Peter Handke hat den Literatur-Nobelpreis 2019 erhalten. Er erhielt den Preis „für ein einflussreiches Werk, das mit sprachlicher Genialität die Peripherie und die Spezifizität der menschlichen Erfahrung untersucht“, so die Begründung der Akademie. „Die besondere Kunst von Peter Handke ist die außergewöhnliche Aufmerksamkeit zu Landschaften und der materiellen Präsenz der Welt”, heißt es weiter.
Ein Beispiel dafür ist sein Romans Der Bildverlust. Während der Lektüre des Romans habe ich mich ständig gefragt, was der Autor mit dem Titel „Bildverlust“ ausdrücken will. Erst gegen Ende des Romans lüftet er das Geheimnis. In einem Gespräch des Autors mit der Hauptdarstellerin des Romans wird der komplexe Sachverhalt, der mit Bildverlust umschrieben wird, sukzessive entfaltet.
In einem Roman, der voller Bilder ist, mutet der Begriff zunächst seltsam deplaziert an. Ständig werden wir mit Bildern konfrontiert. Will Handke uns die Welt noch einmal vorführen – die Welt, in der es noch Bilder gab? Hat er sich deshalb auf die lange Reise mit seiner Protagonistin begeben, in eine noch weithin unerschlossene, fast vergessene Gegend in der Mitte Spaniens, einer Wüsten- und Gebirgsgegend, die noch fast unberührt von den Versuchungen der modernen Zivilisation ist?
Und: was für eine Welt wird das sein, in der es keine Bilder mehr gibt? Oder präziser: In der es zwar weiterhin Bilder geben wird, die aber keine Aussagekraft mehr besitzen – keine Wirkung mehr haben. Oder nein: sie könnten vielleicht weiterwirken. Aber ich bin nicht mehr fähig, sie aufzunehmen und einwirken zu lassen. – Was stattdessen auf mich einwirkt, das sind die gemachten und gelenkten, die von außen gelenkten und nach Belieben lenkbaren Bilder, und deren Wirkung ist eine konträre. – Diese Bilder haben jene Bilder, haben das Bild, haben die Quelle zerstört. Vor allem im noch nicht so lang vergangenen Jahrhundert wurde ein Raubbau an den Bildergründen und –schichten betrieben, welcher zuletzt mörderisch war. Der Naturschatz ist aufgebraucht, und man zappelt als Anhängsel an den gemachten, serienmäßig fabrizierten, künstlichen Bildern, welche die mit dem Bildverlust verlorenen Wirklichkeiten ersetzen, sie vortäuschen und den falschen Eindruck sogar noch steigern wie Drogen.
Dies ist eine der Schlüsselstellen des Romans. Ich interpretiere sie so, dass Handke den Verlust authentischer Erfahrungen, Wahrnehmungen, Gefühle beklagt. „Bilder“ – wie er sie versteht, kommen von „innen“. Sind Resultat der Verarbeitung von Erlebtem, Gesehenem. Genau dieser Prozess, der aus der naiven Anschauung eine bewusste Wahrnehmung, ja Erfahrung macht, geht in der Moderne mit ihrer extremen Reizüberflutung verloren. Dies meint er wohl, wenn er vom „Bildverlust“ spricht: Einen dramatischen, unwiederbringlichen Verlust an authentischer Welterfahrung.
Naturerfahrungen müssen an erster Stelle genannt werden. Erfahrungen von unberührter Natur. Aber wo gibt es diese noch? Die schönen Flecken der Erde sind längst von Touristik-Unternehmen belegt, die uns mit ihren Versprechungen von heiler Natur in die fernsten, noch unberührten Gegenden dieser Welt locken. Und dann die Werbung: sie ersetzt mehr und mehr die Wirklichkeit. Wir leiden ja nicht an fehlenden Bildern, sondern an der Überflutung mit ihnen.
Warum stellt für Handke der Verlust von Bildern so etwas wie eine existentielle Bedrohung dar? Vielleicht deshalb, weil Bilder zu haben, Teilnahme am Leben bedeutet. Verbundenheit mit der Welt. Sie befördern die Einsicht, Teil eines größeren Ganzen zu sein. Ja. Die Bilder, sowie sie sich einstellten, bedeuteten am-Leben-Sein (…) Jene Bilder schienen, in all der Vergänglichkeit (…) das Unverwesliche zu sein. Selbst wenn mir nur eines am Tag dazwischenkam, blitzkurz, sah ich es als Folge und Fortsetzung, und Teil eines Ganzen: die Bilder als die Weltbestandsschleppe, über die ganze Erde streifend und sie, die kleinsten Orte und Winkel, belebend.
Die Gewissheit der Bilder – ihre Wahrhaftigkeit, Authentizität – verhiessen einem das Gefühl von Zusammengehörigkeit. Etwas, dass sonst nur der Glauben vermittelt – freilich nur der von ökumenischem Geist beseelte. Oder auch die Liebe – eine allumfassende, die ganze Menschheit einbeziehende, wie sie etwa in Beethovens Neunter aufscheint.
