„Olaf Scholz wollte es schon immer wissen.“ So beginnt ein Zitat seiner Parteifreundin Gesine Schwan. Da möchte man nachhaken: Was bitte schön? Wir, die Bürgerinnen und Bürger, möchten genauer wissen, was er schon immer wissen wollte. Wofür er steht? Er ist ein Rätsel, das kann man nicht anders sagen und muss hinzufügen: Der Mann hat es entgegen allen Unkenrufen geschafft, ins Kanzleramt zu kommen. Es mag dem einen oder anderen rätselhaft sein, er sitzt im Zentrum der Macht. „Wir haben einen Schweiger als Kanzler“, rief mir jemand zu, der ihn, genauer die SPD im Herbst gewählt hatte. Und dem imponiert hat, wie ruhig dieser Mann Politik macht. Ich fragte den Mann am Telefon zurück: „Und verstehst Du den Bundeskanzler?“ Er kurz: „Nein.“ Siehste, ich auch nicht.
Mir geht die Geschichte neulich im Bundestag nicht aus dem Kopf, die viele Journalisten zu Recht veranlasste, den Kopf zu schütteln über die Ampel, das sogenannte Hohe Haus, wie man den Plenarsaal des Bundestages nennt. Nicht wenige reagierten empört, dass die Hilferufe des ukrainischen Präsidenten Selenskij per Video gesehen und gehört, aber nicht erwidert wurden. Der Ukrainer, dessen Land und Volk unter den Angriffen der russischen Kriegsmaschinerie leidet, sprach den Bundeskanzler persönlich an. „Lieber Herr Bundeskanzler, reißen Sie diese Mauer nieder.“ Er hatte zuvor von der „Mauer inmitten Europas zwischen Freiheit und Unfreiheit“ gesprochen, „diese Mauer wird größer mit jeder Bombe, die auf die Ukraine fällt.“ Selenskiy hatte dann von den Toten geredet, davon, dass die russischen Truppen Wohnhäuser, Schulen und Krankenhäuser bombardierten.
David gegen Goliath
Und dann folgte im Stil von Ronald Reagan der Hilferuf an Olaf Scholz, der schaute und hörte dem Gast in der Ferne zu wie die anderen Abgeordneten. Es wäre nun an Scholz gewesen zu reagieren, eine persönliche Erklärung abzugeben in diesem Moment. Er hätte Mitgefühl äußern können mit Selenskij, Verständnis für die Sorgen und Klagen, er hätte den Angriffskrieg Putins kritisieren können als Kriegsverbrechen, er hätte den Ukrainern mehr deutsche Hilfe versprechen können, mehr Geld, mehr Waffen, Sachen aller Art, die benötigt werden. Scholz hätte Selenskij gedanklich an die Europäische Union heranführen, die Ukraine als Teil der europäischen Familie nennen können, dessen Leid und das Leid seines Volkes den Deutschen das Herz zerreißt. Er hätte ihnen Mut machen können im Kampf David gegen Goliath, er hätte erklären können, warum die Nato, warum Deutschland militärisch nicht direkt eingreifen können, warum das mit der Kontrolle des Luftraums durch Maschinen der Luftwaffe nicht möglich ist, weil dann russische Maschinen über dem Luftraum der Ukraine durch deutsche Flieger abgeschossen werden könnten und wir dann den 3. Weltkrieg hätten, der ganz Europa in Schutt und Asche legen könnte.
Olaf Scholz hätte eine solche persönliche Erklärung vorbereiten können, um sie dann zu halten vom Rednerpult des Parlaments, weil Selenskijs Ansprache per Video ja angekündigt war. Er wusste also, dass etwas auf ihn zukommen konnte. Und dennoch hat er nur Beifall geklatscht wie die anderen, fast bewegungslos reagiert, als Selenskij fertig war, hat tatenlos zugesehen, wie der Bundestag zur Tagesordnung überging und die stellvertretende Bundestagspräsidentin Göring-Eckardt Abgeordneten zum 60. Geburtstag gratulierte. Unmenschlich, gefühllos. Ein Hohes Haus oder besser ein Rathaus, eine Sparkasse.
