Manche Bücher fallen einem spät in die Hände, so auch dieser Roman, der bereits 2014 erschien. Er hat mich auch deshalb interessiert, weil er das Thema „ DDR-Herkunft“ behandelt, der z.B. durch die wissenschaftliche Studie von Steffen Mau (Lütten Klein. Ein Leben in Ostdeutschland) und das Buch von Dirk Oschmann (Der Osten: eine westdeutsche Erfindung),(siehe auch die Buchbesprechung von Alfons Pieper hier im Blog), aktuell eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird.
Regina Scheer erzählt die Geschichte einer Familie und eines (fiktiven) Mecklenburgischen Dorfes namens Machandel aus der Perspektive von fünf Personen verschiedener Generationszugehörigkeit, deren Erfahrungshorizont vom Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg bis in die Nachwendezeit reicht. Hautnah erfährt man das Schicksal von politischer und rassistischer Verfolgung, Internierung in Konzentrationslagern, von Geflüchteten und Vertriebenen vor und während des Krieges; die erlebte Nachkriegszeit im deutschen Osten und der jungen DDR in sozialer und politischer Perspektive bis zur Wende und nach der deutschen Vereinigung.
Die Hauptperson des Romans ist Clara (geb. 1960), Tochter von Hans und Johanna Langner, die in Berlin lebt, an der Humboldt-Universität als Doktorandin tätig ist und zum Umfeld des Evangelischen Friedenskreises gehört. Sie kommt in das Dorf Machandel, in welchem ihr Vater früher gelebt hatte, um dort einen Katen, eine Art Ferienhaus für sich und ihre Familie einzurichten. Ihr Vater Hans (geb. 1909), der politische Kopf der Familie, erzählt von seinen Erfahrungen als Kommunist in der Nazi-Zeit: Verfolgung und Zuchthausstrafe, Schutzhaft im KZ Neuengamme, Häftling im KZ Sachsenhausen, dabei gewesen beim Todesmarsch gegen Ende des Krieges, Flucht bis nach Machandel, wo er als Schwerstkranker gepflegt und aufgepäppelt wird. Erzählt wird ferner die Geschichte von Natalja (geb. 1925), einer zwangsrekrutierten Ostarbeiterin, die sich als Hausangestellte und Mädchen für alles im Schloss von Machandel verdingt, oder der Arztwitwe Emma (geb. 1900), die in Hamburg den schweren Bombenangriff von 1943 überlebt, aufs Land flieht und sich im Dorf um die verlassenen Kinder ihrer Verwandten kümmert. Und schließlich erfährt man über Herbert (geb. 1944), den langjährigen Freund von Claras Bruder Jan, eine Menge über diesen, der nach dem gemeinsamen Besuch der Kadettenschule als politisch engagierter Fotograf wegen staatsfeindlicher Umtriebe in der DDR verhaftet und auf Bewährung in ein Glühlampenwerk geschickt wird.
Regina Scheer hat ihre Protagonist:innen gut ausgewählt und sozial gemischt, um das Spektrum an Erfahrungen nach Herkunft, Alter und sozialer Lage aufzufächern. Der Krieg und die Notsituation haben zwar eine gewisse Egalisierung geschaffen: so wohnten im sogenannten Schloss von Machandel nicht mehr die Wohlhabenden, die auch als solche nicht mehr existierten („alles verloren“), sondern die Villa barst voller verelendeter Menschen, Geflohener, Kranker, Kinder ohne Eltern etc.. Doch es macht einen Unterschied, ob man dazu gehörte oder fremd war, ob man die Sprache sprach und verstand oder nicht, ob man sich in relativer Sicherheit fühlen konnte oder sich verstecken musste etc. Und selbst Clara, über ihre Herkunftsfamilie eigentlich zugehörig, bekommt das Fremdeln der Dörfler gegenüber den Städtern lange Zeit zu spüren.
Literarisch interessant ist die Verknüpfung der Lebensgeschichten der Hauptfiguren, örtlich im Fokus des Dorfes Machandel und zeitlich in historischer Perspektive: von der erzählten Zeit unter dem Faschismus, rückblickend auf biografische Besonderheiten (Herkünfte, Lebenswege etc.) bis in die DDR als nachfolgende Lebens- und Erlebenswirklichkeit, schließlich die Wende. Die Protagonist:innen versuchen, sich aktiv an den gesellschaftlichen Veränderungen zu beteiligen; engagieren sich z.T. im Neuen Forum; ziehen sich aber dann, als der Reformprozess bereits im frühen Stadium von den westdeutschen Parteien usurpiert wird, desillusioniert zurück.
