Mein Cousin Bernd hat mir das Buch von Reinhold Beckmann über seine Mutter „Aenne und ihre Brüder“ mitgebracht – vermutend, dass es mich interessieren würde, da wir selbst die Geschichte unserer Familien erforschen,* auch über die Zeit die Beckmann behandelt. Seit ich angefangen habe das Buch zu lesen, beschäftigt es mich andauernd. Es ist viel besser und mehr als ich erwartet habe. Es macht betroffen und regt Denken und Gewissen an. Ich möchte mit einer Rezension – als Laie auf dem Gebiet – das Buches wärmstens empfehlen. Ich hatte befürchtet, dass Beckmann seine große Popularität für einen Biographie-Bestseller nutzen würde. Vielleicht hat ihm die Prominenz geholfen, vielfältige Unterstützung zu erhalten. Wie auch immer: Das Werk steht für sich. Es hat keinen großen Autorennamen nötig. Beckmann entwickelt die Geschichte seiner Mutter von ihrer Geburt bald nach dem ersten Weltkrieg bis zu Ihrer Vermählung nach dem Ende des zweiten Weltkriegs. In diesen 25 Jahren Kindheit, Jugend und Erwachsenwerden ist sie in ihrer kleinen Welt des Ortes Wellingholzhausen und Umgebung von den Auswirkungen des deutschen Dramas dieser Jahre zunehmend betroffen und hält ihnen stand. Beckmann behandelt die Entwicklung chronologisch parallel auf mehreren Ebenen: die Handlungen der ihr persönlich bekannten Personen in der Familie (Aenne und Brüder, Mutter, Vater, Stiefmutter, Stiefvater, Halbschwester und Stiefbruder, Schwägerin), der Nachbarn, Kirchgänger, Pfarrer, Lehrer, Arzt, des Bischofs, der lokalen Regierungen, dann auch die der nationalen Regierung übernommen von der NSDAP, und auch die der Weltpolitik. Ihre Mutter stirbt, bevor Aenne sie bewusst kennenlernen kann an einer Tuberkulose, deren Bazillen Onkel und Vater aus dem Stellungskrieg in Frankreich mitgebracht haben. Auch ihr Vater stirbt bald, nachdem er neu geheiratet hat. So sind Änne und die drei Älteren früh Vollwaisen, erhalten noch eine Halbschwester und später einen Stiefbruder. Diese zugewachsene Familie hält zusammen, weniger aus Herzenswärme, wie Beckmann schreibt, als aus Pflichtbewusstsein und Klugheit. Arbeitsmoral, Leidensfähigkeit und Gottvertrauen helfen in den schweren zwanziger Jahren die Familie mit der Schusterwerkstatt über Wasser zu halten. Die dreißiger Jahre behandelt Beckmann ausführlicher: Den anscheinend unaufhaltsamen Aufschwung mit der NSDAP-Regierung und die immer autoritäreren Maßnahmen, zunächst noch fern von Familie und im katholischen Milieu distanziert betrachtet, dann aber auch das Eindringen des Systems in die dörflich-katholische Welt. Beckmann gelingt es, die Vorgänge auf den verschiedenen Ebenen nicht nur chronologisch zu verbinden. Er erzeugt auch das Gefühl der zunächst steigenden Überzeugungskraft ihrer politisch-nationalen und wirtschaftlichen Erfolge, dann der Überforderung, des Abkippens und schließlich des Abstiegs in das unendliche Leid. Deutlich stellt er die anfangs beschwichtigende und geradezu unterwürfige Haltung des Osnabrücker Bischofs gegenüber Hitler dar, weitgehend von der Amtskirche mitgetragen. Erst als seine Einrichtungen von der NS-Regierung geschlossen werden, fängt er an sich höflich zu wehren. Den örtlichen Pfarrer charakterisiert Beckmann als weniger nachgiebig. Auch erkennt er den mutigen öffentlichen Widerspruch des Münsteraner Bischofs von Galen an, der allerdings die Kanzel nur zum Thema der Euthanasie zur Anklage nutzt. Aenne, die zentrale Figur in Beckmanns Buch, wird schon mit 14 als Hilfe in Haushalt und Hof zu einem Bauern geschickt. Sie wechselt mit 17 die Stelle zu einem anderen Bauern, um dann – nach der Abwehr der durchaus ernsthaften Avancen des Jungbauern – mit 19 nach Osnabrück als Küchenhilfe in ein Internat des Bistums zu wechseln. Die älteren Brüder orientieren sich derweil in Handwerksberufen nach ihren Interessen; einer geht weiter fort und wird Berufssoldat. Beckmann zeigt, wie es wirtschaftlich aufwärts geht und die Skepsis gegenüber der NSDAP auch im Ort nachlässt. Mit Beginn des Krieges, wird Aenne, gerade mal 18 Jahre alt, zur