Über die Zeitspannen zwischen Rentenbeginn und Tod wird wenig geredet. Es wird über den Zeitpunkt gesprochen, ab dem Rente bezogen werden kann. Und über den Tod redet man. Der soll möglichst würdig sein. Über die Zeit dazwischen heißt es: Frauen und Männer, die eine Rente beziehen, sollen darauf vertrauen können, dass die Rente stabil bleibt. Stabil heißt: ohne Schwankungen und Einbußen am einmal Erreichten. Einige Zahlen:
1956 lag die durchschnittliche Lebenserwartung für die Männer bei 66 Jahren, für die Frauen bei 72. Hart arbeitende Männer mit lang anhaltender Belastung erreichten also eben mal das Rentenalter.
Die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer liegt heute bei knapp 78,5 Jahren und damit vier Jahre unter der der Frauen.
Die Entwicklung hin zu ständig steigender Lebenserwartung ist vor über zehn Jahren, seit 2010 zum Stillstand gekommen (beispielhaft: Die unsichere Lebenserwartung, FAZ vom 2.September, Seite 25). Die 60 Jahre lange Phase der Lebenszeitverlängerung ist 2010 zu Ende gegangen. Wann die durchschnittliche Lebenserwartung wieder steigt, weiß heute niemand.
Knapp 40 Prozent der Frauen und Männer erreichen freilich lediglich das 70. Lebensjahr. 16 Prozent sterben vor dem 65.Lebensjahr, 23 Prozent zwischen dem 65. und dem 70. Lebensjahr.
60 Prozent werden älter als 70 Jahre.
Wer im Frühherbst 1956 geboren wurde, kann in diesem Herbst „regulär“ in Rente gehen, also mit 65 Jahren plus zehn Monaten.
In diesen dürren Zahlen steckt ein ungeheurer Fortschritt, Fortschritt durch Medizin, durch Arbeitsrecht, Tarifrecht, durch sozialen Reformismus.
Gesagt wird nun, dass die Rentenversicherung, sofern sie weiter so wachse wie bisher, unfinanzierbar werde. Was das genau bedeutet, sagt man nicht. Denn die Renten werden immer gezahlt, auch dann, wenn anderes reduziert oder gar eingestellt werden muss.
Der deutsche Staat garantiert die Rentenzahlung. Für schlechte Zeiten der Rentenversicherung gestattet der Gesetzgeber den Rückgriff auf das Vermögen der Bundesbank. Andere Zweige der Sozialversicherung können das nicht.
Was wären extrem schlechte Zeiten? Hohe und steigende Arbeitslosigkeit, Export und Firmen brechen zusammen, keine Rücklage, stark abnehmendes Beitragsaufkommen, kein Geld für Steuer-Zuschüsse. Sie können sicher sein, liebe Leserin, lieber Leser: Wenn das eintritt, haben andere längst aufgegeben, ihre Aktien wären kaum noch etwas wert, ihre Mieter könnten ihre Miete nicht mehr bezahlen und mit ihren Staatspapieren könnten sie die Wände tapezieren.
Fachleute fordern nun seit geraumer Zeit, dass der Beginn der Rentenzeit in den anstehenden Jahren vom vollendeten 67. Lebensjahr auf das 70. Lebensjahr hinausgeschoben wird. Sie sagen, weil das Durchschnittsalter weiter steige, die Rentenzeit sich verlängere, müsse die Lebensarbeitszeit ebenfalls verlängert werden, damit die jüngeren, beitragszahlenden Beschäftigten nicht überfordert würden.
Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit von 65 auf 67 Jahre war eine Reaktion auf diese 60 Jahre lange Phase, die wie erwähnt gestoppt ist.
Der zweite Grund für die Forderung nach der Rente ab 70 sind die Babyboomer- Jahrgänge. Die kommen ins Rentenalter.
