Der türkische Präsident verhängt den Ausnahmezustand über sein Land, und er muss an der Zustimmung des Parlaments für diese drakonische Maßnahme nicht zweifeln. Recep Tayyip Erdogan genießt außerordentlich breiten Rückhalt bis tief hinein in die Opposition. Der Putschversuch trieb in Ankara und Istanbul Anhänger und Gegner des islamischen Autokraten gleichermaßen auf die Straße. Auch in Deutschland demonstrierten die verfeindeten Lager Seite an Seite vor den türkischen Generalkonsulaten. „Nicht für Erdogan, sondern für die Republik“, sagt Ahmed, 28 Jahre alt, Maschinenbau-Student in Bochum. Die türkischstämmige Minderheit in Deutschland nimmt den Militäraufstand und seine Folgen anders wahr als der westliche Mainstream. Ihre Bewertung zeichnet ein differenzierteres Bild.
Ahmed lässt kein Schimpfwort aus, wenn er über Erdogan spricht. „Despot“ nennt er ihn, „Psychopath“, „Verbrecher“. „Der ist eiskalt, der geht über Leichen“, sagt der Student, „machtgeil und korrupt“. Gefragt, was er nun angesichts der umgehend begonnenen Säuberungswelle erwarte, ändert sich sein Ton. „Das ist das einzig Richtige“, antwortet er, „das hätte er (Erdogan) längst machen müssen.“ Ohne Zweifel sei die Gülen-Bewegung Drahtzieher des Putsches. Das Netzwerk des Predigers Fetullah Gülen habe alle Bereiche des öffentlichen Lebens in der Türkei unterwandert, sabotiere die Staatsmacht und bringe die Regierung bewusst in Verruf.
Alle zwei Jahre Generäle ausgewechselt
„Das Land kotzt sich aus“, sagt Ahmed, und seine Wortwahl erinnert an die Rhetorik Erdogans, der die Gülen-Bewegung als Krebsgeschwür und Krankeitserreger bezeichnet. Auf die Rückfrage, ob er da nicht einer Propaganda aufsitze, die von Erdogan und den ihn stützenden Medien verbreitet wird, antwortet Ahmed nach kurzem Nachdenken: „Nein, es ist so, das sehen auch die Erdogan-kritischen Medien so, jeder weiß das.“ Deshalb seien die massenhaften schnellen Amtsenthebungen in Justiz und Bildungswesen möglich gewesen.
Aus der Zeit, in der Erdogan und Gülen noch an einem Strang zogen, sei von vielen bekannt, „wer ist Gülen-Lehrer, wer ist Gülen-Polizist“, sagt Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkeistudien und Integration in Essen. Im Gespräch mit dem Blog der Republik bestätigt er die in der türkischstämmigen Bevölkerung verbreitete Einschätzung der Hintergründe des Putschversuchs. „Alle zwei Jahre am 30. August werden Generäle ausgewechselt“, hatte der Student berichtet. „Die Gülen-Generäle wussten, dass sie gehen müssen. Der Putsch war eine Kamikaze-Aktion. Sie hatten nichts zu verlieren.“
Organisiert von Verschwörergruppe
Ulusoy blickt auf die Ereignisse der Nacht auf den 16. Juli zurück. „Der Militärputsch ist gescheitert, weil niemand auf den Zug aufgesprungen ist“, sagt der Wissenschaftler. „Er unterschied sich von allen vorherigen Putschen, war von einer Verschwörergruppe organisiert und fand quasi live statt.“ Die Menschen in Deutschland konnten von ihren Wohnzimmern aus die Ereignisse verfolgen. Die Angriffe aufs Parlament seien auf breite Empörung gestoßen, die Niederschlagung auf einhellige Erleichterung. Zwar sei die Spaltung von Gegnern und Befürwortern Erdogans nicht aufgehoben, aber die demokratisch gewählte Regierung werde von allen respektiert. Oder mit Ahmeds Worten: „Erdogan ist auch für seine Widersacher noch der Beste von den Schlechten.“