Schlüsselfigur. Bei ihr laufen die Familienfäden zusammen. Sie ist die Vertraute ihrer Brüder in Briefen und Päckchen, die schon 1939 zu Front-Einsätzen abkommandiert werden, der Berufssoldat schon in Polen und die anderen dann als Wehrpflichtige eingezogen zum Einsatz im Westen. Der rasche Erfolg im Westen und die begrenzte Kampftätigkeit kommt auch in einer noch optimistischen Stimmung in diesem Teil des Buches zum Ausdruck. Dies gilt auch noch in der Darstellung der Vorbereitungen und des Beginns des Russlandfeldzugs, beginnt aber dann zu kippen, als in den Feldpostbriefen der Brüder, die jetzt alle an der Ostfront sind, ab Herbst 1941 die Schwierigkeiten in aller Vorsicht benannt werden. Ein Bruder liegt ohne Vorankommen vor Leningrad, das ausgehungert werden soll, ein anderer vor Moskau. Nur im Süden geht es unter hohen Verlusten voran in Richtung Rostow. Von hier an erzeugt die Lektüre ein unangenehmes Gefühl: die Feldpostbriefe mit Verwünschungen der Situation aber ohne offene Kritik, die Beschreibung der zunehmenden Probleme in der Heimat, einschließlich der immer engeren Umfassung und des Eindringens der NSDAP in Einrichtungen und Organisationen, die Erwähnung der ersten Luftangriffe. Beckmann stellt diesen dräuenden Gefahren immer wieder die hoffnungsvollen Äußerungen der Geschwister entgegen, die Aenne empfängt und sendet: Liebevolle Briefe und Päckchen, die Freude über die – komplizierte, die Braut ist Protestantin – Heirat eines Bruders und Geburt seines Kindes, die Grüße der anderen an Liebschaften in der Heimat. Parallel zeigt er die zunehmende Verhärtung der Regierung unter dem kompromisslosen Hitler, dem die Generäle wider besseres Wissen immer wieder Folge leisten, bis in den Untergang. Der Bruder Berufssoldat, junger Ehemann und Vater findet den Tod 1942 im Mittelabschnitt der Front an der Wolga, in aussichtslosen Kämpfen mit der sowjetischen Übermacht. Sein Tod wird ordnungsgemäß gemeldet und löst den ersten Schock aus. Aenne findet die Kraft, mit der Ehefrau in Leipzig in Kontakt zu bleiben. Der Bruder am Südabschnitt stirbt in der Kesselschlacht von Stalingrad im Januar 1943 und wird als vermisst gemeldet. Viele Jahre später findet der Volksbund Kriegsgräberfürsorge dort die Gebeine und auch die Erkennungsmarke. Aenne und Reinhold erhalten so Gewissheit. Der älteste Bruder gerät mit seiner Einheit im Norden unter ständigem Rückzugsdruck. Ab 1943 schildern seine Feldpostbriefe bei aller Vorsicht eine irrsinnige Lage, mit Verlusten, Mängeln, Rückzügen, Streichungen von Urlaub. Er weiß auch um das Vordringen der Alliierten im Westen. Im Brief mokiert sich der Bruder über die NSDAP-Organisationen, die im Ort und in der Region zum Durchhalten drängen. Nur der örtliche Pfarrer hält dem Druck stand und die Kirche wird zum Ort der Gebete für die Männer im Krieg, einer ganze Generation. Die Arbeit haben die Frauen und Alten übernommen, mit dem Einsatz von Kriegsgefangenen, die in schlechtestem Zustand ankommen. Auch kommen Immer mehr ausgebombte Familien aus den Städten nach Wellingholzhausen. Dem ältesten Bruder gelingt es in kurzen Heimaturlaubzeiten sich in Wellingholzhausen zu verloben und dann auch 1944 noch zu heiraten, alles mit der Hilfe seiner Schwester Aenne vor Ort. Er ist glücklich mit seinen 31 Jahren und plant noch für die Nachkriegszeit. Zurück an der Front im Rückzug bleibt seine Einheit im Chaos der ostpreußischen Nehrungsküste hängen. Er fällt im April 1945. Wie und wo, davon gibt es nur das Zeugnis eines Kameraden, das Änne später übermittelt wird, aber keine menschlichen Überreste. Der kleine Stief-Bruder muss das volle Curriculum von Jungvolk, HJ und Wehr-Ausbildung mitmachen und schafft es noch 1944 zum Autoschlosser-Gesellen. Dann kommt Ende 1944 der Stellungsbefehl für den 17-jährigen, nachdem Hitler den Volkssturmbefehl erteilt hat. Er wird einer Einheit zugewiesen, die – schlecht organisiert – versucht, die vordringenden Amerikaner noch mitten in Hessen aufzuhalten. Dabei wird auch er im April 1945 getötet. Er wird von den Amerikanern auf