Anfang der siebziger Jahre studierte ich in Gießen. Gleichzeitig hatte ich mich als Gasthörer an der Universität Marburg eingeschrieben, um mir die Vorlesungen von Hans Heinz Holz über Hegel und die von Wolfgang Abendroth über den Marxismus anzuhören. Dreimal wöchentlich fuhr ich von Gießen nach Marburg; über die Landstraße; eine Autobahn gab es damals noch nicht. Kurz nach dem Ort Lollar, vorbei an den Buderus-Werken, passierte man den Ort Staufenberg, dessen Kennzeichen die weithin sichtbare Burgruine Staufenberg ist. An diesem Ort verbrachte der Schriftsteller Peter Kurzeck einen Teil seines Lebens und hat diese Zeit in seinen Romanen immer wieder zum Leben erweckt.
Häufig saß ich in dem alten Café am Giessener Seltersweg und habe mir vorgestellt, wie es wäre, Peter Kurzeck hier zu treffen. Er hatte hier oft als Schüler gesessen, während der Zeit, als er das Gymnasium in Gießen besuchte, das ganz in der Nähe lag. Er hat das Café wie folgt beschrieben:
Weil ich in dieser Konditorei jedes Mal eine Weile sitzen muss und sehen, welche Gedanken mir dort kommen und welche schon auf mich gewartet haben. Eine Konditorei wie im Jahr 1958. Plüschmöbel und Wandlämpchen und auf den Tischen Spitzendeckchen unter Glas und auch die Trockenblumengestecke von damals. Genau solche Blumenvasen und Spitzendecken hat damals jedes Kind seiner lieben Mutter jedes Jahr wieder zum Muttertag geschenkt. Und jetzt sind die Kinder groß und längst aus dem Haus. Und die Mütter meistenteils Witwen. Eine gute Rente. Und jeden Tag Obst-, Creme- und Sahnetorten zum Trost. Kaffee Hag, heiße Schokolade mit Sahne oder ein Glas Tee oder Pfefferminztee und ab und zu einen Scharlachberg, ein Likörchen. Wie kleine Silberglöckchen klingeln die Teelöffel und Tortengabeln auf dem Porzellan. Manchmal muss ich auch allein hin, damit ich mir beim Denken besser zuhören kann, damit ich mir alles noch besser merke.
Ganz sicher hätte ihn die Bedienung wie einen alten Bekannten begrüßt; die große, schlanke Frau, die schon ewig hier arbeitet und ihn noch von früher kennt. Er würde sie herzlich begrüßen, sich umschauen und an meinen Tisch kommen. Und schon sprudelt es aus ihm heraus:
Hierher bin ich oft geflüchtet, wenn mich der Unterricht einmal wieder gelangweilt hat. Eines Tages bin ich gar nicht mehr zur Schule gegangen. Ich saß dann hier am Fenster und habe die vorbei gehenden Passanten beobachtet. Auch Skizzen habe ich von ihnen angefertigt. Das hat mir später in meiner Vagabundenzeit, als ich mich im Süden herumtrieb, manches Mal gerettet. Ich habe sie verkauft und konnte davon leben.
Wie sind Sie in diese Gegend gekommen. An ihrem Akzent merke ich, dass Sie nicht von hier sind.
Wir sind als Flüchtlinge nach Staufenberg gekommen. Dort habe ich meine Kindheit und Jugend verbracht. Ja, man kann sagen: Von den Menschen dort habe ich ‚leben gelernt’. Sie haben uns freundlich aufgenommen. Vor allem aber habe ich dort das Lesen gelernt. Als Kind in Staufenberg habe ich mir mit sieben-acht-neun Jahren immer alle Flüchtlingskalender in der Flüchtlingsnachbarschaft ausgeliehen. Keine Wandkalender, sondern Jahrbücher mit Bildern, Geschichten, Brauchtum, Erinnerungen. Schon auf dem Heimweg begann ich, mich auf das Buch zu freuen und ich hoffte, dass es noch nicht zu spät zum Lesen war. Immer lag ein Buch vor mir auf dem Tisch. Und schon als Kind merkte ich mir jedes Wort. Später lieh ich mir die Bücher aus der Bücherei. Mit der Zeit hatte ich sie wohl so ziemlich alle gelesen.
