Der sichtlich genervte Familienvater muss ein Machtwort sprechen:“Jetzt aber mal hopp. Es wird Zeit fürs Mittagessen.“ Die lieben Kleinen aber können sich nicht trennen. Kein Wunder, denn der neue Indoor-Spielplatz bietet auf 500 Quadratmetern alles, was Kinderherzen begehren: Schaukeln, Rutschen, Hängebrücken, Trampoline. Der Eintritt ist frei. Doch die Eltern drängen zum Aufbruch, sie haben ihre voll gepackten Einkaufstaschen längst im Auto verstaut. Noch schnell zu McDonald’s auf der anderen Straßenseite, dann geht es nach Hause, ins eineinhalb Stunden entfernte Kremmen.
Nur murrend fügt sich der Nachwuchs. Die Mutter zeigt Verständnis:“Ist doch auch schön für sie hier.“ Wer weiß, was die Betreiber sich demnächst noch so einfallen lassen, um die Leute anzulocken. Platz gäbe es genug auf dem weitläufigen Gelände einer ehemaligen Zellstoff-Fabrik und den verlassenen Gebäuden – für ein Planschbecken oder gar einen Pool, für eine Kletterwand, für einen BMX-Parcours oder für ein paar Skateboard-Rampen? Das wäre auch attraktiv für die Camper von nebenan. Die deutschen Investoren machen sich schon ihre Gedanken, heißt es, das potenzielle Publikum ist neugierig.
Wir sind auf dem „Polenmarkt Hohenwutzen“, dem größten seiner Art unter einem halben Dutzend Mitbewerbern entlang der deutsch-polnischen Grenze. So ganz stimmt dieser Name nicht, denn der Markt liegt kurz hinter der Oder-Brücke auf der anderen Seite, nahe dem 200-Seelen-Ort Osinow Dolny, während das Dorf Hohenwutzen zu Bad Freienwalde gehört, jener 15 000-Einwohner-Gemeinde, die sich der nördlichsten Skischanze der Bundesrepublik rühmen darf. Der guten Nachbarschaft tut diese kleine geografische Unkorrektheit keinen Abbruch, mit der Marke „Hohenwutzen“ lässt sich in der Hauptstadt und ihrem Speckgürtel halt besser werben, auf einem Riesenplakat steht sogar: “Herzlich Willkommen auf Berlins größtem Polenmarkt“. Akzeptiert werden „alle Kreditkarten“.
Kurze Rückblende: Als sich im Herbst 1989 erst der Eiserne Vorhang in Ungarn öffnete und dann die Mauer fiel, entwickelte sich ein reger Grenzverkehr, zunächst nur von Ost nach West. Damals strömten die Polen in Massen nach Berlin, was sie auch vorher schon in gewissem Umfang getan hatten, denn zuhause herrschte großer Mangel, in den sozialistischen Bruderstaaten DDR und Tschechoslowakei gab es ein etwas reichhaltigeres Angebot. Der Historiker Florian Peters, der an der Universität Jena zur ökonomischen Entwicklung Polens forscht, sagt:“Schon vor der Wende war die Oder eine Wohlstandsgrenze, erst recht danach.“ Sobald die Bürger des östlichen Nachbarlandes ohne Einschränkungen nach West-Berlin fahren durften, machten sich viele Händler aus den Anrainer-Regionen auf den Weg und verkauften dort Pilze, Kartoffeln, Blumen, Wurst, Kaninchen.
Auf dem ehemaligen Grenzstreifen am Potsdamer Platz entstand ein regelrechter Basar, Peters erinnert sich:“Das war wie ein Flohmarkt.“ In der ungeordneten Zwischenphase eroberten sich fliegende Händler aus Polen ihr Stück Marktwirtschaft. „Polenmärkte“, meint der Forscher,“waren Zeichen des Umbruchs, von der Planwirtschaft zum Kapitalismus.“ Für die eingenommene D-Mark kauften sich die Nachbarn Kaffee, Elektrogeräte, Jeans. Peters:“So entstanden allmählich marktwirtschaftliche Strukturen als Graswurzel-System.“ Als die ortsfremden Händler den Berliner Stadtbehörden zum Ärgernis wurden, zogen die weiter gen Osten. An Oder und Neiße setzten sie sich fest, die „Polenmärkte“, bis heute.
