I.
Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat am 19. Februar 2024 eine Studie „Bäumchen wechsel dich? Politische Einstellungen im Wandel“ veröffentlicht. Sabine Pokorny, Referentin für Wahl-und Sozialforschung in der Abteilung „Analyse und Beratung“, präsentiert und erläutert „Ergebnisse aus drei repräsentativen Trend-Umfragen“ von Ende 2022, Juni 2023 und Ende 2023. Vom etwas unglücklich gewählten Titel – um Kinderspiele geht es wirklich nicht – sollte man sich nicht schrecken lassen. Es lohnt, sich mit den Ergebnissen zu beschäftigen.
In den Umfragen geht es um die Zufriedenheit mit der Demokratie, um Zukunftszuversicht, Vertrauen in unterschiedliche Institutionen, Sympathie für Parteien und um die Selbsteinstufung der Befragten auf der Links-Rechts-Skala.
Die Studie unterscheidet sich von vielen anderen dadurch, dass sie die Ergebnisse nicht nur nach Ost und West oder nach Parteipräferenz auswertet. Dargestellt werden auch die Ergebnisse nach formalen Bildungsabschlüssen, die man allerdings nicht mit Intelligenz oder politischem Urteilsvermögen verwechseln sollte. Noch besser wäre es, wenn auch dargestellt würde, wie sich die Einstellungen der Befragten je nach Einkommen unterscheiden. Insgesamt gibt es aber einen relativ engen Zusammenhang zwischen Schulabschluss und Einkommen.
Hinter den Durchschnittszahlen, die üblicherweise als Ergebnisse von Umfragen veröffentlicht werden, verbergen sich grosse Unterschiede je nachdem, ob die Befragten einen Volks- oder Hauptschul-Abschluss (niedrig) haben, einen Realschulabschluss (mittel) oder (Fach-)Abitur bzw. einen Studienabschluss (hoch). Die beiden ersten Gruppen mit formal niedriger und mittlerer Bildung stellen die grosse Mehrheit aller Wählerinnen und Wähler.
Diese Unterschiede sollten in der gesellschaftlichen und auch der politischen Diskussion sehr viel stärker im Blick sein als das üblicherweise der Fall ist. Deshalb geht es mir im Folgenden besonders um diese Unterschiede.
II.
Die „Demokratiezufriedenheit“ in Deutschland ist zwischen Ende 2022, Juni 2023 und
Ende 2023 auf niedrigem Niveau konstant. Bildungsunterschiede in der Zufriedenheit sind dagegen stärker geworden:
„2022 waren Wahlberechtigte mit niedrigem und mittlerem formalen Bildungsabschluss weniger zufrieden mit der Demokratie als Wahlberechtigte mit hoher formaler Bildung. Im Dezember 2023 ist dieser Zusammenhang noch ausgeprägter. Unter Personen mit niedrigem formalen Bildungsniveau (- 21 Prozentpunkte) ist die Demokratiezufriedenheit stärker zurückgegangen als unter Personen mit mittlerem und hohem Bildungsabschluss (- 15 Prozentpunkte). Lediglich 25 Prozent der Wahlberechtigten mit niedriger formaler sind Ende 2023 mit der Demokratie (sehr) zufrieden.“
Ein ähnliches Bild zeigt sich, wenn nach „Zukunftszuversicht“ gefragt wird:
„Formal hoch Gebildete sind optimistischer als formal niedrig oder mittel Gebildete. Am geringsten fällt der Optimismus unter Personen mit mittlerem formalem Bildungsabschluss aus. In der Gruppe mit mittlerem formalem Bildungsabschluss blickt Ende 2023 mit 45 Prozent nur noch eine Minderheit optimistisch in die Zukunft…
…
Am geringsten ausgeprägt ist die Zukunftszuversicht noch immer in der Wählerschaft der AfD.“
Bei der Frage nach dem Vertrauen in Institutionen beschränke ich mich auf die Ergebnisse für Bundestag, Bundesregierung und Parteien.
„Personen mit hohem formalem Bildungsabschluss vertrauen dem Bundestag häufiger als Personen mit niedrigem oder mittlerem formalem Bildungsabschluss. In allen drei Gruppen ist das Vertrauen zwischen der ersten und der dritten Erhebung gesunken.“
„Das Vertrauen in die Bundesregierung ist seit Ende 2022 kontinuierlich gesunken…
…
Personen mit hohem formalem Bildungsabschluss vertrauen der Bundesregierung häufiger als Personen mit niedrigem oder mittlerem formalem Bildungsabschluss. In allen drei Gruppen ist das Vertrauen in die Bundesregierung zwischen der ersten und der dritten Erhebung gesunken.“
Hier wäre es interessant gewesen zu erfahren, wie sich das Vertrauen der Menschen in CDU/CSU als Opposition im Bundestag entwickelt hat. Diese Frage hat es, aus welchen Gründen auch immer, nicht in den Fragebogen der Konrad-Adenauer-Stiftung geschafft.