Genau diese Überzeugung von Zusammengehörigkeit geht – allen Geschwätzes von Globalisierung zum Trotz – in einer Welt des Raubbaus an menschlichen und natürlichen Ressourcen verloren. Die Natur ist nur noch Mittel zum Zweck. Verfügungsmasse. Objekt der Ausbeutung und Nutzanwendung. Nicht mehr Gegenstand der Kontemplation, der Anschauung. Inspirationsquelle. Und insofern ist es nur konsequent, wenn Handke uns darauf hinweist, dass jeder Verlust an Naturerfahrung eben auch einen Bildverlust darstellt.
Was bleibt ist eine Welt der Künstlichkeit, der Schnell-Lebigkeit, der Oberflächlichkeit – alles Erscheinungen, die den Verlust an Bildern beschleunigt haben.
Im Bild erschienen Außen und Innen fusioniert zu etwas Drittem, etwas Größerem und Beständigem. Bilder stellten den Wert der Werte dar. Sie waren unser scheinbar sicherstes Kapital. Der letzte Schatz der Menschheit. Durch Bilder ließen sich Außenwelt und Innenwelt verbinden und festhalten. In diesem Sinne bedeuteten sie Reichtum. Im Bild wurde ich täglich erlöst und geöffnet. Im täglichen Bild wurde ich ein anderer. In den Bildern erschien, was schön und recht war eben, indem es schlicht erschien. Und sie waren auch etwas anderes als die Erinnerungen.
Anders als die immer schon interpretierte Welterfahrung – etwa durch die Wissenschaft oder Religion – stellen Bilder das Unmittelbare schlechthin dar. Das allerdings setzt einen Zugang zur Welt voraus, der noch weithin unentfremdet ist. Weder durch Ideologien verzerrt, noch von äußerem Schein verdeckt. Nach dieser Art unverstellter Naturerfahrung scheint Handke sich zurück zu sehnen. Und er weiß, wovon er spricht, der passionierte Wanderer, der immerzu den Kontakt mit seiner natürlichen Umwelt sucht.
Mit seiner Charakterisierung der Welt als „Bildverlust“ möchte er zumindest an die Utopie einer Welt erinnern, die sich dem Menschen noch als Geheimnis und zu Entdeckendes offenbart. Es ist eine Welt, die noch nicht von Seinsvergessenheit und Entfremdung geprägt ist. Aber gibt es diesen Weg zurück? Wohl eher nicht. Sonst hätte er wohl auch diesen Roman nicht geschrieben. Aber die Erkenntnis des Bildverlustes kann vielleicht dazu führen, dass ein Bewusstsein dieses Verlustes uns möglicherweise sensibler macht für das, was wir verloren haben. Man könnte auch sagen: Wenigstens das unglückliche Bewusstsein (Marcuse) dieses Verlustes sollte auf diese Weise erhalten bleiben – damit nicht alles dem Vergessen anheim fällt. Denn: Der Verlust der Bilder ist der schmerzlichste der Verluste. – Es bedeutet den Weltverlust. Es bedeutet: es gibt keine Anschauung mehr. Es bedeutet: die Wahrnehmung gleitet ab von jeder möglichen Konstellation.
Indem Handke das „unglückliche Bewusstsein“ über den „Weltverlust“ bewahrt, gibt er einer möglichen Quelle des Widerstands und der Empörung Raum. Solange noch der Schmerz über diesen Verlust bewusst wird, ist das verdinglichte Bewusstsein nicht total. Wie es mich an mir selber empört, dass die Bilder, die mir einmal alles waren, so zunichte geworden sind. Die Bewegung eines Baumblatts genügte, und ich spielte mit in der weitesten Welt. Ein Stück blauen Morgenhimmels im blauen Nachthimmel. Ein beleuchteter Zug im Dunkeln. Die Augen der Leute in der Menge, vor allem die Augen! Die Bartstoppeln des zum Tode Verurteilten. Der Schuhberg der Vergasten. Die Distelräder im Wind durch die Savanne rollend. Im Bild habe ich die Welt umarmt, dich, uns. Bilder, Unterstände, dunkle Schutznischen. Nichts ging mir über das Bild. Und jetzt?“
Ja, und jetzt? Jetzt scheint der Zugang zur Welt versperrt. Die Wahrnehmungen gleiten ab. Die von außen kommenden Bilder – fremdbestimmt und künstlich – bleiben ohne Bedeutung. Man kann sie nicht einfach abrufen. Sie werden uns angetragen, aber haben nichts mehr mit unserer Erfahrungs- und Gefühlswelt gemein. Sie überfluten uns, ohne den Weg in unser Inneres zu schaffen. Sie prallen an uns ab.
Aber noch können wir uns des Verlustes bewusst werden. Noch können wir uns der Zeiten erinnern, als sich die Welt über Bilder erschloss. So bleibt am Ende doch noch etwas Hoffnung. Und bestünde diese auch nur darin, die Geschichte vom Bildverlust weiter zu erzählen. Das könnte die Botschaft Handkes sein – vorausgesetzt, er wollte uns tatsächlich eine solche mit auf den Weg geben.
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