Auf die private Reise im Sommer 1988 folgten rasch neue Besuche, die der Vorbereitung weiterer Projekte dienten. Die geplante Heartfield Ausstellung gehörte dazu. Seinen eigentlichen Namen, Helmut Herzfeld, änderte er 1916 aus Protest gegen die extreme Englandfeindlichkeit im Kaiserreich in den Künstlernamen John Heartfield. Er war in den zwanziger Jahren ein führender Dadaist und arbeitete eng mit George Grosz an politischen Fotomontagen zusammen. Hindenburg und die Nationalsozialisten waren seine erklärten Zielscheiben. Er gilt als Erfinder der Fotomontagetechnik. Hitler und die Gönner aus dem Kreis der Großindustriellen nahm Heartfield sehr eindrucksvoll mit einem weltweit bekannt gewordenen Plakat aufs Korn: Hitler mit dessen typischen Gruß mit nach hinten gerichteter Hand persiflierte er mit dem Bild eines imaginären Industriellen, der hinter ihm stehend dicke Geldbündel in die Hand legt: „Kleiner Mann bittet um große Gaben“. Auch Göring war das Ziel von Heartfields beissender Kritik. Ab 1933 war er unter anderem in der Tschechoslowakei und in England im Exil. Nach seiner Rückkehr 1950 in die neu gegründete DDR hat ihm dieser Englandaufenthalt jahrelang geschadet und seine Aufnahme in die SED verhindert. Die Alleinstellung und große Qualität der Vorkriegsarbeiten hat Heartfield niemals wieder erreicht. Jedenfalls war sein gesamtes Schaffen bisher nie wirklich aufgearbeitet und zusammengefasst worden. Darin lag der Reiz der Zusammenarbeit mit der Akademie der Künste der DDR die seinen gesamten Nachlass verwaltete.
Von Juni bis November 1989 habe ich bei sechs Reisen die jetzt allen bekannten Entwicklungen in der DDR wie im Zeitraffer erlebt. Den Grundstein für die sintflutartige und von der DDR Staatsführung ungewollte Entwicklung hatte der von der ungarischen Regierung am 02.05.1989 verfügte Abbau der Grenzanlagen zu Österreich gelegt. Damit war ein Grenzübertritt für DDR Bürgerinnen und Bürger, die Ungarn ungehindert bereisen durften, nach Österreich nahezu risikolos möglich, was sofort massenhaft genutzt wurde.
Unter dem Eindruck dieser Ereignisse fand im Juni 1989 die erste gesamtdeutsche Kabarett Aufführung in dem Ministerium für Bundesangelegenheiten des Landes NRW in Bonn statt. Organisiert wurde die legendäre Veranstaltung vor allem vom Landschaftsverband Rheinland unter der Federführung von Jürgen Wilhelm mit dem Segen des Kulturministeriums der DDR. Gisela Oechelhäuser, Chefin der Distel in Ost Berlin und Ehefrau des stellvertretenden Kulturministers, Peter Ensikat Mitglied des dortigen Ensembles und namhafter Texter, Peter Buchheim, Musiker des Kabaretts am Obelisken in Potsdam traten gewissermaßen gegen den Großmeister des westdeutschen Kabaretts, Dieter Hildebrandt, an. Es wurde ein rauschender Erfolg obwohl Hildebrandt seine Texte nicht richtig einstudiert hatte und enorm improvisieren musste. Allein das spektakuläre Ereignis mit allerlei massiven Anzüglichkeiten in Richtung DDR machte das ganze Ergebnis aus. Freundlich aufgenommen wurde dies alles nach den Berichten der Staatssicherheit von den Oberen der DDR nicht.
Am nächsten Morgen nach der Aufführung habe ich Peter Ensikat und Peter Buchheim, die die Gelegenheit zu einer Cabrio Fahrt nutzen wollten, mit auf eine Dienstreise zurück in die DDR genommen. Mein damaliger Chef, Minister Einert, wollte die DDR gemeinsam mit seiner Frau besuchen und ich sollte ihn als „Ortskundiger“ begleiten. Zur Vorbereitung fuhr ich einen Tag vor meinem Chef in Begleitung der beiden Kabarettisten in bester Stimmung auf den Grenzübergang bei Helmstedt zu. Ensikat sang und Buchheim spielte dazu auf dem Kamm. Angekommen an der Diplomatenspur des Übergangs wurden wir mit großer Freundlichkeit vom Diensthabenden begrüßt. Ich habe meinen Ministerialpass vorgezeigt, die beiden Begleiter haben ihre Pässe nicht einmal ziehen müssen, was noch ein erhebliches Nachspiel haben sollte. Ohne jede weitere Fragen durften wir passieren.
