Als der Kanzler vor gut einem Jahr von der Zeitenwende sprach, war der Krieg Russlands gegen die Ukraine gerade ein paar Tage alt. Krieg, das kannten die meisten Deutschen nicht. Von Krieg hatten sie gelesen, gehört, erfahren hatten ihn nur die Älteren, die noch im Zweiten Weltkrieg Soldat gewesen waren oder zu Hause die Bomben erlebt hatten, die auf ihre Häuser niedergingen und Tod und Zerstörung mit sich brachten. Ich habe, Jahrgang 1941, nur einzelne Erlebnisse im Gedächtnis, den Lärm der Sirenen als Warnung vor dem nächsten Bombenangriff, als Zeichen für meine Eltern, aufzustehen, um dann schleunigst mit den Kindern in den nächsten Bunker zu rennen. Ich erinnere mich daran, wie plötzlich ein Schwarzer vor dem Bunker stand, ein US-Amerikaner in Uniform. Der Krieg war zu Ende. Und damit die Nazi-Diktatur, die aber weder zu Hause noch später in der Schule ein Thema war.
Mit Zeitenwende bedeutete Olf Scholz der Nation, es wird Ernst in Europa, weil wieder geschossen wird, getötet, zerstört, weil Kreml-Herrscher Wladimir Putin sich nicht abfinden will mit der Rolle seines Landes. Er will die Sowjetunion zurück mit aller Macht und mit Gewalt. Er will die Grenzen verschieben, nicht hinnehmen, dass die Ukraine als unabhängiger und freier Staat sich von Russland ab- und dem Westen zuwendet. Deshalb der Überfall, völkerrechtswidrig keine Frage. Der Krieg, bis zuletzt von vielen für unmöglich gehalten, weil wir alle ihn nicht wünschten und in diesem Wunschkonzert übersahen, was Putin Ende der 90er Jahre mit Tschetschenien gemacht, dass er Grosny dem Erdboden gleichgemacht hatte. Wir hatten uns Putin schön geredet und schön geschrieben, uns täuschen lassen von seiner Bundestags-Rede 2001 und gehofft, dass dieser Mann, der gerade im Reichstag so überzeugend europäisch gesprochen hatte, wirklich ein lupenreiner Demokrat(so der damalige Kanzler Gerhard Schröder) wenn nicht schon war, aber doch in naher Zukunft werden würde. Dass Putin eine KGB-Vergangenheit hatte, geschenkt. Wir dachten an Gorbatschow, der uns die Einheit geschenkt hatte, ohne dass ein Schuss gefallen war. „Gorbi“ wurde bei uns wie ein Rock-Star gefeiert. Wir überhörten seine Bitten, Klagen, der Westen möge doch bitte die Interessen Russlands beachten, nicht nur an seinen Vorteil denken. Der Westen fühlte sich als Sieger im Streit mit dem kommunistischen Wettbewerber im Osten.
Gute Geschäfte mit Russland
So hatten wir in Deutschland und auch einige Europäer gute Geschäfte mit Russland gemacht, weil Gas so billig und die Russen zuverlässige Geschäftspartner waren. Die Wirtschaft profitierte davon, der Sport. Beispiel Schalke und Gazprom. Es gab warnende Stimmen aus Osteuropa, die wir aber falsch einschätzten. So ließen wir die Bundeswehr links liegen und setzten die Wehrpflicht aus, die wir früher so gelobt hatten, weil sie Teil der Gesellschaft war. Der Soldat saß quasi am Frühstücks- und Mittagstisch in vielen Familien. Die Bundeswehr, das waren wir alle. Der Zivildienst sorgte dafür, dass soziale Dienste funktionierten. Fast alle waren damit einverstanden. Krieg bei uns, in Europa? Nicht denkbar. Ist doch alles so friedlich, unblutig. Das mit Jugoslawien war eine Ausnahme.
Und plötzlich machte Putin Ernst, ließ seine Truppen in die Ukraine einmarschieren. Wer auf die Landkarte schaute, stellte fest, dass Kiew gar nicht so weit von Berlin entfernt ist, der Krieg also näher rückt. Ein Schreckgespenst aus den 50er Jahren war wieder da: Der Russe stand vor der Tür, zwar nicht in Berlin aber immerhin. Und Experten hoben warnend den Finger, ein General drückte aus, was viele mit Sorge bewegte: Die Bundeswehr sei kaum verteidigungsfähig, sie sei, waffentechnisch gesehen, „blank“. Das war die nüchterne Bilanz eines Fachmanns. Worüber man über Jahre gespottet hatte, war nunmehr kein Spiel. Panzer, die nicht rollten, Hubschrauber, die nicht flogen, Gewehre, mit denen man nicht schießen konnte. Die Bundeswehr eine reine Friedensbewegung, fehlten nur die lila Tücher.
