Ein heißes Thema ist der Mindestlohn geworden. Olaf Scholz, Annalena Baerbock und natürlich auch der Führer der Linken fordern eine deutliche Anhebung in Richtung 12 € oder noch mehr pro Arbeitsstunde. Im Wahlkampf klingen solche Signale besonders verlockend für fast 2 Millionen Menschen, die seit dem 1. Juli nur den gesetzlichen Mindestlohn von 9,60 € erhalten. 2022 soll dieser zunächst auf 9,82 € angehoben werden, dann ab Mitte des Jahres auf 10,45 € – so war nämlich der einstimmige Vorschlag der von der Bundesregierung eingesetzten Kommission.
Misstrauen gegen Tarifpartner
Es ist die Mindestlohnkommission, die von einem ehemaligen Arbeitsdirektor, SPD-Mann und Gewerkschaftsmitglied angeführt wird, und alle 2 Jahre die Höhe des Mindestlohns empfiehlt. In der Kommission sind die Gewerkschaften, der Arbeitgeberverband und die Wissenschaft vertreten. Gemeinsam haben sie sich stets auf die Suche gemacht, alles vor dem Hintergrund der ökonomischen und sozialen Entwicklungen ausgelotet und dann ihr Ergebnis als Empfehlung an die Bundesregierung gegeben. Sie kann diesen dann so wie empfohlen beschließen, muss es aber nicht.
Neben dem gesetzlichen Mindestlohn gibt es auch noch Branchenmindestlöhne: So erhöht sich der Mindestlohn in der Abfallwirtschaft ab Oktober diesen Jahres von 10,25 auf 10,45 €, im Dachdeckerhandwerk liegt er bei 14,10 €, in der Pflegebranche für Ungelernte bei 12,10 €, für Fachkräfte bei 15,00 € pro Stunde. Im Vergleich zur Zeit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns im Jahre 2015, als er 8,50 € betrug, wird er bis zum 2. Halbjahr 2022 um 22,9 % steigen.
Rund 2,5 Millionen Mindestlöhner
Wer als Mindestlöhner derzeit 35 Stunden pro Woche arbeitet, erhält einen Lohn von 336,00 €; sein Brutto-Monatseinkommen liegt damit bei rund 1.400,00 €. Davon gehen auf jeden Fall etwa 20 % für die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge ab. Demnach verbleiben 1.120,00 € netto, wenn nicht auch noch Abzüge für die Lohn- und Kirchensteuer fällig werden, was durchaus sein kann, wenn einige Überstunden geleistet werden. Mehr als 2,5 Millionen – davon rund 9 % der Männer, 17 % der Frauen – bringen es als Vollzeitbeschäftigte hierzulande auf ein Bruttomonatsentgelt, das unter der Schwelle von 2.000,00 € liegt. Insgesamt leben von diesen sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten mit über 1,8 Millionen rund 10 % in Westdeutschland, mit 707.000 etwa 18 % in den ostdeutschen Ländern.
Allein mit einem solch‘ geringen Einkommen zu leben, das ist selbst in strukturschwachen Regionen fast nicht möglich. Denn die Miete für die Wohnung, die Zahlungen für Elektrizität und Heizung, für den Lebensunterhalt und manches mehr schlagen zu Buche. Und die Kosten steigen derzeit kräftig an; die Inflationsrate liegt bei rund 4 %.
Selbst Haushalte mit zwei Verdienern kommen mit den Mindesteinkommen mehr schlecht als recht über die Runden. Diese haben in der Regel auch kaum Anspruch auf staatliche Sozialleistungen. Bei Alleinerziehenden sieht es auch nicht viel besser aus, obwohl bei ihnen staatliche Hilfen die finanzielle Not etwas zu lindern versuchen, wenn Bedürftigkeit gegeben ist. Eine Vereinfachung des Zugangs zu den verschiedenen staatlichen Unterstützungsgeldern, vor allem weniger Formulare bei den Anträgen, und eine bessere Beratung vor Ort wären dabei besonders hilfreich für die Betroffenen.
