In Krisenzeiten werden energiepolitische Gewissheiten wieder Zutage befördert, die lange Zeit vergessen, verdrängt oder schlichtweg ignoriert worden sind. Dass die Sicherheit der Energie- und Stromversorgung für eine hochindustrialisierte Wirtschaft und Gesellschaft wie Deutschland überlebenswichtig ist, ist eine solche Gewissheit. Oder anders: Die Energieversorgungssicherheit ist die Achillesferse des wirtschaftlichen, öffentlichen und privaten Zusammenlebens in Deutschland. Wird sie verletzt oder gar zerstört, gerät das Land ins Taumeln, wird bewegungsunfähig. Versorgungssicherheit zu gewährleisten, war deshalb lange Zeit die Königsdisziplin der deutschen Energiepolitik.
Mit der Drosselung russischer Gaslieferungen nach Deutschland ist jetzt in das kollektive Bewusstsein gerufen worden, dass auch ein reiches, aber rohstoffarmes Land ohne ausreichende Energieversorgung verwundbar ist. Großmäulige Behauptungen – auch mit vermeintlicher wissenschaftlicher Expertise hinterlegt -, dass Deutschland ohne große Wachstumseinbrüche einen Gasboykott verkraften würde, sind inzwischen verstummt. Noch im Frühjahr wurde in einer Gemeinschaftsdiagnose einiger Wirtschaftsinstitute prognostiziert, dass ein Gaslieferstopp aus Russland lediglich 0,8 % weniger Wachstum in diesem Jahr bedeuten würde (statt 2,7 % nur noch 1,9 % Wachstum). Und im nächsten Jahr würde das Bruttoinlandsprodukt zwar um 2,2 % sinken – das sei aber beherrschbar.
Besonders der grüne Bundestagsabgeordnete Anton Hofreiter verlangte lautstark nicht nur nach immer mehr Waffen für die Ukraine, sondern auch nach einem Ende der Abnahme von russischem Gas, damit diese Einnahmequelle für Putin versiegen würde. Ein Gasboykott ließe sich verkraften, behauptete er nassforsch. Warnende Stimmen wurden als Lobbyismus abgetan. So erklärte Professor Alexander Krivolusky vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung im Frühjahr: „Die Industrie versucht ein Erdgasembargo zu verhindern, weil sie weiter ihre Gewinne einfahren will.“
Inzwischen wird immer deutlicher, welche Auswirkungen ein Stopp russischer Gaslieferungen tatsächlich für unsere Industrie, Wirtschaft und Gesellschaft hätte. Die lassen sich nun einmal nicht mit theoretischen Berechnungen in Instituten voraussagen, sondern treffen in der harten Realität auf industrielle und wirtschaftliche Prozesse und Zusammenhänge, die im Störfall dominoartige Kettenreaktionen auslösen können. Erdgas ist eben nicht nur ein Energieträger, sondern auch ein besonderer Rohstoff, ohne den heute und morgen nicht nur die Produktion in der chemischen Industrie stilllegen würde, sondern im Gefolge die gesamte Wertschöpfungskette in der Industrie betroffen wäre. Ja, Energiepolitik ist Industriepolitik – deshalb darf eine vorsorgende Energiepolitik auch nicht allein den Marktkräften überlassen bleiben. Auch das gehört zu unseren Gewissheiten, die der verstorbene DGB-Vorsitzende Heinz-Werner Meyer einmal so beschrieben hat: „Der Markt hat sich als das effizientere System des Wirtschaftens bewährt, das mit den knappen Ressourcen sparsamer umgeht und die Arbeit effektiver einsetzt“, was aber „sozial und ökologisch verträglich ist, stellt sich doch eben nicht als das Ergebnis des marktwirtschaftlichen Prozesses heraus, sondern es muss politisch vorgegeben werden“. Und das gilt auch für die energiepolitischen Entwicklungen.
Es ist das Verdienst von Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck, die Sicherheit der Energieversorgung wieder ganz oben auf die politische Agenda gesetzt zu haben. Dass dabei andere Ziele erst einmal in den Hintergrund geraten, überrascht nicht, aber besonders für Bündnis 90/Die Grünen und vor allem für ihre Unterstützergruppen ist das schmerzhaft, geht es ans Eingemachte. Es scheint also, als ob die Energiepolitik, die in den letzten Jahren in ihrer Bedeutung nur noch als Anhängsel der Klima- und Umweltpolitik wahrgenommen wurde, wieder wichtiger wird.