Er sei froh, dass der Präsident nicht umgekommen sei, sagt der Student. „Er wäre sonst zum Märtyrer geworden, aber er gehört vor ein Gericht.“ Um die Unabhängigkeit der türkischen Gerichte ist es allerdings schlecht bestellt, und übereinstimmend zweifeln Ahmed und Ulusoy daran, dass es rechtsstaatlich zugehen und den Umstürzlern in fairen Verfahren die individuelle Schuld nachgewiesen wird. Der Türkeiforscher sieht zwei Optionen für die nahe Zukunft: „Entweder agiert Erdogan diktatorisch und macht alle Gegner mundtot, oder er ergreift die Chance und lernt dazu.“ Wahrscheinlich sei die zweite Variante nicht, aber der gescheiterte Putsch biete die Möglichkeit zur Erneuerung der Demokratie. „Die gesamte Zivilgesellschaft hat sich gegen den Putsch gestellt. Die Opposition ist moralisch gestärkt“, sagt Ulusoy. Die Putschnacht habe gezeigt, „was Mut und Zivilcourage gegen die Mächtigen ausrichten können. Das wird auch Erdogan zu denken geben.“
Armee spiegelt Spaltung des Landes wider
Ahmed ist da skeptisch. „Erdogan kann machen, was er will, niemand kann ihn stoppen.“ Ein Hochschulabschluss sei Voraussetzung für das Präsidentenamt in der Türkei. Den könne der Staatschef nicht nachweisen, aber er sitze das aus. Auch die Verpflichtung zur parteipolitischen Neutralität missachte er, ohne dass ihn dafür jemand zur Rechenschaft zöge. Seit 14 Jahren ist die AKP an der Macht. Erst im Amt des Ministerpräsidenten, nun als Staatspräsident baut Erdogan die Türkei um zu einer religiösen Republik. Das Erbe von Republik-Gründer Mustafa Kemal Atatürk, der eine klare Westorientierung und die strikte Trennung von Staat und Religion vorgab, ist verspielt. Die Armee, die sich historisch stets als Hüterin des laizistischen Kurses verstanden hatte, spiegelt heute die Spaltung in dem 80-Millionen-Einwohner-Land wider, und die Rivalität zwischen den einstigen Weggefährten Erdogan und Gülen.
Ulusoy erinnert an die beiden großen Anklageverfahren Ergenekon und Balyoz, die zwischen 2007 und 2014 hunderte Offiziere der Verschwörung bezichtigten. „Damit war für jeden sichtbar die bisherige Unantastbarkeit der militärischen Führung beendet, die schon zu Beginn der AKP-Regierung im Zuge des Demokratisierungsprozesses eine erhebliche Schwächung ihrer Macht erfahren hatte.“ Aktuell sei Erdogan mit seiner nationalistischen Politik und dem Kampf gegen die Kurdische Arbeiterpartei PKK der Armee „sehr entgegen gekommen“. Aber die Verurteilung des ehemaligen Generalstabschefs unter dem Vorwurf der Gründung einer terroristischen Vereinigung sei für die Armeeführung „ein Schlag ins Gesicht“ gewesen. Nach dem Bruch zwischen Erdogan und Gülen seien Fälschungen und Verleumdungen ans Licht gekommen, die „von Insidern angefüttert wurden“. Der Wissenschaftler ist überzeugt: „Das Trauma wirkt in der Armee nach.“
Die Gülen-Bewegung hat sich als Wohlfahrtsorganisation seit den 1980er Jahren wachsender Beliebtheit erfreut und mit der Gründung von Schulen sowie einer westlichen Ideologie und dem Anspruch eines modernen, aufgeklärten Islam viele Anhänger gewonnen. Sie ist mit ihren Nachhilfeschulen auf allen Kontinenten aktiv, ihre „Stiftung Dialog und Bildung“ auch in Deutschland. Fetullah Gülen lebt in Pennsylvania und leitet von dort das „sektenmäßige Netzwerk“, wie Ulusoy es bewertet. Allein der Wohnsitz legt für viele Beobachter einen Einfluss der USA nahe, ein Interesse an dem Sturz Erdogans. Entsprechende Vorwürfe aus der türkischen Regierung wies US-Außenminister John Kerry am Tag nach dem Putschversuch erbost zurück. Ankara hat nun die Auslieferung Gülens beantragt. Washington prüft.
In Krisenzeiten sprießen die Legenden. „Dichtung und Wahrheit vermischen sich“, sagt Ulusoy, und er lehnt Aussagen über unbelegte Behauptungen ab. Etwa die, dass Gülen-Piloten das russische Flugzeug gezielt abgeschossen hätten, um Erdogan in den Konflikt mit Wladimir Putin zu treiben. Aber er warnt auch den Westen vor einer Dämonisierung Erdogans. Im Dialog liege die Chance, die Türkei auf den Weg der Demokratie zu führen.
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