Fassungslos hat Scholz mich und viele andere gemacht. Ich kann es bis heute nicht verstehen, dass er sich einfach vom Acker machte und ins Kanzleramt ging, um dort ein paar Sätze zu sagen, als Nato-Generalsekretär Stoltenberg ihn besuchte. Aber da war alles vorbei, war die Rede verraucht, die Gunst des Augenblicks hatte er nicht genutzt. Ich weiß nicht, ob Scholz etwas vom Fußball versteht, ist auch egal. In der Sprache der Kicker lag für den Kanzler der Ball auf dem Elfmeterpunkt, was sage ich, der Ball lag auf der Linie, er musste nur noch den Ball im Netz versenken. Aber nichts geschah. Gar nichts. Peinlich.
Kraft des Einzelnen
„Stille Macht“ überschrieb die „Süddeutsche Zeitung“ ihren fein gewirkten Artikel zu Scholz, Selenskij und dem Drama im Berliner Polit-Theater. Am 100. Tag der Scholzschen Kanzlerschaft. „Über einen, der an die Kraft des Einzelnen glaubt, und am meisten an seine eigene“, lautete die Unterzeile der Seite-3-Geschichte. Eine Geschichte über den rätselhaften Kanzler, der, das betonen Experten, die Scholz länger kennen, „unfähig ist zu kommunizieren:“ Aber er hätte doch bloß antworten müssen, ein Heimspiel für einen Profi wie Scholz. Da ist doch kaum ein Risiko, er muss doch nur Wort an Wort setzen, wie oben beschrieben. Er kann doch reden, das hat er kürzlich unter Beweis gestellt nach dem Überfall der Russen auf die Ukraine. Da hat er in seinem bekannten ruhigen Stil geredet, hat Pflöcke eingeschlagen, das mit den 100-Milliarden-Euro zusätzlich für die Bundeswehr sachlich und klar dem erstaunten Publikum gesagt, er hat dann das mit dem 2-Prozent-Ziel des Bundeswehr-Etats auf seine Art rausgehauen, etwas, wovor sich die SPD seit Jahren scheute. Scholz hat es gemacht. Hat Beifall bekommen. Nein, er muss nicht auf den Tisch hauen, da gilt der alte Satz von Willy Brandt: „Das imponiert nicht mal dem Tisch.“ Aber die Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht, vom Bundeskanzler zu hören, wie seine Politik aussieht, er muss sie begründen. 100 Milliarden Euro, eine Menge Geld. Wo bleiben die Hilfen für Mütter, für Kinder, gegen Kinderarmut? Das zu erklären, ist seine Bringschuld. Einfach zu schweigen, das geht nicht, er kann das leise machen, er muss es nicht rausschreien, aber er muss es sagen. Er redet doch immer von Respekt, wo ist der Respekt den Menschen im Lande gegenüber?
„Wir stehen an der Seite der Ukraine“, hat Scholz gesagt, als Stoltenberg bei ihm war. Das hätte er am Morgen im Bundestag sagen müssen. Und er hätte dem Gast noch einmal klarmachen können, dass seine Ampel-Regierung aus SPD, den Grünen und der FDP in der Außen- und Sicherheitspolitik nach Putins Überfall einen Total-Schwenk vollzogen hat, den kaum einer auf dem Schirm hatte. Deutschland stellt sich seiner Verantwortung, hätte er sagen können. Der schweigsame Scholz wirkte wie ein Teilnahmsloser, als ob ihn das nichts anginge. Dabei geht es ihn an. Und wie! Er hat die Richtlinienkompetenz. Und hat nicht Scholz vor Wochen betont: „Wer Führung bestellt, bekommt sie.“ Von wem, bitte schön?!
