Zeitenwende, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz. Und das Blatt hat sich auch für ihn gewendet. Putins Krieg hat vieles geändert. Putin, der einst gefeierte Redner im Reichstag, hat sich zum Feind der freien Welt gemacht, indem er ihr und der Freiheit den Krieg erklärte und ihn gegen die Ukraine führt. Mit aller Brutalität, die Kriege mit sich bringen. Eine Wende könnte es auch für Scholz werden, der seine Abrechnung mit Putin dazu benutzte, in einer Art Befreiungsschlag Freunde, Gegner und Kritiker von sich und seiner Art der Kanzlerschaft zu überzeugen. Keine Rede mehr von fehlender Präsenz, von lähmender Tatenlosigkeit, mangelndem Elan. Stattdessen der Paukenschlag: 100 Mrd Euro mal eben für die Bundeswehr, zusätzlich in einer Art Sondervermögen, was immer das am Ende und im Detail bedeutet. Da blieb manchem die Luft weg, das zwei-Prozent-Ziel will er notfalls sogar erhöhen. Die Ukraine erhält Waffen. Alles scheint plötzlich kein Problem mehr zu sein. Die SPD hinter der Bundeswehr, na klar, Kosten sind Investitionen in die bessere Ausrüstung, sind keine Aufrüstung, man konnte es von Kevin Kühnert, dem Generalsekretär hören. Der Botschafter der Ukraine ein gefeierter Star, der Tag für Tag vor allem die Zögerlichkeit der SPD heftig kritisiert hatte.
Es war eine Regierungserklärung von Scholz, wirklich eine und das mitten im Angriffskrieg, den der russische Präsident befohlen hatte. Die vorher geschmähte Ampel-Regierung steht, geschlossen wie nie zuvor der vorher belächelte Westen, die Nato wie eine Eins, die EU, ein Bündnis, wie man es sich wünschte. Flüchtlinge aus der Ukraine werden aufgenommen, auch in Polen, natürlich, selbstverständlich auch in Ungarn. Gab es mal was anderes? Früher, wann war das noch?
Sicherheitspolitik ist gefragt
Sicherheitspolitik wird nicht mehr in Frage gestellt, sie wirkt, wobei nur verbal vorgetragen wie aus einem Guss, man kannte das ja nicht mehr. Und dass dies von Scholz meisterlich präsentiert wurde, wie üblich in aller Stille, aber doch messerscharf und klar, von einem Sozialdemokraten, den die Berliner Medien seit Monaten mehr als kritisierten, dem man nicht mal die 100 Tage zum Eingewöhnen lassen wollte, was sage ich 100, sie warteten nicht mal ab bis zu seiner Wahl durch den Bundestag und sprachen schon von Scheitern. Kleiner Einwurf: es sah ja auch nicht so rund aus, was da ablief im Berliner Regierungsapparat, höflich formuliert.
Augenblick mal, damit das nicht vergessen wird, schiebe ich diese Sätze kurz dazwischen: Es wird gern so getan, auch der neue CDU-Chef Friedrich Merz ließ das am Sonntag erkennen abseits seiner Zustimmung zum Scholz-Programm, als wenn die SPD Schuld daran hätte, dass es im Verteidigungsbereich soviele Pannen gegeben hat, dass vieles nicht läuft, marode ist, nicht funktionsfähig. dass Flugzeuge nicht fliegen, Panzer nicht rollen und Gewehre nicht dorthin schießen, wohin gezielt wird, dass es sogar an der passenden, der Jahreszeit angemessenen Unterwäsche fehlen soll, wie ich irgendwo las. Aber war nicht 16 Jahre und etwas mehr Angela Merkel Bundeskanzlerin? Sie ist CDU-Mitglied und sie war bis vor zwei Jahren Vorsitzende der CDU. In ihrer langen Regierungszeit gab es fünf Verteidigungsminister: Jung, CDU, löste den letzten SPD-Chef im Wehr-Ressort, Peter Struck ab, dann kam de Maiziere, CDU, auf ihn folgte von und zu Guttenberg, CSU, ein Blender vor dem Herrn, dann von der Leyen, CDU, heute in Brüssel, und schließlich Annegret Kramp-Karrenbauer, CDU, zwischendurch CDU-Chefin und gehandelt vor Jahr und Tag als Merkel-Nachfolgerin- im Kanzleramt. Schon vergessen? Ich erwähne das nur noch mal zur Klarstellung, weil ich kürzlich einen Kommentar im ZDF-Heute-Journal von Wulf Schmiese hörte, der mal eben die ganze SPD-Malaise aufzählte, gemeint die Putin-Versteher, andere sprechen von Putin-Romantikern. Alles gut und schön, aber Merkel zumindest hätte er erwähnen können, auch Edmund Stoiber, oder Franz-Josef Strauß, wenn man weiter ausholen will.Und dann wird nebenbei gefordert, die Wehrpflicht müsse aktiviert werden. Auch hier, mein Einwand: Es war Merkel, die sie außer Kraft gesetzt hatte.