„Die künftige wirtschaftliche Entwicklung und die künftigen Lebensverhältnisse jedes einzelnen Bürgers in der Bundesrepublik hängen entscheidend davon ab, ob und wie es uns gelingt, die Energieversorgung von morgen zu sichern“, hat der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt in einem Vorwort zum 1977 im Bund-Verlag erschienenen Buch „Energiepolitik Kontroversen Perspektiven“ geschrieben. Heute, 45 Jahre danach, erfährt diese Feststellung von Helmut Schmidt eine neue, eine rasante Aktualität. Denn ob und wie es uns gelingt, die Energieversorgung schon im kommenden Winter und im nächsten Jahr zu sichern, wird ein entscheidender Gradmesser für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Deutschland sein.
Es macht deshalb Sinn, alle Möglichkeiten zu prüfen und in Betracht zu ziehen, die helfen können, russisches Gas zu ersetzen. Tabus helfen jedenfalls nicht, Schnellschüsse auch nicht. Und es macht auch Sinn, für die Zukunft wieder energiepolitische Gewissheiten und Grundsätze zu beachten. Dazu zählt vor allem, die Versorgungssicherheit durch einen breiten Energiemix und möglichst viele Lieferanten von Energieträgern im Übergang zu einer ausschließlich aus erneuerbaren Energien gelingenden Versorgung zu gewährleisten. Auch das gilt es deshalb in diesem Übergang wieder zu akzeptieren: Jeder Energieträger hat seine spezifischen Eigenschaften, auch seine spezifischen Risiken, die nur in einem breiten Mix minimiert und ausgeglichen werden können.
Jetzt ist also die Chance da, trotz oder gerade wegen der Widrigkeiten eine energiepolitische Neuaufstellung vorzunehmen. Und diese Chance muss dann auch dazu genutzt werden, wieder Verlässlichkeit in der Energiepolitik zu etablieren. Energiepolitische Verlässlichkeit ist vor allem für die industrielle Produktion, für eine funktionierende Wirtschaft und eine sozial und ökologisch ausgerichtete Gesellschaft lebenswichtig. Auch deshalb ist es richtig und wichtig daran zu erinnern, dass die frühere schwarz-gelbe Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel vor und nach der Katastrophe im japanischen Kernkraftwerk Fukushima eine doppelte Volte in der Energiepolitik hingelegt hat. Erst wurde der von der rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder politisch durchgesetzte Atomausstieg, der gesetzlich und vertraglich
mit den Energieversorgungsunternehmen abgesichert worden war, von der Merkel-Regierung durch Laufzeitverlängerungen außer Kraft gesetzt und kurze Zeit später nach Fukushima wieder in das Gegenteil verkehrt. So viel politische Kurzatmigkeit war noch nie. Und die FDP war vorn mit dabei. In Industrie, Wirtschaft und Gewerkschaften hat eine solche politische Unzuverlässigkeit nur noch Fassungslosigkeit ausgelöst und die deutschen Steuerzahlerinnen und -zahler haben dafür Milliarden Euro als Entschädigungen an die Energiewirtschaft aufbringen müssen.
Allerdings gehört auch in die Erinnerung gerufen, dass energiepolitische Entscheidungen der gewählten Abgeordneten in den Parlamenten nicht immer auf den ungeteilten Beifall von Wirtschaft und Industrie getroffen sind. Das gilt nicht nur für den politisch durchgesetzten und von breiter gesellschaftlicher Akzeptanz getragenen Ausstieg aus der Kernenergie. Auch die großen Unternehmen waren nicht frei davon, den Verlockungen des Marktes zu erliegen, wenn sie sich davon kurzfristig finanzielle Vorteile versprachen.
Ich kann mich jedenfalls noch gut daran erinnern, wie die deutsche Industrie sich von allen vermeintlichen energiepolitischen Zwängen zu befreien versuchte und ihr das auch nach und nach gelang. Zuerst war ihr die deutsche Steinkohle im Weg auf den ungehinderten Zugang zum Weltkohlemarkt, besser gesagt: die Ausgleichszahlungen für die Versorgungssicherheit sollten vermieden werden – die durch jederzeit passgenau gelieferte Kokskohle und Koks aus deutscher Produktion genauso wie die zuverlässige Lieferung von Kraftwerkskohle aus deutschen Bergwerken an die Steinkohlekraftwerke angefallen sind. Hüttenvertrag für die Stahlindustrie und Jahrhundertvertrag für die Energiewirtschaft wurden ausgehöhlt, zu Fall gebracht und verschwanden in den Archiven. Versorgungssicherheit war für die deutsche Industrie nach ihrer Einschätzung kein Problem – sie fühlte sich reich genug, auf dem Weltmarkt zu jeder Zeit entsprechende Mengen einkaufen zu können. Auch die beiden großen Erdölpreiskrisen in den 1970er und 80er Jahren mit ihren drastischen Auswirkungen für Wirtschaft und Gesellschaft waren bald vergessen. An Lieferengpässe wurde jedenfalls nicht gedacht. Der Gasmarkt lässt grüßen.