Wann haben Sie selbst mit dem Schreiben begonnen? Sie haben ja später in Ihren Büchern, Ihre untergegangene Kindheitswelt immer wieder auferstehen lassen. Das hat vordergründig etwas Nostalgisches, ja Rückwärtsgewandtes, weil die Vergangenheit bis zu einem gewissen Grad immer auch verklärt wird; sie erscheint dann als ‚heile Welt’ gegenüber einer ins Unübersichtliche, Entfremdete abgleitende Gegenwart, deren Zukunft man sich gar nicht ausmalen mag.
Ich habe im Schreiben eine Art Gegenmacht gegen die’ Furie des Verschwindens’ gesehen. Ich habe mir alles gemerkt und wollte es für mich festhalten. Die Enge der Wohnung, die sich beim Schreiben auf einmal zu weiten schien, wenn nach allen Seiten hin der Abendhimmel sichtbar wurde. Und so oft es ging, träumte ich mich mit den Wolken davon, schaute ihnen wehmütig nach. Mit dem Schreiben wollte ich die Zeit anhalten. ‚Wenn ich schreibe, ist immer jetzt!’, sagte ich mir.
Ihre Texte zeugen von einer außergewöhnlichen Empathiefähigkeit. Sie scheinen sich in alles ‚hineinzuversetzen’. Jedes Individuum, jede Spezies, jede Kreatur erhält gewissermaßen ‚Subjekteigenschaften’ und werden mit eigenen Empfindungen und Gefühlen ausgestattet. Dies spricht neben der Empathiefähigkeit auch für eine ungewöhnlich ausgeprägte Phantasie.
Das mag sein. Ich war als Kind oft allein. Nicht einsam, aber allein. Also musste ich mir meine eigene Welt schaffen; wenn Sie so wollen: meine Phantasiewelt. Ein Vogel im Wald ließ mich aufmerken. Vielleicht fängt er zu singen an und kein anderer Vogel antwortet ihm. Er fängt noch einmal zu singen an und kriegt einen Schreck! Weil es so still ist, weil außer ihm niemand da ist, weil er merkt, dass er ganz allein singt. Als einziger! Hat er sich in der Zeit geirrt? Ist vielleicht die falsche Zeit? Gleich weiß er sein Lied nicht mehr! Ein Vogel im Wald, sage ich mir, der sein Lied nicht mehr weiß! Und hat schon ganz vergessen, was für ein Vogel er ist – ein Pirol, eine Drossel, ein Kleiber? Sitzt da mit seinem Schreck und sein Vogelherz klopft! Ganz leer ist der Wald! Dann fliegt der Vogel weg! Mit seinem Schreck weg. So in etwa reime ich mir das zusammen und schreibe es auf.
Breiten Raum in Ihren Romanen nehmen die Veränderungen im Alltagsleben der Menschen ein. Das gilt sowohl für das Freizeitverhalten, als auch für die Arbeitswelt. Für Zeitgenossen sind das Ereignisse, an die sie sich gewöhnt haben; also nichts ‚Erwähnenswertes’, könnte man meinen. Was hat Sie bewogen, diese Veränderungen derart detailliert zu beschreiben, wie Sie das tun?
Damals, ich spreche etwa von den 60er bis 70er Jahren, hat sich das Konsumangebot und -verhalten der Menschen aufgrund der sich ausbreitenden Supermärkte und Einkaufszentren wie im Zeitraffer verändert. Auch im Dorf zeigte sich das. Der ‚Tante-Emma-Laden’ machte dicht; die Bäckerei gab es bald nicht mehr und der wachsende Wohlstand zeigte sich in Form von Fernsehern, Autos, Waschmaschinen usw. Das heißt: es kam zu erheblichen Eingriffen ins gewohnte Alltagsleben.