Der Krieg lässt die Börse erzittern, Kurse wanken, Unsicherheit macht sich breit in weiten Teilen der Wirtschaft, die ihre Tätigkeiten in Russland überdenkt, wenn sie sie nicht schon längst reduziert oder beendet hat.
Ausgesperrt vom Sport
Russland wird vom Sport ausgesperrt, vom Fußball wie vom Eishockey, keine WM mit Russland, kein Europa-Pokal mit russischen Klubs, ein ukrainischer Biathlet meldet sich zum Krieg gegen Russland, der einstige Bundesliga-Profi Andrey Voronin, Assistenz-Trainer bei Dynamo Moskau, hat Russland am Tag des Überfalls verlassen und ist inzwischen in Deutschland. Er nennt Putin einen Verbrecher. Voronin(42), ein Spieler, der 76mal für die Ukraine gekickt hat, würde, wenn er im Land wäre, kämpfen. Der Boxer Klitschko, weltbekannt, harrt in Kiew aus, trotz der nahenden russischen Einheiten, der Einschläge von Bomben und Granaten bleibt er in der Hauptstadt. Wie sein Präsident Selenskyj, der Schauspieler, der zum Helden des Landes gereift ist und nicht weichen will.
Vorgestern habe ich beim Stichwort Zeitenwende auch an Schalke gedacht, weil es mich gefreut hat, dass der hochverschuldete Traditionsklub aus dem Revier sich von Gazprom trennt und damit auf die Millionen verzichtet, die der Klub dringend benötigt. Ein Fußballklub denkt plötzlich nicht mehr nur in Geldscheinen, sondern auch moralisch. Putin, der Kriegstreiber, Gazprom, der Gasriese aus Russland, zu eng die Bindungen vom Diktator zum Konzern, von ihm, von der Firma, nimmt man kein Geld. Da klebt Blut dran. Hut ab! Nein, den Politiker, den wir gestern damit in Zusammenhang brachten, erwähnen wir nicht mehr. Frei nach Brecht: Erst kommt die Kohle, dann die Moral, wenn sie denn kommt.Um bei diesem Politiker zu bleiben, der ja auch nebenbei Fußball-Fan ist: seine Mitarbeiter haben ihn verlassen, ist zu lesen und zu hören. Seine Ehrenmitgliedschaft beim DFB und beim BVB steht auf dem Spiel. Wie sagte jemand: Wenn der nicht aufpasst, jagen sie ihn vom Hof? Auch in seiner SPD mehren sich die Stimmen gegen ihn. Wir können ihn mit XY beschreiben, das passt.