Zur Erinnerung: Als die letzte deutsche Steinkohlezeche mit Prosper Haniel in Bottrop 2018 stillgelegt wurde, betrugen die Förderkosten für eine Tonne deutsche Steinkohle 180 Euro, Importkohle kostet heute auf dem Weltmarkt rund 300 Euro. Der inzwischen verstorbene ehemalige Bundeswirtschaftsminister und spätere Vorstandsvorsitzende der Ruhrkohle AG, Werner Müller, hat im nordrhein-westfälischen Landtag gegenüber der damaligen schwarz-gelben Rüttgers-Regierung noch 2007 zynisch-flapsig vor der Stilllegung des gesamten deutschen Steinkohlenbergbaus gewarnt: „Wenn es typisch deutsch läuft, also ein bisschen doof, dann schließen wir die letzte Zeche, wenn die Steinkohle konkurrenzfähig ist.“ Er wusste aus seiner langjährigen Erfahrung um die Volatilität der Preise auf den weltweiten Energiemärkten und auch um die Störanfälligkeit von Lieferketten. Die OPEC als die Organisation erdölexportierender Länder hat mehr als einmal ihre wirtschaftlichen Muskeln spielen lassen.
Selbstverständlich ist es jetzt vernünftig, alles zu tun, um auch bei geringeren oder gar ausbleibenden Gaslieferungen aus Russland eine sichere Energieversorgung zu gewährleisten. Deshalb macht es durchaus Sinn, Steinkohlekraftwerke wieder in Betrieb zu nehmen. Sie können nicht nur Gastkraftwerke in der Verstromung ersetzen, sondern sie können auch in der Kraft-Wärme-Kopplung helfen, die Fernwärmeversorgung zu stabilisieren. Allerdings ist es nicht so einfach, den Schalter umzulegen. Die für die Kraftwerke benötigte Kohle muss vom Weltmarkt auch geliefert und dann transportiert werden können. Jetzt wird aufgeschreckt gelernt, dass es eben nicht selbstverständlich ist, die nötigen Kohlemengen kurzfristig zu besorgen, weil die Logistik in der Binnenschifffahrt und beim Güterbahntransport auf solche riesigen Kohlemengen gar nicht vorbereitet ist und so schnell auch nicht erweitert werden kann. Und es fehlt an Personal, vor allem in den Kraftwerken, denn die sind seit Jahren auf Stilllegung getrimmt und haben die Belegschaften entsprechend angepasst. Hinzu kommt, dass Kohle nicht gleich Kohle ist, also nicht jede Sorte auch in jedem Kraftwerk eingesetzt werden kann.
Auch die privaten Verbraucher, die noch Kohleheizungen oder Kohleöfen nutzen und die sich freuen, nicht gasabhängig zu sein, merken Knappheit im Markt. Inzwischen wird berichtet, dass selbst im Ruhrgebiet kaum noch Hausbrandkohle zu kaufen ist. Die muss nun einmal besondere Eigenschaften aufweisen, um in Kohleöfen verbrannt werden zu können. Und Hausbrandkohle, also Anthrazytkohle ist auf dem Weltmarkt kaum noch zu bekommen. Wir lernen Stück für Stück, was Abhängigkeiten für das ganz normale Leben bedeuten. Mehr und mehr dämmert es inzwischen den Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik, dass Sicherheit der Energieversorgung zu gewährleisten, eine komplexe und komplizierte Aufgabe ist, mit der die Marktkräfte allein überfordert sind. Sicherheit gibt es nicht zum Nulltarif, schon gar nicht über Nacht. Das alles spricht dafür, dass Energiepolitik wieder einen herausragenden Stellenwert in der Politik bekommt. Zeitenwende eben. Und deshalb gilt auch dabei: Auf den Kanzler kommt es an!