Scholz, der ja seit Jahren ein Polit-Profi ist, der Hamburger Bürgermeister war, SPD-Generalsekretär, Arbeitsminister, Bundesfinanzminister, erweckt den Eindruck, als wolle er den Laden allein regieren, quasi als Alleiner einer Ich-AG aus dem Kanzleramt. Wenn man seiner Amtsvorgängerin vorgehalten hat, sie erkläre den Menschen zu wenig ihre Politik, dann war das, was die Rekord-Kanzlerin gemacht hat im Vergleich zu Scholzens Schweigespirale die reine Geschwätzigkeit. Und wenn stimmt, dass er seine Rede zur Begründung der Zeitenwende ohne Absprache mit seinem Fraktionschef Rolf Mützenich und der Führung der Grünen gehalten und lediglich FDP-Chef und Finanzminister Lindner eingeweiht hat, dann sollte man ihm mal sagen, dass er sowohl auf Mützenich wie die Grünen angewiesen ist. Er braucht Mehrheiten im Parlament. Und er braucht eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der eigenen Fraktion und Partei wie mit den Koalitionspartnern. Sonst wird er eines Tages sein blaues Wunder erleben. Der linke Flügel der SPD hält erstaunlich still, es überrascht nicht nur mich, wie eine SPD die Kehrtwende des Kanzlers in der Sicherheitspolitik bisher hinnimmt, mitträgt. Scholz könnte nachlesen, wie es in dieser heiklen Frage vor vielen Jahren mal einem anderen Hamburger im Kanzleramt erging: Helmut Schmidt. Und der schwieg nicht alles weg. Politik im Alleingang und dann ohne Kommunikation, das geht irgendwann schief.
Schwierige Zeiten
In den etwas mehr als 100 Tagen seiner Kanzlerschaft hat es Olaf Scholz bisher nicht geschafft, mit den Bürgern zu kommunizieren. Das wird er aber müssen, weil die Zeiten verdammt ernst und schwierig sind. Wir haben nicht nur eine alarmierende Sicherheitslage, die Corona-Pandemie ist längst nicht erledigt. Es scheint, als müsste Scholz getrieben werden, gelegentlich die Betriebsamkeit des Kanzleramtes zu verlassen, um sich der Öffentlicheit zu zeigen und seine Politik zu erklären. Ein Einzelauftritt bei Maybritt Illner in drei Monaten jedenfalls ist zu wenig. Er muss den Bürgern die Ängste nehmen, die sie haben durch den Krieg, der zudem dazu führt, dass Millionen Menschen auf der Flucht sind, sie fliehen vor Putins Panzern Richtung Westen und sie werden hier bei uns ein Dach über dem Kopf brauchen, medizinische Versorgung, Ernährung, Jobs, Sprachkurse. Es wird Streit geben, jede Wette. Da muss erklärt, gegengehalten werden von der Berliner Regierungspolitik. Und dann ist da noch Corona mit allen Fragezeichen. Und auch das Thema wird wahrlich schlecht kommuniziert. Man denke nur an die neuen Regelungen, die von der FDP in der Ampel-Regierung durchgesetzt wurden und über die sich jetzt Ministerpräsidenten beschweren, die mit der FDP zusammen regieren. Das findet statt in einer Zeit, da wir täglich neue Inzidenz-Rekordzahlen vernehmen. Wer soll das verstehen, dass nunmehr fast alles gelockert wird, die Fußball-Arenen wieder volle Häuser sind? Das Virus ist doch nicht weg, oder?
Helmut Schmidt hat einmal den Bau des damals in den 70er Jahren neuen Kanzleramtes mit einer Sparkasse verglichen. Aus der heraus regierte Schmidt laut und vernehmlich, er war präsent. Gemünzt auf Olaf Scholz kommt einem das so vor, als wolle er das Land wie eine Sparkasse führen- kleinteilig, verdruckst, abgesichert, ohne kraftvolle Ansagen. In der Welt des Olaf Scholz muss wohl alles berechenbar sein, deswegen scheute er die erforderliche Erwiderung auf Selenskij. So wirkt die Poltik eines Technokraten. Kalt.
Scholz, gewiss ein kluger Mann mit langer Regierungserfahrung, war und ist überzeugt von sich. Er war selbst in Zeiten, da seine SPD kaum die 15 Prozent im Umfragen erreichte, überzeugt, dass er es schaffen würde ins Kanzleramt. Er hat Recht behalten. Was noch nicht heißt, dass er wirklich Kanzler kann. Die Zeit läuft