Der Rheinländer hat ja angeblich von Natur aus die Eigenschaft, sich die Realität schön zu reden, notfalls auch zu trinken. „Et hätt noch immer jot jegange“ ist in Köln ein geflügeltes Wort. Dass es auch dieses Mal wieder gut gegangen ist, mag sich auch so manche und so mancher Linksliberale nicht nur im Rheinland gedacht haben, als am Sonntagabend die überraschenden Wahlergebnisse aus Spanien bekannt wurden.
Der nach den Umfragen erwartete und von vielen befürchtete dramatische Rechtsruck auf der iberischen Halbinsel ist ja tatsächlich ausgeblieben. Die Linke hat erstaunlich gut abgeschnitten. Die Regierungsbildung ist zwar noch offen – es ist aber gut möglich, dass der Sozialist Pedro Sanchez seine Minderheitsregierung fortsetzen kann. Stand heute fehlt den Rechten die Mehrheit im Parlament. Die Konservativen haben auch in einer möglichen Koalition mit der rechtsradikalen Partei Vox keine Mehrheit im Parlament. Da alle anderen Parteien eine Zusammenarbeit mit den Extremisten ausgeschlossen haben, fehlen dem konservativen Kandidaten Alberto Nunez Feijoo schlicht die Stimmen.
Also: Alles noch einmal „jot jegange“? – Keinesfalls.
Zum einen ist Spanien nur ganz knapp einer ultrarechten Regierung entkommen. Konservative und Rechtsextremisten hatten angekündigt, viele der jüngsten und wirklich erstaunlichen gesellschaftlichen Reformen in Spanien wieder zu kippen. Frauen und Minderheiten, die es in dem Land der Machos und der katholischen Kirche traditionell schwer hatten, fürchteten um ihre neuen Rechte.
Zum anderen zeigt sich in Spanien indes eine weitere extrem gefährliche Entwicklung. Fast überall in Europa haben konservative Politiker kaum mehr Hemmungen, mit Rechtsextremisten oder Rechtspopulisten vom Schlage der AfD zu paktieren. Nicht heimlich, sondern ganz offen – und offensiv. In Italien führt die Rechtsextremistin Giorgia Meloni als Ministerpräsidentin die Regierung an, in Polen und Ungarn stellen rechte Populisten und Hetzer seit Jahren die Regierung. Auch in traditionell liberalen skandinavischen Ländern mischen Rechtsradikale mit, in Finnland sind sie Teil der Koalition und auch in Schweden unterstützen Ultrarechte die Regierung.
Die Gefahr ist nicht zu unterschätzen. Was sich da in Europa zusammenbraut, ist nicht das alte Spiel von „etwas mehr links oder etwas mehr rechts“ bei Wahlen. Trotz allen Zanks – ob nun die CDU-Frau Merkel oder der SPD-Mann Scholz eine Regierung aus demokratischen Koalionspartnern anführt, das war und ist nun wirklich kein Frage von Sein oder Nichtsein.
Das aber ändert sich mit dem Einzug der Rechtsextremisten in immer mehr europäische Regierungen fundamental. Rassisten und Ultranationalisten sitzen an den Schalthebeln. Land für Land kippen alte Tabus, Menschen, die offen als Fremden- Schwulen- oder Frauenfeinde auftreten, greifen nach der Macht. Für viele ist das eine Horror-Vorstellung.
Deutschland nahm in dieser politischen Entwicklung aufgrund seiner Geschichte bislang eine gewisse Sonderstellung ein – die Konservativen betonten immer wieder, es gebe zu den Rechtsextremnisten eine „Brandmauer“. CDU und CSU lehnten jede Zusammenarbeit mit der AfD ab.
Bis gestern. Am Sonntagabend kippte Parteichef Friedrich Merz plötzlich dieses Tabu. Im ZDF-Sommerinterview schloss er Kooperationen mit den Rechtsextremisten auf kommunaler Ebene nicht mehr aus. Eine Zeitenwende, ein Kulturbruch – und im extrem negativen Sinne ein historischer Tag für die Union.
Der Aufschrei auf der linken Seite des politischen Spektrums ist damit programmiert. Wen dieser unsägliche Vorstoß von Merz aber besonders treffen müsste, sind die konvervativ-liberalen Kräfte, die es in der Union ja immer noch gibt. Es ist höchste Zeit, dass sich ein Hendrik Wüst in NRW und ein Daniel Günther in Schleswig-Holstein eindeutig und offen gegen Merz positionieren. Wenn es um Rechtsextremisten geht, darf es kein Zaudern und kein Taktieren geben.
Vor Jahren galt es als undenkbar – nun droht tatsächlich ein neues Europa. Nicht konservativ oder linksliberal regiert, sondern mit Rechtsextremisten durchsetzt. Eine Entwicklung, die durchaus Furcht auslösen kann. Um ein berühmtes Zitat von Karl Marx umzuwidmen könnte man zeitgemäß warnen: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Faschismus“. „Et hätt noch immer jot jegange“? Von wegen! Da sollte ein Blick in die Geschichte reichen.