Vom Fußball zur Kultur, ein besserer Übergang fällt mir nicht ein. Anna Netrebko, der kulturbeflissene Leser möge mir verzeihen, dass ich die weltberümte Opernsängerin hier erwähne. Wegen ihrer Nähe zu Putin kommt sie in Bedrängnis, in Mailand soll es Buh-Rufe gegeben haben, nicht wegen ihrer Kunst, ihrer Stimme. Vor einem Jahr hat sie ihren 50. Geburtstag im Kreml gefeiert, lese ich in der SZ. Das hat der deutsche Politiker, dessen Namen ich nicht mehr erwähne und fortan nur noch XY nenne, nicht gemacht. Netrebko hat vor Jahren für Putins Wiederwahl geworben. Sie soll heute, stand da in der Zeitung, in der Hamburger Elbphilharmonie singen, die teuerste Karte für 440,35 Euro. Netrebko, die einen österreichischen Zweitpass hat und in Wien lebt, gibt sich als „Russin“, die ihr Land „liebe“, die Freunde in der Ukraine hat, „der Schmerz und das Leid brechen mir das Herz. Ich möchte, dass dieser Krieg aufhört und die Menschen in Freiheit leben.“ Dafür bete sie, zitiert die SZ die Künstlerin. Ob Putin, der für diesen Krieg verantwortlich ist, sie hört und die Panzer nach Hause befiehlt?
Dirigent wird gefeuert
Nein, das Bomben geht weiter, das Töten, das Zerstören. Es sind grausame Tage, historische, Panzer, Kampfjets, Granaten zerplatzen in Wohnhäusern. Ja, so ist Krieg. Anna Netrebko wehrt sich dagegen, dass Künstler (wie sie füge ich hinzu) gezwungen werden, sich öffentlich politisch zu äußern. Wie der Dirigent Valery Gergiev, Chefdirigent der Münchner Philharmoniker. Ihn hat München OB Dieter Reiter(SPD) entlassen. Reiter hatte von Gergiev, der auch mit Netrebko gearbeitet hat, ein klares Bekenntnis gefordert gegen Russlands Präsidenten Putin und dessen Krieg in der Ukraine. Reiter hatte dem Dirigenten geschrieben und ihm in dem Schreiben ein Ultimatum gestellt, „sich eindeutig und unmissverständlich von dem brutalen Angriffskrieg zu distanzieren, den Putin gegen die Ukraine und nun insbesondere gegen unsere Partnerstadt Kiew führt.“ Die Mailänder Scala hatte zuvor ähnlich entschieden wie andere Opernhäuser. Der Dirigent steht dem Diktator in Moskau nahe, das ist bekannt, ob das ausreicht für einen Rauswurf?
Zeitenwende. Kaum einer will da zurückbleiben. Auch nicht die neutrale Schweiz. Sie hat sich nach einigem Überlegen den Sanktionen des Westens gegen Russland und Putins Freunde und Unterstützer angeschlossen. Die schöne Schweiz, das Land der Berge und Banken, des internationalen Geldes, dessen Ströme man kappen will, um Putins Freunden den Zugang zu verwehren. Ein anderer, hoch umstritten, weil eher ein Freund des Moskauer Autokraten, nämlich der Türke Erdogan, hat die türkischen Meerengen am Bosporus, die Passage durch das Marmara-Meer und die Dardanellen, für alle Kriegsschiffe fremder Staaten gesperrt. Für Russland der einzige Zugang zum Mittelmeer und den Ozeanen der Welt. Die Türkei ist Nato-Mitglied.
Plötzlich wird wieder demonstriert, Hunderttausende sind auf den Straßen und protestieren gegen Putins Überfall auf das Nachbarland, dem man sich eigentlich brüderlich verbunden fühlt. Ich erinnere mich noch an die Riesen-Demos in Bonn gegen den Nato-Doppelbeschluss 1983. Das kleine Bonn war völlig verstopft von den Menschenmassen, die mehr gegen die Politik des Westens wetterten als gegen die nukleare Aufrüstung im Osten. Die Pershing-2-Raketen im Westen sollten verhindert werden, der Westen bot der Sowjetunion an, auf diese Nachrüstung zu verzichten, wenn Mokau seine SS-20-Flugkörper zurückziehe. Auffallend, dass kaum einer noch wegen Corona auf die Straße geht, auch die Corona-Leugner, die in ihrer sprachlichen Verirrung sogar von Corona-Diktatur palaverten, sind nicht mehr zu hören. Vielleicht merken sie jetzt, dank Putin, wo es wirklich eine Diktatur gibt und keine Meinungsfreiheit? Vielleicht merkt der eine oder andere jetzt den Wert der bundesdeutschen Demokratie? Wo man einfach auf die Straße gehen kann und protestieren, ohne dass einem was passiert, ohne dass jemand verhaftet wird, verprügelt? Diese Bundesrepublik mag Schwächen haben, sie mag hier und da ungerecht sein, die wir beseitigen müssen, aber sie ist das beste politische Gebilde, das es jemals gab auf deutschem Boden.