Zurück in die Gegenwart. Vor dem achtstöckigen Plattenbau an der Marzahner Allee der Kosmonauten 26 hat sich an diesem frühen Sommermorgen schon eine lange Schlange gebildet. An dem polnischen Reisebus warten ein paar Dutzend Menschen geduldig auf die Abfahrt in mehr als einer halben Stunde. Rentner, Ehepaare, Mütter mit kleinen Kindern, Singles, viele rauchen. Fast alle haben Rucksäcke, Taschen oder Trolleys dabei. Kurz vor neun Uhr kommt der Busfahrer, lässt die Gäste einsteigen. Der erste Wagen ist schnell voll, 70 Sitzplätze. Ein zweiter Bus rollt vor, auch der füllt sich gut zur Hälfte. In zwei Stunden wiederholt sich dieser Vorgang, wäre nicht Ferienzeit, könnte man auch noch am frühen Nachmittag losfahren. Das einfache Ticket kostet fünf Euro, mit Rückfahrt ist es der doppelte Preis.
Von der Berliner Stadtgrenze im Osten sind es gut 70 Kilometer bis zum „Polenmarkt Hohenwutzen“, durch einige Baustellen verlängert sich die Fahrtzeit des Shuttle auf mehr als 90 Minuten. „Alles aussteigen“, lautet die Durchsage, als der Bus sein Ziel erreicht hat. Die Leute lassen sich nicht lange bitten, einige von ihnen wollen schon in etwas mehr als einer Stunde wieder zurück. Die meisten Marktbesucher wissen Bescheid, wo sie kriegen, was sie suchen. Wer sich unter den 750 Ständen (200 davon überdacht in einer beheizbaren Halle) erst einmal orientieren muss, lässt sich mehr Zeit – der letzte Bus nach Berlin geht um 17 Uhr. Und das alles sieben Tage die Woche.
Zielstrebig steuert Manuela Grigorjew auf einen kleinen Friseursalon („Bei Ela“) zu, etwas versteckt auf einer Ladenzeile, die „KuDamm“ heißt (so wie alle Gassen einen deutschen Namen tragen). Die 61jährige Berlinerin lässt sich hier regelmäßig bedienen, „Waschen, Schneiden, Föhnen“ für 18 Euro, der Herrenschnitt kostet acht Euro, „auch ohne Anmeldung kaum längere Wartezeiten“, wie ein älterer Kunde lobt. Damit sich diese Ausgabe trotz der Bustickets lohnt, nimmt die Ehrenamtlerin aus dem Osten der Hauptstadt auch noch ein paar „Schnäppchen“ mit, eine Packung Büffel-Mozzarella, die hier für 60 Cent angeboten wird („Zuhause zahl‘ ick dafür das Doppelte!“), eine Liter-Flasche Wodka für neun Euro. Sie ist zufrieden, auf der Rückfahrt macht sie ein Nickerchen.
Wenn die „Polenmärkte“,wie der Historiker Peters meint, einen Umbruch symbolisieren, wofür stehen sie dann heute, gut drei Jahrzehnte nach der Wende in Europa? Der Wissenschaftler denkt: „Die Lebensverhältnisse in Deutschland und Polen haben sich mittlerweile soweit angeglichen, dass es sich vor allem für Geringverdiener und noch dazu in Zeiten hoher Inflation in der Bundesrepublik durchaus lohnt, einen Blick auf die Preisunterschiede jenseits der Grenze zu werfen.“ So wie für Andrea und René, ein junges Paar aus Hellersdorf, das sich einmal im Monat bei Maciej oder Kasia mit Zigaretten eindeckt:“Die sind hier um bis zu 50 Prozent billiger als bei uns.“ Vier Stangen (800 Zigaretten) pro Person genehmigt der Zoll, der die Busse allerdings nur selten kontrolliert. Auch Kaffeebohnen packen die beiden Berliner ein, viele Freunde von ihnen machen es ebenso.