Ensikat und Buchheim haben sich angeschaut und wörtlich folgenden Dialog geführt:“ Peter, ja Peter: Ist das unser Land?“ Angekommen in Ost Berlin bekamen die beiden Peter unfreundlich mitgeteilt, sie seien illegal in die DDR eingereist, weil ihre Pässe an der Grenze nicht abgestempelt waren. Mit Hilfe der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR konnte das Problem schließlich behoben werden.
In Potsdam im Schlosshotel Cecilienhof habe ich dann einige Tage gemeinsam mit Minister Einert und dessen Frau logiert. Bei den Gesprächen mit dem stellvertretenden Kulturminister Keller wurde sorgfältig das Thema der neuen Fluchtbewegung aus der DDR über Ungarn nach Österreich vermieden. Deutlich war aber die Anspannung zu merken. Auch die Atmosphäre in dem in der Hochsaison halbleeren Hotel war anders als bei vorangegangenen Besuchen. Trotz dieser Situation wurde das Besuchsprogramm mit Besichtigungen der Schlösser und Seen sowie einem Opernabend in der Staatsoper unter den Linden in Ost Berlin professionell abgespult.
In Begleitung von Keller ging es nach Leipzig und schließlich nach Dresden. In beiden Städten durfte der stellvertretende Minister nicht wie wir in den Devisen bringenden Nobelhotels übernachten, die die DDR Regierung für uns gebucht hatte. Ein peinlicher Umstand, der in Leipzig im Rahmen des Programms bei einem Besuch in Auerbachs Keller übertroffen wurde. Nach dem Abstieg in das geschichtsträchtige Lokal, das zu allen Öffnungszeiten voll belegt war, wurde ein Tisch mit Gästen aus der DDR für uns zwangsgeräumt. Um einen Eklat zu vermeiden mussten wir gute Miene zum bösen Spiel machen. Ich gestehe aber, Bier und Atmosphäre trotzdem genossen zu haben.
Letzte Station der Reise war dann Dresden mit dem breiten Spektrum für Besichtigungen und Gespräche. Zwinger, Grünes Gewölbe, Gemäldegalerie und Semperoper gehörten zum Pflichtprogramm. Wochen später erzählte mir ein Abteilungsleiter der Akademie, der am selben Abend ebenfalls Gast in der Semperoper war, er habe mich mit der Delegation in der Königsloge gesehen. Königlich habe ich mich nicht dabei gefühlt, aber man konnte hervorragend die Aufführung , ich weiß nicht mehr welche, sehen. Anderntags folgten noch Pillnitz, Moritzburg und das Elbsandsteingebirge. Hoch über der Elbe war ein spätes Mittagessen im Restaurant der Festung Königstein vorgesehen. Offenbar hatte aber keine Absprache mit dem fast leeren riesigen Restaurant stattgefunden. Jedenfalls wurden wir zunächst schnöde abgewiesen. Erst nach Vorlage seines Dienstausweises konnte der stellvertretende Minister einen Tisch beschaffen. Die Qual der Wahl blieb uns erspart: es gab nur Broiler.
Am letzten Abend der Reise waren wir ohne Begleitung von Dr. Keller bei Giebes zu Gast im Garten des schönen Hauses. Frau Giebe, die auch Leiterin der Restaurierungswerkstätten der Dresdner Sammlungen war, hatte uns auch schon sachkundig am Vortag geführt. Es entspann sich ein ungemein offenes Gespräch über die Situation in der DDR und die dortige Entwicklung in den letzten Jahren. Dabei erhielten wir Einblicke in zuvor unbekannte Ereignisse und Sachverhalte. Hubertus Giebe war bei dem Gespräch in einer Weise offen und direkt in der Kritik an den Verhältnissen in der DDR, die uns sehr gewagt erschien. Zu Recht, wie ich wenig später erfahren habe. Die bereits beschlossene Professur für Giebe an der Hochschule für bildende Künste in Dresden wurde storniert. Aus den beiden hellblauen Wartburgs am Straßenrand vor dem Haus, die mir beim Betreten aufgefallen waren, war das Gespräch offenbar in allen Einzelheiten mitgehört worden.