Die Menschen nutzen jetzt die Möglichkeit, um in den Supermarkt zum Einkaufen zu fahren; oft auch nur, weil ihre Nachbarn es schon vor ihnen getan haben. Nach und nach werden sie zu Jägern auf Sonderangebote, studieren die Prospekte, vergleichen die Preise. Und das dann jede Woche. Nach Feierabend.
Auch das Fernsehen greift empfindlich in die Gewohnheiten der Menschen ein. Es schafft nicht nur erweiterte Formen der Unterhaltung und Information, es erzeugt auch neue Rhythmen im Alltag. Beispielsweise das allabendliche Zusammentreffen der Familie zum Fernsehen im Wohnzimmer. Dieses Zimmer war vorher praktisch ungenutzt, es war das Sonntagswohnzimmer, das unter der Woche niemand betrat und im Winter unbeheizt blieb. Nun ist es ein täglich genutzter Raum geworden und hat sich zum Fernsehzimmer gewandelt.
Manchmal habe ich mir vorgestellt, ich würde ein Bild von ihnen malen. Wie sie alle dasitzen: Männer Frauen und Kinder. Jung und alt. Ein Bild wie die Kartoffelesser von van Gogh. Aber alle auf den Fernseher schauend. Das gleiche Bild wieder und wieder.
Sie wurden wegen Ihres ungewöhnlichen‚Erinnerungsvermögens’ vom Feuilleton einmal als ‚hessischer Proust’ bezeichnet. Ehrt Sie das?
Nichts liegt mir ferner, als mich mit Marcel Proust zu vergleichen. Proust geht es darum, die ‚verlorene Zeit’ seiner Kindheit noch einmal zu ‚beleben’. Mir geht es darum, meine relativ unbeschwerte Kindheitswelt mit den Veränderungen zu konfrontieren, die seither stattgefunden haben. Diese sind mittlerweile zur Alltagsrealität geworden. Aber es könnte sein, dass sie durch die Konfrontation mit den Erinnerungen an meine Kindheit irgendwann wie eine bizarre Horrorwelt erscheint, in der die Menschen ihre ‚Seinsgewissheiten’ eingebüßt haben.
Würden Sie auch sagen, dass Proust sich auf ganz andere Weise erinnert als Sie? Man hat seine Art der Erinnerung eine ‚unwillkürliche Erinnerung’ genannt. Wenn er sich an ein Ereignis erinnert, so hat er diese Erinnerung nicht bewusst herbeigeführt. Im Gegenteil; diese löst ganz ungewollt eine Kette von Assoziationen aus, durch die er sich oft sehr komplexe soziale Beziehungen, Gefühlslagen usw. wieder in Erinnerung ruft. Damit kommt ein Prozess von ‚Erinnerungsarbeit’ in Gang, der sich immer weiter fort spinnt und eine vergangene Situation, ja eine ganze Lebenswelt erschließt.
Proust sucht nach geheimen Bedeutungen und Sinnzusammenhängen; daher ja auch der Titel seines vielbändigen Romans: er ist buchstäblich ‚auf der Suche nach der verlorenen Zeit’; d.h.: er kann die Ereignisse nicht einfach aus dem Gedächtnis abrufen. Seine Suche hat etwas Mysteriöses, Unheimliches, Angestrengtes, da er nicht weiß, was sie zutage fördert. Es kann Schmerzliches, Leidvolles, Unangenehmes sein; aber eben auch Erfreuliches; der Ausgang seines Suchprozesses ist offen.
So sehe ich das auch. Wenn gesagt wird, Proust habe ein schlechtes Gedächtnis gehabt, meint dies die Unterscheidung von ‚Gedächtnis und Erinnerung’. Das Gedächtnis ruft Details ab, die sich unmittelbar reproduzieren lassen; dazu bedarf es keiner besonderen Anstrengung. Man kann sie geradezu wortgleich immer erneut schildern; das Ganze hat etwas Routiniertes, beliebig Wiederholbares. ‚Ich weiß es noch wie gestern’, sagen dann die Leute.