Kernkraft und Kohle
Putins Krieg hat manches verändert. Plötzlich räumen sogar die Grünen ein, dass Kohlekraftwerke länger laufen sollen, wie geplant, dass Atom-Kraftwerke später stillgelegt werden sollten, weil wir uns unabhängig machen müssen von russischem Gas und Öl. So haben es Habeck und Baerbock gesagt, die Reaktion darauf ist eher nüchtern gewesen, kein Triumpfgeschrei der Atom-Lobby. Was nicht heißt, dass wir die Sorgen ums Klima einfach zur Seite legen dürfen, nein. Aber sie werden eine Weile nicht mehr so vordergründig sein wie zuletzt. Sie sind ja auch in den Zeitungen auf die hinteren Seiten verbannt worden. Niemand möchte mehr mit staatsnahen russischen Institutionen von Putins Gnaden Geschäfte machen. Wobei ich einwerfen würde, dass das solange gelten mag, wie Putin Herrscher im Kreml ist, den Dialog mit Russland dürfen wir nicht auf ewig begraben.
Der politische Aschermittwoch, das fällt mir gerade ein, ist auch ein Opfer von Putins Angriffskrieg. Normalerweise beschimpfen sich in weiten Teilen Bayerns an diesem Tag die Politiker der verschiedenen Parteien. Sie sprechen dem Gegner alles Gute ab und vieles Schlechte zu. Ihre Anhänger sitzen dabei vor Krügen, gefüllt mit Bier, prosten sich schon am Vormittag zu, hauen auf den Tisch, rufen: Jawohl. Genauso ist es. Ihre Welt wirkt in Ordnung, sie glauben an sich und die Sprüche ihrer Vorleute. Aber an diesem Aschermittwoch gibts kein Zeltgeschrei nicht, wie es im bayerischen heißt. Statt bayerischer Trachten greift man zu Blauem und Gelbem, kann sein selbst genäht und gehäkelt, geht man zur Mahnwache und tritt für Frieden und Freiheit ein. Und in München versammeln sich die Oberhäupter der Parteien gemeinsam zu einer Kundgebung, um zusammen ngegen den Krieg in der Ukraine zu protestieren.
Bliebe noch ein Wort zu Köln, wo der Rosenmontagszug in einen Protestzug gegen Putin umgewidmet wurde. Nicht zum Lachen, eher zum Nachdenken. Und am heutigen Aschermittwoch wollte Kölns einst beliebter, aber längst umstrittener Erzbischof Kardinal Wölki seinen Dienst wieder antreten und den Gläubigen das Aschermittwoch-Kreuz auf die Stirn malen. Als Zeichen der Demut der Christen. Seine Kritiker haben ihn davon abgebracht, solange der Missbrauchs-Skandal, der die katholische Kirche erfasst hat, weil einige seiner Priester sich kriminell verhalten haben, indem sie sich an Kindern vergingen und die Kirche leider nicht dazu beitrug, diese Verbrechen restlos aufzuklären, sondern den Mantel des Schweigens und Vertuschens darüber zu legen. Man schützte die Täter und hatte nicht viel übrig für die Opfer. Erinnerungen, die nicht verblassen. Aber das hat mit Putin genauso wenig zu tun, wie die Tatsache, dass Ronald Pofalla seinen Vorstandsposten bei der Deutschen Bahn aufgibt. Das nur nebenbei. Spannend ist es dennoch, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass der alte Strippenzieher Pofalla(62), langjähriger Kanzleramtsminister unter Merkel, in der Union bestens vernetzt, Freund vom früheren Kohl-Anwald Stephan Holthoff-Pförtner, sich künftig nur noch um Haus, Hof und Familie kümmert.