Der politische Gehalt des Romans lässt sich besonders am Beispiel von Hans Langner darstellen. Ja, es hat sie gegeben: die überzeugten Kommunisten, die an die „Sache“ geglaubt und für sie ein Leben lang gekämpft haben. Er ist so einer: immer politische Verantwortung übernommen, leitende Funktionen und Ämter innegehabt, in der Überzeugung, etwas für die Menschen ausrichten zu können, ohne sich blind zu stellen gegenüber den gravierenden Fehlentwicklungen im System; einer, der in die Abgründe des Stalinismus gesehen und Konflikte ausgetragen hat, um die Selbstachtung nicht zu verlieren. Der Einmarsch der sowjetischen Panzer in die Tschechoslowakei 1968 war auch für ihn ein schockierendes Schlüsselerlebnis. Für Tochter Clara und Sohn Jan ist er ein Vorbild – immer wieder suchen sie das Gespräch mit ihm, was auch zu hitzigen Diskussionen aufgrund von Meinungsverschiedenheiten führt; gleichwohl hat der Vater immer eine wichtige Orientierungsfunktion innegehabt.
Hans Langner kommt im Roman, der insgesamt aus über 20 Erzählabschnitten besteht, dreimal zu Wort; seine Beiträge haben Gewicht. Auf dem letzten, der ihn als alten kranken Mann zeigt, der auf sein Leben zurückblickt, soll hier noch etwas näher eingegangen werden.
Hans reflektiert und sinniert über sein politisches Leben und die gemachten Erfahrungen. Er liest viel und gezielt: mit Vorliebe Georg Büchner und Dostojewski, sogar Hegel. In Büchners Briefen stößt er auf eine Stelle im Kontext der Geschichte der Revolution, wo es um den Fatalismus der Geschichte geht. An dieser Formulierung stößt er sich:
Wir haben doch gedacht, alles entwickelt sich zum Höheren, am Ende der Entwicklung steht der Kommunismus. Und die Gesetze der Gesellschaft brechen sich Bahn durch uns, unser Wollen, unser Tun. Und der schreibt vom Fatalismus der Geschichte. Aber wenn ich zurückblicke, sehe ich, es war, wie Büchner es gesehen hat: Der Einzelne nur Schaum auf der Welle.
Den Sinn des Zitats bezieht er dann auf seine Erinnerungen an den Parteitag der KPdSU in Moskau von 1956, auf dem Chruschtschow die berühmte Rede über Stalins Verbrechen hielt, und wie Walter Ulbricht damit umgegangen ist: Er sagte, wir bräuchten keine Entstalinisierung, da wir keine Stalinisten gewesen seien. Die Enthüllungen, die in Chruschtschows Rede enthalten waren und nur auszugsweise den Genossen zugänglich gemacht wurden, lösten Erschütterungen aus, dahingehend, was man gewusst und nicht gewusst hat.
Ich kann nicht sagen, dass ich es nicht gewusst habe. Mein Auge habe ich auch schon früh an Blut gewöhnt, schon vor 33. Und spätestens nach Karels (tschechischer Kommunist; KZ-Mithäftling Langners; von den Stalinisten liquidiert; Anm.: PF) Hinrichtung habe ich gewusst, dass die Genossen nicht gelogen haben, die von den sibirischen Lagern erzählt haben, von den Erschießungen, von der Angst im Vaterland aller Werktätigen. Im Lager habe ich es nicht glauben wollen. Aber ich habe ja die Genossen gesehen, die zurückkamen nach Stalins Tod. Abgehärmt, gealtert waren wir alle.
Das Vertuschen von Verbrechen und das Lügengebäude über den Terror des stalinistischen Systems in der Sowjetunion, das auch Spuren in der DDR hinterlassen hatte (etwa in Form von Überwachung, Verfolgung, Unterdrückung, Misstrauen) – all das war für Hans eine bittere Lehre in Sachen politischer Glaubwürdigkeit. Alles zu hinterfragen und nichts zu vergessen, gehörten zu seinem politischen Vermächtnis für die Nachgeborenen. Manchmal bin ich wütend und denke: Hans Langner, was ist aus dir geworden? Ein Greis mit Urinbeutel, der nicht mehr alleine laufen kann, aber dessen Gedächtnis leider noch funktioniert, der nichts vergessen hat und nichts vergessen kann.
Dieser Roman erhellt die Lebenswirklichkeit von Menschen im Osten Deutschlands als geschichtliche Erfahrung; während die anfangs genannten Studien sich auf einen Zeitraum von der deutschen Wiedervereinigung bis zur Gegenwart beziehen, setzt er an der Vorgeschichte (Nazi-Zeit und 2. Weltkrieg, Geschichte der DDR) an, so dass diese als Grundlage von Sozialisationsprozessen über Generationen hinweg in den Blick gerät. Insofern kann man von „Ergänzung“ sprechen (obwohl wissenschaftliche Studien und Literatur grundverschiedene Genres und nicht zu vergleichen sind); das Gemeinsame könnte allein darin liegen, dass es um empirische Sachverhalte (reale und fiktive) geht, um den Erfahrungen von Menschen, die sich nach Herkunft, Generation, Geschlecht und Klasse unterscheiden, auf die Spur zu kommen. Wie der Roman von Regina Scheer zeigt, lohnt es sich immer wieder, auch Jahre nach dem Erscheinen darauf aufmerksam zu machen; denn der Literaturbetrieb ist auf Neuerscheinungen ausgerichtet und das schnelle Vergessen der etwas älteren Bücher damit programmiert. Dagegen schreibe ich aus Überzeugung an.