Erinnerungen dagegen stellen sich immer dann ein, wenn ein Sachverhalt etwas Unabgeschlossenes, noch nicht bewusst Verarbeitetes enthält, das erst noch bewältigt werden muss. Bei Proust heißt es einmal: ‚Diese verworren durcheinanderwirbelnden Erinnerungsbilder hielten jeweils nur ein paar Sekunden an; oft gelang es mir in meiner kurzen Unsicherheit über den Ort, an dem ich mich befand, nicht, die verschiedenen Momente des Ablaufs, aus denen sie bestanden, auseinander zu halten’.
Bei Proust spürt man die Mühe, die es ihn kostet, sich zu erinnern.
Erst allmählich gelingt es ihm, die disparaten Erinnerungsfetzen in eine verständige Ordnung zu bringen; und dieser Prozess ist es, der dann jene schier unendliche Assoziationskette in Gang setzt, die für seinen Roman so typisch ist.
Ihre Art und Weise, sich zu erinnern, unterscheidet sich von der Proustschen Gedächtnisprosa sehr deutlich. Sie scheinen die Ereignisse aus Ihrer Vergangenheit nahezu in jeder Situation präzise abrufen zu können: virtuos und detailgenau. Sie fächern Ihre Erinnerungen gewissermaßen auf und erzählen sie, als würde man sich auf einem Spaziergang durch die Straßen und Wälder Ihrer Kindheit befinden. Dabei entsteht ein ganz bestimmter Rhythmus, den man besonders dann wahrnimmt, wenn man Sie davon erzählen hört; in Ihrem ruhigen, gleichförmigen Erzählton, der die Abfolge der Wahrnehmungen gleichsam mitschwingen lässt.
Mich ehrt zwar der Vergleich mit Proust, aber es gibt doch erhebliche Differenzen zwischen unseren Stilformen. Prousts Texte sind reflexiver; man könnte auch sagen: konstruierter und weisen einen hohen Verdichtungsgrad auf. Man könnte von einer gewissen ‚Indirektheit des Erzählstils’ sprechen. Bei ihm werden die Geschehnisse durch Reflexionen immer wieder unterbrochen oder außer Kraft gesetzt.
Dagegen sind meine Texte schlichter gebaut; sie kommen meist in der Alltagssprache daher – halt so, wie man erzählt, wenn man erzählen kann. Das ist ja eine Kunst, die allmählich verloren geht. Zwar gibt es auch bei mir ‚reflexive Elemente’ – sogar das Nachdenken über das ‚Vergehen der Zeit’, aber diese unterbrechen den ‚Erzählstrom’ nicht. Sie kommen wie nebenbei gesagt daher. In etwa so: ‚Kein Nachsommer. Schon vier Wochen kaum je ein Augenblick Sonne. Früh der Herbst, sagt man sich. Als ob das gleich für das ganze Leben gilt. Man muss sich durch die Jahre jedes Jahr einzeln merken. Wird Zeit’. Zeit wozu, möchte man fragen. Um alles aufzuschreiben, könnte die Antwort lauten.
Man könnte also die jeweiligen ‚Erinnerungsmodi’ von Proust und Ihnen dadurch unterscheiden, dass es sich bei Proust um eine Form der Erinnerungsarbeit handelt, durch die Ereignisse wieder zum Leben erweckt werden. Sie werden gewissermaßen an ihn herangetragen, so als würden sie sich ihm auch gegen seinen Willen aufdrängen.
Dagegen rufen Sie sich die Eindrücke aus Ihrer Kindheit scheinbar mühelos ins Gedächtnis zurück, und da Sie sich an nahezu alle Einzelheiten erinnern, können Sie diese auch in ganz unterschiedlichen Kontexten rekonstruieren, wodurch sie stets in einem neuen Licht erscheinen.
Resümierend könnte man sagen: Proust ist der Suchende auf den Spuren einer Vergangenheit, die er sich erinnernd vergegenwärtigt, wodurch er sich in überaus komplexe Zusammenhänge verstrickt, die immer neue Facetten von Erinnerungen in ihm auslösen. Bei Ihnen gewinnt man den Eindruck, dass Ihnen die Welt Ihrer Kindheit ständig präsent ist. Sie ist Ihnen so nah, als lebten Sie noch in ihr und würden sich wünschen, sie wäre nie vergangen.