existiert – als ein Geschehen, das sich verflüchtigt. Jede Wort-Vorstellung offenbart das Wort als Hülle von etwas, das nicht (mehr) ist. Handlung und Beschreibung sind nicht identisch. Die Realität verschwindet hinter dem Gesagten. Real sind dann nur noch die gedruckten Worte.
Die Gegenwärtigkeit der sichtbaren, greifbaren Dinge unmittelbar wie Schnappschüsse darzustellen, war ein Anliegen der amerikanischen Pop-art in den sechziger Jahren, der sich Brinkmann anfangs mit Begeisterung zuwandte – weil sie ihm erweiterte Darstellungsmöglichkeiten zu eröffnen schien. Später wandte er sich ebenso abrupt wieder davon ab. Vielleicht, weil ihm bewusst wurde, dass schon der Fotorealismus dieser Zeit die unvermittelte Präsenz des Geschehens als eine Fiktion ausweist. Die medial erzeugte Wirklichkeit ist immer auch eine künstliche. Die Dinge, Zustände, Gefühle erhalten durch Wörter eine fiktive Existenz, die ihnen gleich wieder entzogen werden muss, so dass die Hülle leer zurückbleibt. Wie in dem folgenden Gedichtauszug aus Eiswasser in der Guadelupe Str.:
Vielleicht sind es überall
die Lücken, die Zwischenräume, das, was man nicht tat,
unterliess, gelassen hat, die den Raum
zum träumen offenließen, ohne Wörter
sich zu bewegen, aufeinander zu, eine neue
Möglichkeit…
Es gibt nur wenige Autoren, die ihre Lebensumstände derart unvermittelt, ungeschönt, ja bisweilen brutal – zum Gegenstand ihrer Dichtung gemacht haben, wie Brinkmann.
In seinem Bestreben, die Differenz von Kunst und Leben aufzuheben, werden die Dinge derart ungeschminkt beim Namen genannt, dass man nach dem ästhetischen Mehrwert fragen könnte. In dem Bestreben, der Unmittelbarkeit seiner Wahrnehmungen und Erfahrungen eine Sprache zu verleihen, schwingt jedoch immer auch ein Subtext mit, den es zu dechiffrieren gilt. Nichts ist, was es scheint. Und das macht es so schwierig, es sprachlich zu fixieren.
Brinkmann starb früh. Dieser frühe, absurde Tod Brinkmanns hat vielleicht zu dessen Bekanntheit, ja Mythisierung beigetragen. Neben der Tatsache, dass er immer einer der ersten war, der sich für neue literarische Strömungen aufgeschlossen zeigte. In einer Erinnerung an die Zusammenarbeit mit Brinkmann schreibt Wellershoff: Man fragt sich angesichts des Widerspruchs von spontaner und immer auch reflektierter Kreativität und den Hemmungen und depressiven Verstörungen, mit denen Brinkmann zu kämpfen hatte, wie es weitergegangen wäre, wenn es weitergegangen wäre. Diese Frage lässt sich leider nicht mehr beantworten.
Bildquelle: Bild von mohamed Hassan, Pixabay License