Konsequenzen für das Tarifgefüge
Wer indessen politisch den Mindestlohn per odre de mufti kräftig auf 12 € zu erhöhen verspricht, muss die Konsequenzen einkalkulieren. Ob Politiker besser als Arbeitgeber, Gewerkschaften und Wissenschaftler wissen, wie der richtige Mindestlohn festzulegen ist, das erscheint doch sehr zweifelhaft. Die Parteien werden sich im Buhlen um die Wählergunst gewiss übertrumpfen. Die bisher praktizierte Tarifautonomie würde zudem ausgehebelt – ein Schlag ins Gesicht der Tarifpartner. Die Auswirkungen auf das Gefüge der Lohn- und Gehaltstarife in vielen anderen Branchen würden nicht gering sein. In den nächsten Runden dürften vor allem die Gewerkschaftsführer von ihren Mitgliedern gedrängelt werden, die Löhne und Gehälter in der Proportion zu den Mindestlöhnen kräftig herauf zu verhandeln und den Abstand zwischen Tariflohn und Mindestlohn zu wahren.
Gefahren für Beschäftigung
Noch gibt es fast 3 Millionen Arbeitslose hierzulande. Hinzu kommt eine große Gruppe von Kurzarbeitern; ob all‘ diese nach dem Ende der Corona-Pandemie wieder in ihre Jobs zurückkehren können, ist nicht sicher. Zudem findet bereits seit einiger Zeit schon ein großer Strukturwandel in der Wirtschaft statt, der beachtliche Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hat. Dringend gesucht werden IT-Spezialisten, Ingenieure, Mediziner, Pfleger und Krankenschwestern, Leute aus den Bereichen der Künstlichen Intelligenz und der Quantencomputer sowie der Digitalisierung. Dagegen werden insbesondere einfachere Arbeitsplätze wegrationalisiert – in der Autoindustrie und bei deren Zulieferern im Braunkohlenbergbau, sogar in der Kreditwirtschaft und in manchen anderen Branchen. Nahezu in allen Sektoren geht es um die Reduzierung der Kosten, um im immer härteren globalen Wettbewerb konkurrenzfähig zu bleiben. Mit Robotern, intelligenten Maschinen und neuen Technologien lassen sich am ehesten Arbeitsplätze für einfachere Tätigkeiten wegrationalisieren und damit Lohnkosten sparen. Die Tarifpartner haben bei den jüngsten Vereinbarungen die strukturellen Veränderungen bei den Lohn- und Gehaltsabschlüssen berücksichtigt und vor allem der Sicherung der Arbeitsplätze eine hohe Priorität eingeräumt.
Mehr Wachstum, mehr bessere Jobs!
Aus dem tiefen Tal der Pandemie, das sich doch länger als erwartet erweist, kommt die deutsche Wirtschaft nur sehr mühsam heraus. Das reale Wachstum wird in diesem Jahr eher unter als deutlich über 3 % liegen. Auch die Prognosen für 2022 verkünden keine überschäumende Konjunktur, zumal die stark exportorientierte deutsche Industrie mit weltweitem Gegenwind rechnen muss.
Mit kräftig erhöhten Mindestlöhnen, mit höheren Steuern auf Einkommen und Vermögen, mit mehr staatlichen Verboten und Regulierungen und mit noch mehr öffentlichen Schulden wird sich das zarte Wachstumspflänzchen gewiss nicht entfalten.
Wenn jedoch der volkswirtschaftliche Kuchen nicht deutlich größer wird, werden die Arbeitslosenzahlen nicht geringer, neue Jobs nicht geschaffen, Investoren kaum ermutigt, die Verteilungsspielräume kleiner und die Steuerquellen gewiss nicht sprudeln.
Staatlich diktierte Mindestlöhne könnten schlussendlich einen gefährlichen Bumerangeffekt haben. Allemal besser wären wohl zielgenaue sozialpolitische Hilfen für die, die trotz fleißiger Arbeit in der Armut leben müssen.
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