Anfang August 1989 bin ich spontan für einige Tage zu Stötzer und seiner Lebensgefährtin Sylvia Hagen nach Rügen gefahren.Die täglich sich überschlagenden Meldungen in den Medien über neue Entwicklungen in Polen und Ungarn mit ihren unmittelbaren Auswirkungen auf die Lage in der DDR hatten mich neugierig gemacht. Neben herrlichen Badeausflügen an die Küste beim großen Zicker ist mir ein Grillabend mit Stötzer, seiner Lebensgefährtin und Freunden der Familie, zu denen der Bürgermeister von Putbus gehörte, intensiv in Erinnerung geblieben. Euphorisiert von den unübersehbaren Aufbruch Signalen in der politischen Entwicklung und kühlem Bier habe ich die denkwürdige Prognose abgegeben, in drei oder vier Monaten werde es eine neue Regierung in der DDR geben. Gegen die große Skepsis der anderen Gesprächsteilnehmer konnte ich nicht wirklich gegen halten.
Die wenig später erfolgte erste Montagsdemonstration in Leipzig und die Grenzöffnung zwischen Ungarn und Österreich brachten eine ganz neue Dynamik in das politische Geschehen in der DDR. Dass sich diese Hoffnung im Frühherbst 1989 auf einen politischen Frühling schlagartig in der Bevölkerung ausgebreitet hatte, konnte ich in der ersten Septemberhälfte bei einem Aufenthalt bei dem Bildhauer Jo Jastram bei Rostock mit eigenen Augen sehen. Angereist war ich für einen geplanten Zeitungsartikel über norddeutsche Bildhauer Traditionen: Barlach und die Erben. Bruchstücke eines Interviews sind mir mit einer Videoaufnahme geblieben. Jastram hat darin seine Nachkriegsgeschichte und den Werdegang als Bildhauer eindrucksvoll skizziert und das Leben mit seiner Frau Inge, ebenfalls Künstlerin, in seinem speziellen Kosmos auf dem Land geschildert. Im Hintergrund war bei meinen Gastgebern natürlich eine große Unsicherheit erkennbar über Chancen und Risiken aus kommenden Entwicklungen. Auch die sachkundige Stadtführung in Rostock mit eindrucksvollen Bildhauerarbeiten und dem „Brunnen der Lebensfreude“ von Jastram konnte darüber nicht hinwegtäuschen. Den Abschluss dieses Kurztrips bildeten Abstecher nach Ahrenshoop auf dem Darß und Usedom mit dem Haus des verstorbenen Malers Otto Niemeyer-Holstein, das als Gedenkstätte und Museum „Lüttenort“ einen großen Zulauf hatte. ONH, wie er s ich nannte, war 1933 vor den Nazis nach Usedom geflüchtet und hatte an der schmalsten Stelle der Insel, kaum zweihundert Meter breit, um einen ausrangierten S-Bahn Wagon aus Berlin zahlreiche Anbauten platziert, die sich an das Achterwasser schmiegten. Sein Wohnsitz mit einem Skulpturengarten war zu seinen Lebzeiten zum zeitweiligen Rückzugsort für viele jüngere Künstler aus der DDR geworden. Stötzer, der sich hier mal für mehr als sechs Monate einquartiert hatte, konnte anschaulich über das skurrile Künstlerleben bei ONH berichten. Sein Atelier , genannt „Tabu“, mit dem großen Obstbaum und der daran angestellten Himmelsleiter vor dem Panoramafenster war damals erhalten wie am letzten Arbeitstag. An der Tür des Ateliers war ein Schild mit einer wunderbaren Inschrift angebracht: Hier wird nicht geraucht! Wer rauchen will, geht ans Meer. Amen, der Käptn. Der 1984 verstorbene ONH war schon zu Lebzeiten Legende.
