Am Sonntag haben die Wähler in der Türkei für ein politisches Erdbeben gesorgt. Was sich viele demokratisch und fortschrittlich gesinnte Türken schon lange erhofft haben, könnte nun endlich Wirklichkeit werden: Das politische Ende des Bosporus-Despoten Recep Tayyip Erdogan.
Es waren zwar „nur“ Kommunalwahlen. Und doch hat dieser Sonntag zu tektonischen Verschiebungen in der Türkei geführt, die lange nachwirken könnten: Die sozialdemokratisch und dennoch durchaus nationalistisch ausgerichtete Oppositionspartei CHP, die auf Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk zurückgeht, hat Erdogan eine schmerzhafte Niederlage zugefügt. Sie siegte in den fünf größten Städten des Landes und hat die AKP, die religiös-konservative Partei Erdogans, erstmals auch landesweit überflügelt.
Seit mehr als 20 Jahren regiert der nun 70-jährige Erdogan in der Türkei. Er hat inzwischen ein autoritäres Präsidialsystem installiert, das komplett auf ihn zugeschnitten ist. Nachdem politische Beobachter selbst im Westen anfangs von Erdogans wirtschaftlichem und politischem Reformeifer durchaus angetan waren, hat der Islamist das Land mehr und mehr in seine Vorstellungen gepresst. Sein Despotismus steigerte sich noch einmal deutlich nach dem gescheiterten Militärputsch von 2016, den er zum Anlass nahm, noch brutaler gegen tatsächliche und vermeintliche Gegner vorzugehen. Abertausende Staatsbedienstete wurden aus den Ämtern gejagt, unliebsame Journalisten und andere Intellektuelle flüchteten ins Ausland oder wanderten in den Knast.
Fast religiöse Verehrung
Doch Erdogan konnte weiterhin einen Wahlsieg nach dem anderen feiern. Bei vielen seiner Anhänger genießt er noch immer eine fast religiöse Verehrung, er hat den armen und gottesfürchtigen Bürgern vor allem in Zentralanatolien scheinbar eine Stimme und vor allem Selbstbewusstsein gegeben. Und Erdogan beherrscht die Massenmedien: Nicht nur das staatliche Fernsehen ist fest in AKP-Hand, auch die großen Zeitungen gehören fast ausnahmslos Erdogan-Getreuen. Viele von ihnen sind Unternehmer – etwa aus der Baubranche, – die von Staatsaufträgen abhängig sind. Wer in der Türkei der permanenten und penetranten Erdogan-Propaganda entgehen will, ist seit langem aufs Internet angewiesen. Doch dort informieren sich zwar die Eliten in den Metropolen, nicht aber die bäuerlich-einfachen Menschen in Zentralanatolien. Die Spaltung im Land ist tief.
Erdogan hat die Türkei deutlich sichtbar verändert – wie kein anderer Politiker seit dem Radikalreformer Atatürk – nur in eine komplett andere Richtung. Überall wurden unter Erdogan neue Moscheen erbaut, selbst in der brodelnden Metropole Istanbul bestimmt das islamische Kopftuch heute das Straßenbild – vor 30 oder 40 Jahren noch undenkbar. Der Wirtschaftsboom zu Beginn des Jahrhunderts hat die Städte verwandelt: Wolkenkratzer schossen in den Himmel, U-Bahnen und riesige Flughäfen entstanden. Und auch Teile der zuvor ärmeren konservativen Schichten kamen unter Erdogan zu Wohlstand. Das sicherte die Wahlerfolge der religiösen AKP.
Nun aber hat sich das Blatt offenbar gewendet. Der legendäre Satz im Bill-Clinton-Wahlkampf aus den USA der 90er Jahren scheint sich auch in der Türkei zu verwirklichen: „It’s the economy, stupid!“ Und es sind tatsächlich die stümperhafte Wirtschaftspolitik und ihre fatalen Folgen, die nun das Ende der Erdogan-Ära einläuten könnten. Weil der Präsident persönlich und entgegen dem Rat namhafter Ökonomen über viele Jahre einen absurd niedrigen Leitzins einforderte, ächzt das Land seit langem unter einer enorm hohen Inflationsrate. Weite Schichten verarmen spürbar, können das Geld für horrende Mieten und Lebensmittel kaum mehr aufbringen. Existenzielle Sorgen und erkennbare Armut prägen inzwischen den Alltag vieler Türken. Eine depressive Stimmung hat das Land erfasst.
Es ist diese Wirtschaftslage, die nun endlich zum politischen Wandel am Bosporus führen könnte. Denn dieses Mal stimmten nicht nur diejenigen, die schon immer gegen den Despoten Erdogan waren, für die oppositionelle CHP, dieses Mal wandten sich offensichtlich auch viele sozial frustrierte Wähler gegen den selbstherrlichen Autokraten.
Der Kandidat Imamoglu
Hinzu kommt, dass die CHP nun nach vielen Jahren einen potenziellen Kandidaten hat, dem berechtigte Chancen gegen Erdogan eingeräumt werden: Dem 52-jährigen Ekrem Imamoglu gelang am Sonntag zum zweiten Mal nach 2019 ein Wahlsieg in der Millionen-Metropole Istanbul – jener Stadt, in der Erdogan selbst einmal Bürgermeister war und in der er auch in diesem Jahr vehement Wahlkampf geführt hatte. Wer Istanbul beherrsche, beherrsche die Türkei, sagt man am Bosporus.
CHP-Bügermeister Imamoglu gilt – und das ist in der säkularen CHP ungewöhnlich – als tief religiös. Er spricht darüber offen – was ihn auch für konservativere Bürger wählbar macht. Er tritt zudem bescheiden und volksnah auf – und damit ganz anders als jene „linken“ kemalistischen Eliten, die die einfachen und wenig gebildeten Menschen deutlich verachten. Imamoglu ist der Mann, den Erdogan fürchten muss.
Die nächsten Präsidentenwahlen in der Türkei sind erst im Jahre 2028. Ob der demokratische Aufbruch bis dahin trägt, kann mit Recht bezweifelt werden. Noch gibt sich Erdogan sicherlich nicht geschlagen, noch beherrscht er die Institutionen, noch muss man ihm jede skrupellose Volte zutrauen, um sich die Macht zu sichern. Vom Krieg gegen die Kurden im Südosten des Landes bis zu Parteiverboten und geschickt inszenierten „Säuberungswellen“ in der Politik.
Und dennoch könnte von diesen Wahlen ein Impuls ausgehen, der dem ganzen Land eine bessere Zukunft verspricht: ein demokratisches und endlich wieder säkulares Land. Das könnte die Botschaft sein – eine Botschaft, die Millionen Türken jubeln lässt und ihnen neue Zuversicht gibt: Eine Türkei ohne Erdogan und dessen korruptes Regime. Das ist für ganz Europa eine gute Nachricht.
Toller Artikel.Auch für kleine Brüder verständlich.
Grüße
Der Ausgang der Wahl in der Türkei ist endlich mal eine richtig gute Nachricht! Danke für den umfassenden Artikel zum Thema und den Ursachen des Wandels!
Eine Sache unterscheidet Erdogan offensichtlich von anderen Möchte-gern-Autokraten: Er hat die Wahlergebnisse ohne Wenn und Aber akzeptiert! Er macht NICHT den Trumpf, wodurch er bei mir Achtungspunkte gewonnen hat!