Mutige Reformen sollen die Europäische Union retten. Für das ehrgeizige Vorhaben werden Deutschland und Frankreich als gemeinsam treibende Kraft gebraucht. Doch Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich fast ein Dreivierteljahr Zeit gelassen, um auf die Vorschläge des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron einzugehen. Für einen großen Wurf zum Gipfeltreffen der europäischen Staats- und Regierungschefs Ende Juni wird die Zeit knapp.
„Mehr Europa“ lautet die übereinstimmende Forderung aus Paris und Berlin, doch wie das im Detail aussehen soll, bleibt noch unklar. Nationalistische Tendenzen, erstarkender Rechtspopulismus, grassierende Solidaritätsverweigerung und der Austritt Großbritanniens lieferten innerhalb der Europäischen Union ausreichend Anlass für eine Erneuerung. Von außen drängen zusätzlich die Verwerfungen im Verhältnis zu den USA zur Reform. Mit Donald Trump im Weißen Haus ist auf den mächtigsten Verbündeten kein Verlass mehr. Seien es das Atomabkommen mit dem Iran, das Pariser Klimaschutzabkommen oder der Zollstreit: die Europäische Union muss sich emanzipieren.
Der französische Staatschef Emmanuel Macron hat im vorigen September seine Ideen zu einer „Neugründung eines souveränen, geeinten und demokratischen Europa“ dargelegt. Geschichtsbewusst und zukunftsgewandt. In Erinnerung an die zwei Weltkriege hob er die friedensbewahrende Dimension der europäischen Einigung hervor. Im Kern befasste er sich mit wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen, mit der gemeinsamen Verteidigungs- und Asylpolitik, mit Klima, Energie und Afrika. Es war ein Bündel von Visionen, auf das die Bundesregierung mit Schweigen reagierte.
Der Ort – die ehrwürdige Pariser Sorbonne-Universität – war von Macron gut gewählt, der Zeitpunkt jedoch ungünstig. Unmittelbar nach der Bundestagswahl wollte Angela Merkel (CDU) der Regierungsbildung nicht vorgreifen; mit der FDP, die zu dem Zeitpunkt noch Wunschpartner einer Jamaika-Koalition war, ließ sich in Bezug auf eine Vertiefung der europäischen Politik nicht gut Kirschen essen. Die traditionell europabegeisterte SPD war in dieser Hinsicht der bessere Partner, allerdings nach dem Abgang von Martin Schulz europapolitisch personell geschwächt.
Mehr als acht Monate hat es gedauert, bis Merkel Macron antwortete. Sie tat das via Interview in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und blieb dabei so vage und unverbindlich, wie man es von ihr gewohnt ist. „Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in die eigene Hand nehmen“, zitiert die FAS eine Äußerung Merkels aus dem vergangenen Jahr. Noch älter das Macron-Zitat aus der Sorbonne-Rede: „Das Europa, das wir kennen, ist zu schwach, zu langsam, zu ineffizient, aber allein Europa kann uns eine Handlungsfähigkeit in der Welt geben angesichts der großen Herausforderungen dieser Zeit.“
Die aktuellen Aussagen haben weniger Pathos. „Für mich steht im Vordergrund, dass neben einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik und einer gemeinsamen Asyl- und Entwicklungspolitik Europa wirtschaftlich stark und innovativ bleibt“, sagt Merkel in dem Interview. Sie spricht von einer Grenzschutztruppe, die auch eigenständig an den EU-Außengrenzen agieren soll, von einem Marshallplan für Afrika, einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingsbehörde, einem einheitlichen europäischen Asylrecht, und sie sagt: „Ich stehe Präsident Macrons Vorschlag einer Interventionsinitiative positiv gegenüber.“
Macron hatte eine europäische Interventionstruppe ins Gespräch gebracht, die neben der bereits verabredeten engeren gemeinsamen Verteidigungspolitik (PESCO) von den Armeen der Mitgliedsländer zu speisen wäre. Merkel schiebt dazu ein Aber nach und fordert, eine solche Truppe müsse in die Struktur der verteidigungspolitischen Zusammenarbeit eingepasst sein.
Als „Im Prinzip, ja“ lassen sich auch Merkels Äußerungen zur Reform der Euro-Zone zusammenfassen. Ein Investitionshaushalt, aus dem Mitgliedsstaaten Fördermittel für wirtschaftliche Entwicklung erhalten können, soll jedoch nur ein Volumen haben, das „im unteren zweistelligen Millardenbereich“ liegt. Macron schwebte die etwa zehnfache Größenordnung vor, um wirtschaftliche Rückstände innerhalb der Volkswirtschaften in der Euro-Zone auszugleichen. Im Detail uneins sind Merkel und Macron offenbar auch in Bezug auf den „Europäischen Währungsfonds“, der als Lektion aus der Banken- und Finanzkrise geschaffen werden und anstelle des Internationalen Währungsfonds agieren soll.
Nach der späten Antwort aus Berlin wirkt es so, als müssten zwei ungleiche Partner sich erst mühsam annähern. Hier der mutige Macher, als der sich Macron gibt, dort die zögerliche Zauderin, als die wir Merkel kennen. Vielleicht treibt das von der neuen italienischen Regierung drohende Ungemach beide noch zu echter Zusammenarbeit an. Die deutsch-französische Einigung auf große Reformen wird ein Kraftakt, ihre europaweite Verabschiedung ungleich schwieriger.
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