einem Soldatenfriedhof beerdigt, und dann noch von seinem eigenen Vater nach Wellingholzhausen geholt. Die Schilderung der letzten Tage der Brüder nur Wochen vor der Kapitulation ist sachlich, aber schwer zu ertragen. Beckmann berichtet dann nur noch recht knapp, wie Aenne sich nach Kriegsende vom örtlichen Taxiunternehmer in das ca. 100 km entfernte Twistringen bringen lässt, um eine Stelle in einem Wirtshaus anzutreten. Dort lernt sie einen jungen Mann kennen, einen Kriegsheimkehrer, den sie zum Vater ihrer drei Jungs macht, der Dritte ist Reinhold. Beckmann bringt sich selbst nur wenig ein: als Hauptperson nur in der kurzen Episode über seine eigene spätere Wehrdienstverweigerung mit Unterstützung seiner Mutter. Dieser knapp geschilderte Ausblick ist noch einmal aufschlussreich für die siebziger Jahre der Bundesrepublik. Er hält immer mal wieder gedanklich Zwiesprache mit einem seiner Onkel, von denen er keinen kennenlernen konnte. Diese sind naturgemäß hypothetisch, geprägt von Wünschen und Gefühlen des Bedauerns. Beckmann schildert immer wieder Familien-Szenen anschaulich und lässt die Leute beim Frühschoppen plattdeutsche Kommentare zur Lage abgeben. Vermutlich hat er einiges davon erfunden, inspiriert von den Gesprächen seiner Mutter, vielleicht auch aus Erzählungen die er bei Recherchen in Wellingholzhausen eingefangen hat. Gern lässt Beckmann auch Hitler, Goebbels oder Generäle anschaulich agieren, wenn wichtige Entscheidungen fallen. Ganz selten kommentiert er besonders extreme Äußerungen z.B., dass einem „speiübel“ wird. Beckmanns Hauptquelle ist seine Mutter. Er nutzt neben ihren Erzählungen, die er auf Band genommen hat, im zweiten Teil vor allem die Feldpostbriefe, die seine Mutter aufbewahrt hat. Beide Quellen sind unschätzbar wertvoll, was jedem klar ist, der versäumt hat mit seinen Eltern und anderen Zeitzeugen vor deren Ableben ausführlich zu sprechen und Dokumente zu finden. Aber er arbeitet noch viel mehr Informationen sorgfältig ein. Die Details sind gerade auch für jemanden informativ, der sich mit jener Zeit in dem ländlich-katholischen Milieu beschäftigt hat. Zum Beispiel berichtet er von den Schwierigkeiten der Nichtbauern nach Einführung von Lebensmittelmarken, dann auch der Bezugsscheine für andere Waren. Beckmann ordnet dies und viele andere Veränderungen mit Zeitangaben ein und stellt ihre Wirkungen für die Menschen im Ort dar. Außer Kopfarbeit und Handarbeit am Computer steckt auch viel Fußarbeit in dem Buch drin. Beckmann muss sich für die lokalen Daten und Anekdoten länger in Wellingholzhausen aufgehalten haben, das ja nicht sein Heimatort ist, und dort Vertrauen gewonnen haben. Auf der Makro-Ebene hat er Literatur und Dokumente aus Archiven verarbeitet und direkt mit Historikern gesprochen. Die Informationen aus den Feldpostbriefen hat er mit denen aus späteren Feldberichten der jeweiligen Einheiten ergänzt. Im Anhang sind Quellen und Literatur aufgeführt. Die lange Dankesliste belegt noch einmal den Aufwand, den Beckmann und das Lektorate für die Details betrieben haben. *Mein Bruder Reinhold Suding hat im Selbstverlag das Buch über „Lüsche, die ganze Welt und die Sudings“ publiziert. Lüsche liegt wie Wellingholzhausen und auch Twistringen im tief-katholischen Milieu. Dabei haben wir auch das Schicksal unserer Onkel im Krieg in Erfahrung zu bringen gesucht, die allesamt lebend zurückgekommen sind, körperlich und psychisch gezeichnet. Meine Mutter hat so mit Brüdern und Schwägern ein anderes Schicksal wie Aenne Beckmann erfahren. Sie war allerdings 15 Jahre älter und hatte vor und während des Krieges einige Geburten. Leider habe ich weder mit ihr noch mit meinem Vater noch mit den Onkeln ausführlich sprechen können. Reinhold Beckmann, Aenne und ihre Brüder, Die Geschichte meiner Mutter, Propyläen 2023, 26,00 EURO
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Vielen Dank für deine Buchbeschreibung. Es hat in mir ein grosses Interesse an diesem Buch geweckt, da auch ich in einem katholischem Umfeld in Niedersachsen aufgewachsen bin.