Was das Vertrauen in Parteien angeht, zeigt sich je nach formalem Bildungsabschluss wieder eine ähnliche Verteilung. Insgesamt ist das Vertrauen in die Parteien Ende 2023 mit 28 Prozent unverändert auf niedrigem Niveau, im Westen etwas gestiegen und im Osten noch weiter zurückgegangen:
„Ende 2022 gab es beim Vertrauen in Parteien einen klaren, linearen Bildungseffekt. Je höher das formale Bildungsniveau war, umso höher war das Vertrauen in Parteien.Ende 2023 ist das Vertrauen unter Personen mit niedriger formaler Bildung leicht gestiegen. Gleichzeitig ist das Vertrauen unter Personen mit mittlerer formaler Bildung leicht gesunken. In der Folge unterscheiden sich Personen mit niedriger und mittlerer formaler Bildung nicht mehr in ihrem Vertrauen in Parteien. Nur unter Personen mit hoher formaler Bildung ist das Vertrauen konstant geblieben und liegt gut 10 Punkte höher als in den anderen beiden Bildungsgruppen.“
Betrachtet man die einzelnen Parteien gibt es unter den interessanten Ergebnissen eines, das heraussticht:
„Die Sympathie für die SPD ist bei Personen mit niedriger oder mittlerer formaler Bildung besonders stark gesunken… Unter Personen mit hoher formaler Bildung hat die SPD zwar auch Sympathie verloren, jedoch weniger stark als in den anderen Bildungsgruppen. Personen mit hohem Bildungsabschluss bringen der SPD jetzt mehr Sympathie entgegen als Personen mit niedrigem oder mittlerem Bildungsabschluss.“
Bemerkenswert ist, dass die Konrad-Adenauer-Stiftung nach der „Selbsteinstufung auf der Links-Rechts-Skala“ fragen lässt. Das geschieht bei Umfragen nur selten, obwohl oder weil die Antworten aufschlussreich sind. Die Ergebnisse zeigen, dass „links“ und „rechts“ alles andere als überholte politische Kategorien sind. Trotz seit Jahrzehnten anhaltendem „Mitte“-Tremolo auf allen Kanälen haben die Befragten offenbar kein Problem, sich auf einer Skala von 0 (sehr links) bis 10 (sehr rechts) einzustufen. Insgesamt sehen sie sich Ende 2023 bei einem Wert von 4,7, also ganz leicht links von der statistischen Mitte. Auch hier gibt es aber klare Unterschiede:
„Bei der Links-Rechts-Selbsteinstufung zeigt sich ein deutlicher Bildungseffekt: Je höher formal gebildet eine Person ist, desto weiter links verortet sie sich. Im Durchschnitt liegen Personen mit niedriger formaler Bildung bei einem Skalenwert von 5,1. Personen mit mittlerer formaler Bildung positionieren sich im Mittel bei 4,9 und Personen mit hoher formaler Bildung bei 4,3.“
„Im Durchschnitt liegen die Wählerinnen und Wähler der SPD mit 4,0 links der Mitte… 30 Prozent der SPD-Wählerinnen und -Wähler stufen sich bei dem Wert 5 ein. Gleichzeitig positionieren sich 24 Prozent bei dem Skalenwert 3. Die Verteilung ist also links-schief.“
„Links-schief“ ist Fachjargon, nicht abwertend gemeint.
Mehr als 15 Prozent der Wählerinnen und Wähler von SPD stufen ihr politische Position noch weiter links vom statistischen Mittelwert 5 ein.
Politisch besonders interessant ist auch, wie die Wähler und Wählerinnen der Grünen sich einstufen:
„Im Durchschnitt verortet sich die Grünen-Wählerschaft mit einem Wert von 3,3 links der Mitte.“ Links von der Wählerschaft der SPD.
SPD und Grüne müssen sich fragen, ob sie mit ihrer Politik den Erwartungen ihrer Wählerinnen und Wähler und möglicher weiterer Unterstützung gerecht werden und gerecht werden wollen.
Dass die Einstufung auf einer Skala zwischen sehr links und sehr rechts keine Phantasie ist, sondern Wirklichkeitsgehalt hat, zeigt sich spätestens dann, wenn man sieht, dass die Wählerschaft der AfD sich mit 6,5 „mit Abstand am weitesten rechts“ einstuft.
III.