Wir sollten uns parteipolitische Debatten ersparen. Die Friedensdividende haben alle genossen, das war keine Sache von links oder rechts, um einen Blick in die üblichen Schubladen zu werfen, das war unser aller Wunsch. Am 24. Februar platzte diese Blase. Und Olaf Scholz reagierte auf Putins Einmarsch-Befehl in die Ukraine mit seiner Wumms-Strategie: ein 100-Mrd-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr müsse her, der Verteidigungsetat werde künftig auf mindestens zwei Prozent des Bruttosozialprodukts jährlich erhöht. Mit wenigen Sätzen räumte der SPD-Regierungschef einstige Bedenken vom Tisch, wer wollte ersetzte Ab- durch Aufrüsten. Man wunderte sich über Kehrtwenden der Sozialdemokraten, es gab kein Rumoren in der Partei, von vielen Seiten erhielt Scholz Beifall. Die Grünen, die seit der Wahl mit am Tisch von Scholz sitzen, changierten zu Olivgrünen, Freidemokratinnen erweckten den Eindruck, als könnten sie den Marschbefehl nicht erwarten. Panzerdebatten wurden geführt, als gäbe es nichts Schöneres auf der Welt.
Kritik der Union heuchlerisch
Ein Jahr nach der Zeitenwende-Rede wird Scholz vor allem von der Union kritisiert. Zu langsam, zögerlich. Das ist heuchlerisch. Merz und Co tun so, als müssten die Waffen für die Ukraine nur aus dem Lager geholt werden, als müssten Panzer nur geölt und geputzt werden, damit sie mit dem nächsten Zug Richtung Kiew transportiert werden könnten. Einer wie Merz müsste es besser wissen, dass erst verkrustete Strukturen aufgelöst werden müssen, die in Jahrzehnten gewachsen sind. Ich darf ihn nur mal daran erinnern, dass Angela Merkel von 2005 bis 2021 Kanzlerin war, dass die Bundesverteidigungsminister Jung, de Maiziere, von und zu Guttenberg, von der Leyen, Kramp-Karrenbauer hießen, samt und sonders Mitglieder von CDU und CSU. Oder will der amtierende Unions-Partei- und Fraktionschef mit seiner Kritik andeuten, dass er mit der Politik von Merkel nicht einverstanden gewesen sei? Der SPD kann er nur einen Teil der Verantwortung zuschieben, die SPD war in 12 von 16 Regierungsjahren Merkels Juniorpartner.
Verkrustete Strukturen, ein Übermaß an Verwaltung, Regeln, Gewohnheiten, Bürokratie, das alles trägt zur Lähmung des Apparates Bundeswehr bei. Dazu gesellen sich andere Faktoren: Flugzeuge, die bestellt werden, stehen nicht irgendwo in Amerika auf dem Hof, sie müssen erst gebaut werden. Die deutsche Rüstungsindustrie wird gern ihre Maschinen anwerfen, um Aufträge der Bundeswehr zu fertigen. In der Vergangenheit war das kein großes Thema. Die Friedensdividende stand davor. Ferner: Geld, das die Bundeswehr ausgeben soll, muss vom Bundestag genehmigt werden. Alles dauert, egal wer in Berlin das Sagen hat. Man kann als Opposition herumpoltern, seriös ist das nicht für eine Partei, die viele Jahre regiert hat und irgendwann wieder regieren will. Wer immer in diesen Tagen überrascht tut, weil er vom Verteidigungsminister Pistorius hört, dass die jetzige Bundeswehr nicht verteidigungsfähig sei, ist nicht ehrlich. An dem beklagenswerten Zustand von Heer, Marine, Luftwaffe sowie an den Waffensystemen waren viele beteiligt, auch die Union hat über Jahre keinen Finger krumm gemacht, um die Bundeswehr besser auszustatten. Es wird Jahre dauern, bis diese Bundeswehr wieder in der Lage ist, Polen und das Baltikum wirksam verteidigen zu können oder zumindest sich an dieser Aufgabe entsprechend zu beteiligen. Das gilt auch für die eingeforderte Führungsrolle Deutschlands in Europa.