Am 07.10.1989 feierte die DDR den vierzigsten Jahrestag ihres Bestehens. Gemeinsam mit einem Kollegen habe ich mich in diesen Tagen in der DDR aufgehalten. Die historisch Ereignis reichen Tage haben wir in Potsdam, Altlangsow im Oderbruch und in Stralsund verbracht. In beiden größeren Städten war die erwünschte Beflaggung eher mager. In Gesprächen mit Bürgerinnen und Bürgern war eine tiefe Verunsicherung zu verspüren. Der Geruch fundamentaler Veränderung lag in der Luft. Die enorme Fluchtwelle über die für Reisen offenen Länder Tschechoslowakei und Ungarn erschütterte den Staat und die Gesellschaft in ihren Grundfesten. Angst über mögliches Eingreifen der Sowjetunion war präsent. Gerüchte über geplante neue Reiseregelungen machten die Runde. Die riesige Demonstration am Jahrestag in Ost Berlin und die volkspolizeilichen Sperrungen machten eine Fahrt von Potsdam dorthin für uns unmöglich. Ersatzweise haben wir einen Abend und eine Nacht bei Stötzer im Oderbruch verbracht. In aufgewühlter Stimmung haben wir einen Spaziergang auf dem Oder Deich gemacht und dabei die Reiher auf ihrem Ruheplatz auf den Oder Wiesen beobachtet. Sie waren unbeeindruckt.
Bereits im letzten Quartal 1989 habe ich in engem Kontakt mit den Verantwortlichen im Kultusministerium in Düsseldorf an einem Konzept für eine ultimative Kulturpräsentation der Westkunst in der DDR gearbeitet. Zentrales Ereignis sollte eine Ausstellung über die Entwicklung der Bildenden Kunst seit Gründung des Landes Nordrhein-Westfalen werden. Meine Anregung, die als Fortsetzung und Höhepunkt des Kulturaustausches gedacht war, wurde nicht nur im Kultusministerium sehr positiv aufgenommen. Auch Entwicklungen und Stationen in der Literatur, Film und Musik sollten bei der gesamten Präsentation in Leipzig aufgezeigt werden.
Der Titel für die Ausstellung Bildender Kunst wurde mit „Zeitzeichen – Stationen Bildender Kunst in Nordrhein-Westfalen“ festgelegt. Für die Koordinierung war ich gemeinsam mit einem Kollegen aus dem Kultusministerium zuständig, Herausgeber war Professor Karl Ruhrberg, verantwortlich für die künstlerische Realisierung Christoph Brockhaus, Direktor des Wilhelm Lehmbruck Museums in Duisburg, und Ulrich Krempel, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen. Technisch und organisatorisch unterstützt wurde das Projekt durch den Landschaftsverband Rheinland und das Rheinische Landesmuseum in Bonn. Die Produktion des mit einem riesigen Bildteil versehenen Katalogbuches, das 618 Seiten stark war, lag wieder beim DUMont Buchverlag, mit dem bei vergangenen Projekten beste Erfahrungen gemacht worden waren.
Die ganze Palette bedeutender Künstlerinnen und Künstler von u.a. Imi Knoebel, Astrid Klein, Joseph Beuys, Felix Droese, C.O. Paefgen, Ulrich Rückriem, Georg Meistermann, Bernhard und Hilla Becher, Gerhard Richter und Emil Schumacher war in Ausstellung und Katalog vertreten. Mehr ging nicht! Was alle Beteiligten nicht wissen konnten, lag in der Brisanz des geplanten Eröffnungstermins am 10.11.1989 in Leipzig im Museum der bildenden Künste und der Galerie der Hochschule für Grafik und Buchkunst eben dort.
Gemeinsam mit Ministerpräsident Johannes Rau und den Ministern Hans Schwier und Günther Einert war die Delegation aus Nordrhein-Westfalen, zu der auch ich gehörte, bereits am 08.11.1989 angereist. Wegen der enormen politischen Turbulenzen, die mit dem Rücktritt von Erich Honnecker am 18.10.1989 ihren Höhepunkt gefunden hatten, war wenige Tage zuvor eine Absage von Seiten der DDR signalisiert worden, die im letzten Moment durch Interventionen von Professor Arno Rink, Direktor der Hochschule, verhindert werden konnte. Tagsüber am 09.11.1989 gab es einen Besuch in der Nikolaikirche und ein Gespräch mit Pfarrer Christian Führer. Aus den dortigen Friedensgebeten gingen auch die Montagsdemonstrationen hervor, die erstmalig am 04.09.1989 stattgefunden hatten.