Was lohnt sich noch auf dem „Polenmarkt Hohenwutzen“? Tanken: Bei Super und Diesel spart der Autofahrer rund 30 Cent pro Liter, bei Stromern die Hälfte des deutschen Preises. Spezialisten finden Angel- und Jagdzubehör für kleines Geld, Feuerwerkfans Polen-Böller und China-Kracher ganzjährig. Der Rest ist Geschmacks- und Ansichtssache: Obst und Gemüse, Spielzeug, Gartenzwerge, Handy-Hüllen, Klamotten. Eine Mutter kleidet ihre achtjährige Tochter für den Sportunterricht in der Schule ein. Dass T-Shirt und Turnhose, beides für zusammen weniger als 20 Euro, Markennamen tragen, findet sie nicht so wichtig:„Es könnte ja auch Fake sein, Hauptsache, es passt und sieht schön aus.“ Außerdem konnte sie „verhandeln, das gehört dazu“. Die Zeit bis zur Abfahrt des Busses nutzen Mutter und Tochter für einen Imbiss. Im Gasthaus „Der Dicke“ gibt es „Rührei mit Pfifferlingen“ für 5,10 Euro, Schaschlik, Schnitzel und Kartoffelpuffer.
Inoffiziellen Statistiken zufolge zählen die „Polenmärkte“ viele zehntausend Besucher im Jahr. Damit sind sie für einzelne Ortschaften im Nachbarland ein nicht zu unterschätzender Wirtschaftsfaktor. Auf deutscher Seite nimmt Nils Busch-Petersen die Entwicklung einstweilen gelassen. Der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Berlin-Brandenburg gibt zu bedenken: “In Berliner Supermärkten sind in einer Stunde mehrere Busladungen an Kunden unterwegs.“ Er sieht den heimischen Einzelhandel deshalb nicht gefährdet durch die polnische Konkurrenz: “Diese Märkte sind eher eine originelle Bereicherung für die Grenzregionen, das hat ja auch was Uriges.“ Shoppen als Event. Außerdem: Tanktourismus gibt es auch an der deutsch-österreichischen Grenze, die Dänen kaufen in Schleswig-Holstein Alkohol, Rheinländer und Westfalen in Holland Butter und Tulpen.
Tomek Woik (47) kann in dieser vermeintlichen Nische ganz gut leben. Seit 30 Jahren ist der Händler im Geschäft: “Es läuft mal besser, mal schlechter, im Moment ganz gut.“ Eine Seniorin, die den Preis für ein Sixpack Bier drücken will, lässt er lachend wissen: “Ja, wir sind das Rote Kreuz, bei uns gibt es alles umsonst.“ Viele Käufer gehören zu seinen Stammkunden: “Die waren Kinder, als sie das erste Mal kamen, jetzt haben sie selbst welche.“ Sogar aus Hamburg kommt eine Familie: “Wir machen daraus einen Tagesausflug, sind um 6 Uhr los.“ Ansonsten sieht man auf dem Parkplatz lauter Kennzeichen aus Berlin und dem Umland (MOL, OHV, BAR, OPR, UM), ein paar Sachsen und Anhalter. Christian Karbe hat seine Frau, zwei Kinder und die Oma aus dem eine Autostunde entfernten Templin mitgebracht, sie kommen einmal im Monat: “Wegen der Zigaretten.“ Das Programm ist immer dasselbe: “Bummeln, essen, kaufen.“ Ein Besucher aus Bernau hat noch einen Geheimtipp für den nächsten Winter: “Als bei uns letztes Jahr die Hustensäfte und fiebersenkenden Mittel für unsere Kinder ausverkauft waren, hat uns die AOK-Geschäftsstelle empfohlen, es doch mal in Polen zu versuchen.“ Das hat funktioniert und vielen schon verzweifelten Eltern geholfen. Auch beim „Polenmarkt Hohenwutzen“ gibt es inzwischen eine „Apotheke an der Brücke“. Der Medikamentenmarkt im Nachbarland ist weniger reglementiert als der deutsche, erklärt ein Gesundheitsexperte, Generika seien dort reichlich vorhanden. Wie gut, dass die Grenzen in EU-Europa offen sind, in beide Richtungen.
Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht am 23.8.2023 in Südwest Presse