Menschen mit niedrigem und mittlerem formalem Bildungsabschluss sind weniger zufrieden mit der Demokratie, haben weniger Vertrauen in Parteien, Bundesregierung und Bundestag. Diese Ergebnisse fallen nicht vom Himmel, und es gibt für sie bestimmt auch nicht den einen, einzigen Grund. Ein wichtiger, vermutlich der wichtigste Grund dürfte darin liegen, ob und wie Menschen ihre Interessen und ihre Vorstellungen von Parteien, von Bundesregierung und Bundestag wahrgenommen und Ernst genommen sehen oder nicht.
Ganz ohne Wahlforschung kann jede Interessierte nach Wahlen in ihrer Stadt oder Gemeinde feststellen, dass die Wahlbeteiligung in den Wahlbezirken und Stadtteilen ganz unterschiedlich hoch ist. Das geht bei manchen Wahlen von 20 oder 30 Prozent in Stadtteilen mit hoher Armuts- oder Armutsgefährdungsquote bis hin zu über 80 Prozent in wohlsituierten Vierteln. Chorweiler und Hahnwald in Köln sind dafür besonders extreme Beispiele.
Das ist ein Thema, das es selten auch nur auf hintere Seiten der Zeitungen oder gar in offizielle Dokumente schafft. Eine Ausnahme gab es, als die Bundesregierung den
„5. Armuts- und Reichtums-Bericht“ beraten und am 12. April 2017 beschlossen hat. Dort kann man lesen:
„Die politische Beteiligung bis hin zur Teilnahme an Wahlen ist bei Menschen mit geringem Einkommen deutlich geringer und hat in den vergangenen Jahrzehnten stärker abgenommen als bei Personen mit höherem Einkommen und der Mittelschicht. Auf politische Entscheidungen wirken sie damit vergleichsweise weniger ein. In der internationalen Politikwissenschaft wird zudem seit einigen Jahren diskutiert, dass die Positionen der politischen Akteure zunehmend homogener geworden sind und Personen aus dem unteren Einkommensbereich sich vielfach in Entscheidungen nicht wiederfinden.“
Die zuständige Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles hatte damals im Entwurf des Berichts deutlicher formuliert und die Wirklichkeit ganz ungeschminkt beschrieben:
„Die Wahrscheinlichkeit für eine Politikveränderung ist wesentlich höher, wenn diese Politikveränderung von einer grossen Anzahl von Menschen mit höheren Einkommen unterstützt wird.“
Das war dem Bundeskanzleramt dann doch zu ehrlich, zu viel ungeschminkte Wirklichkeit. Deshalb musste der Satz raus aus dem Bericht, bevor die Bundesregierung ihn beschlossen hat. Das ist ein Beispiel dafür, dass manches in offiziellen und auch anderen Texten gestrichen wird oder gar nicht erst aufgeschrieben wird, nicht weil es falsch ist, sondern weil es stimmt. Nicht alle wollen, dass gesagt und geschrieben wird, gelesen und gehört werden kann, was Sache ist. Das ändert nichts an der Wirklichkeit. Das soll dazu beitragen, dass sich an der Wirklichkeit möglichst wenig verändert.
Die meisten Menschen kennen den „5. Armuts- und Reichtumsbericht“ der Bundesregierung nicht, und sie wissen erst recht nicht, welche Sätze aus welchem Entwurf gestrichen worden sind. Viele Menschen haben aber ein feines Gespür dafür, ob politisch Verantwortliche sich für sie interessieren, sich eine Vorstellung von ihren Interessen und ihrer sozialen Lage machen können und etwas für sie tun.
Die grosse Mehrheit, die Menschen mit niedrigem und mittlerem formalen Bildungsabschluss, die alles in allem auch wenig oder nur mässig verdienen, sehen keine oder wenig Chancen, Einfluss auf die Politik zu nehmen. Das ist leider nahe an der Wirklichkeit. Wenn sich das nicht ändert, gefährdet das in den unsicheren Zeiten, in denen wir leben, Demokratie und Rechtsstaat.
Demonstrationen und Kundgebungen gegen Menschenfeindlichkeit, gegen Nationalismus und Herrenmenschentum sind wichtig und richtig. Sie können aber kein Ersatz sein für eine Politik, die auf sozialen Ausgleich setzt und Ernst macht mit dem Auftrag des Grundgesetzes: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“
So hat es der Parlamentarische Rat 1949 beschlossen. Das grösste Geschenk zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes am 23. Mai dieses Jahres wäre es, wenn möglichst viele politisch Verantwortliche in Deutschland sich diesem Auftrag des Grundgesetzes in der praktischen Arbeit Tag für Tag verpflichtet fühlten.