Westen einig wie nie
Eines hat Putin nicht erreicht: Er wollte den Westen spalten. Das Gegenteil ist der Fall. Nie war die Nato einiger als jetzt. Die Vereinigten Staaten zeigen sich engagiert für Kiew und gegen Russland, für Freiheit und Demokratie, gegen Diktatur. Finnland und Schweden drängen in die westliche Verteidigungsallianz, um auf Nummer sicher zu gehen, sollte Putin sie angreifen wollen. Artikel 5 würde die gesamte Nato zum Eingreifen zwingen.
Und doch sind die Folgen des Kriegs in Deutschland ungewiss. Ob die deutsche Gesellschaft verinnerlicht hat, dass das ganze Geld, das für die Verteidigung ausgegeben werden soll, an anderer Stelle fehlen wird? Die Kosten des Kriegs müssen auch die Verbraucher ausbaden, vieles ist teurer geworden, vor allem Energie, aber auch Lebensmittel. Der Staat zahlt Zuschüsse und schließt damit etwas die Löcher in den Haushaltskassen. Es ist bisher unbestritten, dass die Bundesrepublik die Ukraine im Kampf ums Überleben unterstützt, wir liefern Waffen, Geld, nehmen Millionen Geflüchtete aus der Ukraine auf, was die Kommunen hier im Land belastet, weil sie Unterkünfte schaffen, Kinder an Schulen unterbringen müssen. Überall ist große Hilfsbereitschaft zu spüren. Aber machen wir uns nichts vor. Je länger es dauert, umso schwieriger wird es werden, auch weil deutsche Haushalte die Lasten spüren. Die Covid-19-Pandemie ist zwar vorüber, Pflegeberufe fordern mehr Anerkennung, mehr Geld, es fehlen Zigtausende von Fachkräften gerade in sozialen Diensten. Da war während der Hochzeit der Krise manches versprochen, aber neben Applaus, Zuspruch und einem warmen Händedruck erhielten sie nichts.
Der Wohlstand nimmt ab, bei nicht wenigen schmilzt das Ersparte, nur die Superreichen werden reicher, die Armut wächst. Gerade las ich in der Zeitschrift „chrismon“ eine Reportage mit dem Titel: „Ein Löffel Wärme.“ Berichte über eine Suppenküche in Ludwigshafen, die Geschichte könnte auch aus Bonn sein, Berlin, Hamburg, München. Geld ist eigentlich da, lese ich am Ende dieses bedrückenden Beitrags. Der Soziologe und Referent für soziale Ungleichheit bei Oxfam in Deutschland, Manuel Schmitt, beklagt in einem Interview, dass das Geld nur bei den Reichen ankomme. Er fordert eine Umverteilung, höhere Steuern für die Milliardäre. Es wird Zeit zu handeln. Scholz weiß das.
Globalen Süden nicht vergessen
Weltweit hungern über 800 Millionen, mehr als jeder Zehnte auf dem Erdball. Tun wir also nicht so, als gäbe es nur im Westen, in Europa Probleme. Überhaupt dürfen wir nicht den Blick für den globalen Süden vergessen. Europa ist nicht die Welt, die Welt besteht nicht nur aus Europa. Wenn wir wollen, dass die übrige Welt, dass sich Brasilien, dass sich Afrika, Indien für den Westen interessieren sollen, für unsere Probleme, müssen wir uns um sie kümmern. Der Kanzler hat China besucht, Brasilien, er war in Afrika und jetzt in Indien. Die SPD-Politikerin, Entwicklungsministerin Svenja Schulze hat bei einer Sitzung der SPD-Bundestagsfraktion über Erfahrungen ein Jahr nach der Zeitenwende gesagt, man dürfe die Länder des globalen Südens nicht vergessen, die bei der Nahrungsmittelversorgung unter den Folgen des Krieges litten. Hier gebe es die große Befürchtung, dass Deutschland in seiner Hilfe nachlasse.
Putins Angriffskrieg hat vielen Menschen die Freiheit und das Leben gekostet. Im Augenblick sieht SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich keine Grundlage für Verhandlungen mit Russland, weil Putin nicht verhandeln wolle. Und doch hält Mützenich Diplomatie „nicht für einen Fehler“, um auf Staaten wie China und Indien zuzugehen, die Russlands Krieg bisher nicht verurteilt haben. Könnten diese doch später helfen, „den Pfad für Verhandlungen zu weisen“, wenn der Krieg „nicht auf dem Schlachtfeld entschieden wird“. Was in der Geschichte oft der Fall war. Und um auch dies noch einmal klarzustellen: „Die Entspannungspolitik trägt nicht die Verantwortung für den Überfall russischer Streitkräfte auf die Ukraine.“ Sagt Mützenich und er hat Recht. Putin ist der Aggressor.