Die Atmosphäre in der Stadt und in den Gesprächen lässt sich kaum in Worte fassen. Wilde Spekulationen machten die Runde. Das Ende der SED Alleinherrschaft schien sich anzudeuten. Reformankündigungen des Honecker Nachfolgers Egon Krenz regten die Phantasie an. Ein neues Reisegesetz stand unmittelbar vor der Veröffentlichung. Gorbatschows berühmter Satz „ Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ hatte scheinbar alle Türen für die explosionsartig verlaufende politische Entwicklung geöffnet. Die schwere Erkrankung Honeckers von Juli bis September 1989 hatte das Politbüro gelähmt und rechtzeitige Reformbemühungen zur Vermeidung des Zusammenbruchs der DDR verhindert.Aber dies war damals nur eingeweihten Kräften klar.
Bei dem Festakt zur Eröffnung der Präsentation im Gewandhaus bekam Johannes Rau am Abend einen Zettel gereicht: die Mauer ist gefallen. Ausstellung, Konzert und Empfang hatten schlagartig keine Bedeutung mehr. Alles stürmte zu den erreichbaren Fernsehgeräten, um die spektakulären und einmaligen Bilder von der Grenzöffnung und der Mauererstürmung in Berlin zu sehen. Dabei flossen Tränen der Freude und wildfremde Menschen im Hotel umarmten sich. Davon war ich nicht ausgenommen.
Schlafen war in der Nacht wenig angesagt. Eine Meute von Journalisten, Vertretern des Landes NRW, Künstlern und Damen des horizontalen Gewerbes hatte sich schließlich in der Hotelbar versammelt. Alles schien nun gerade für die Menschen aus der DDR möglich zu sein. Dabei hatte Günther Schabowski eigentlich nur vorzeitig die Wirkung des neuen Reisegesetzes verkündet, was zu einem revolutionären Akt umgedeutet wurde. Dessen Ungeschicklichkeit hatte den Dammbruch ausgelöst. Eng zusammengedrängt an der viel zu kleinen Theke kreisten die Gespräche nur um dieses Ereignis und die Folgen Eine stramme Blonde des Gewerbes erzählte mir und dem neben mir sitzenden Journalisten des ZDF Studios Düsseldorf von ihren Reiseplänen in den Westen. Sie habe schon achtzigtausend DM verdient, die sie jetzt endlich sinnvoll anlegen könne. Auch ein Besuch in Düsseldorf bei einem ihrer besten Kunden stand auf ihrem Plan. Ein großer starker Kerl sei das, der sich als bekannter Bänker vorgestellt habe und immer zur Messe in Leipzig erscheinen würde. Einmal sei er auch zusammen mit einem kleinen Dicken gekommen, der offenbar ein wichtiger Politiker zu sein schien.. Wir haben ihr zu bedenken gegen, dass sich die Ehefrau des Bänkers vielleicht nicht so sehr über einen Besuch freuen würde. Am nächsten Morgen bin ich in meinem privaten PKW zurück nach Bonn gefahren. Eine normale Fahrt war das nicht. In einer ununterbrochenen Schlange von Trabis und Wartburgs habe ich mich langsam auf den Grenzübergang Wartha Herleshausen zubewegt. An vielen Brücken über die Autobahn waren Transparente aus Betttüchern gespannt: „ Kommt wieder! Hier seid ihr zu Hause! Wir brauchen euch!“ lauteten die Inschriften. Vor dem Grenzübergang ging es nur noch im Schritttempo voran. Ein Trichter aus tausenden von Autos hatte sich über Kilometer gebildet. Die Schlagbäume waren geöffnet und die Volkspolizisten dachten an keine Kontrolle mehr. Auf der anderen Seite der Grenze hatte sich eine riesige Menschenmenge angesammelt. Jedes Auto wurde mit Geklopfe auf das Dach begrüßt ( Trabi Klopfen ), Geschenke und Geldscheine durch die geöffneten Autofenster gereicht. Es war ein Atem beraubendes Erlebnis, das sich mir für immer eingeprägt hat.
Reisen in ein untergegangenes Land:
TEIL 1: REISEN IN EIN UNTERGEGANGENES LAND