Die Antwort darauf ist nicht die Rente ab 70. Es gibt andere Mittel. Vor 20 Jahren haben Walter Riester und dann Ulla Schmidt – die vom Herbst 2002 bis Herbst 2005 auch für die Alterssicherung zuständig war – begonnen, die Rentenanpassungen zu regulieren. Gehen in einem Jahrgang besonders viele Frauen und Männer „in Rente“, werden die Anpassungen abgesenkt. Die Rente steigt zwar noch, aber nicht so stark wie es möglich wäre. In dieser Differenz stecken die Sicherungsbeiträge der „Boomer“.
Der Streitpunkt hier ist, ob die Renten Jahr für Jahr in „der Schrittlänge“ der Löhne und Gehälter erhöht werden sollen; oder ob sie geringere Erhöhungsraten aufweisen können, wie dies die Gesetzgebung möglich macht. Der „Marker“ ist hier das Rentenniveau, das den durchschnittlichen Abstand zum Durchschnittseinkommen angibt. Riester hat damals sein nicht obligatorisches Rentenkonzept hinzugefügt. Dadurch sollte die gesetzlich vorgeschriebene Rente nicht ersetzt werden, sondern es sollten die oben genannten „Sicherungsbeiträge“ vor allem der „Boomer“ ausgeglichen werden. Bis auf den heutigen wollen manche dies nicht verstanden haben.
Das üble Gerede darüber, dass „uns die Alten auffressen“ ist insgesamt jedenfalls leiser geworden. Das liegt auch daran, dass viel mehr Frauen und Männer jenseits des 60sten Lebensjahres arbeiten. Waren es 2000 knapp 20 Prozent, sind das heute gut 52 Prozent. Nur in Schweden sind es mit 66 Prozent mehr.
Die Lebenserwartung der Frauen und Männer mit hoch belastenden und anstrengenden Berufen liegt noch einmal vier Jahre unter der durchschnittlichen Lebenserwartung beider Geschlechter. Wer hart arbeiten musste, stirbt statistisch vier Jahre früher, verliert also fünf Prozent der durchschnittlichen Lebenserwartung. Ralf Kapschack hat kürzlich im Blog der Republik darauf aufmerksam gemacht.
Diese Tatsache wird oft geflissentlich übersehen. Keine Lösung in Sicht, heißt es.
Das Problem laut Berichterstattung des Deutschlandfunks: „65-jährige Beamte könnten damit rechnen, noch 21,5 Jahre zu leben. Gleichaltrige Angestellte und Selbstständige dürften im Schnitt nur auf 19 weitere Jahre hoffen, bei Arbeitern seien es lediglich 15,9, so die Studie. Bei den Frauen fallen die Unterschiede zwischen diesen Berufsgruppen ähnlich aus. Beamtinnen leben im Schnitt drei Jahre länger als Arbeiterinnen.“
Es wäre falsch, nach Veröffentlichung der Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung im Auftrag des VdK rasch zur Tagesordnung über zu gehen – und in diesem Zusammenhang ist es völlig falsch, eine Ausweitung der Lebensarbeitszeit über 67 Jahre hinaus anzusteuern.
Was also ließe sich tun?
An erster Stelle sollte vor Rentenbeginn eine sehr gründliche Untersuchung der Gesundheitssituation von Beschäftigten besonders belastender Arbeit und Berufe stehen. Im Regelfall lassen sich schon Aussagen über die Lebensperspektive treffen. Im Übrigen haben viele der in Frage kommenden Frauen und Männer aufschlussreiche Krankengeschichten hinter sich. Die Arbeitsmedizin weiß heute recht gut Bescheid über kontinuierliche hohe Belastungen und deren Auswirkungen.
Dann könnte die Rentengesetzgebung so gestaltet werden, dass die betroffenen Frauen und Männer während der ersten 15 Jahre ihres Rentenbezugs ( diese Zahl ist hier nicht weiter abgeleitet, sondern sie ist als Beispiel genannt) eine höhere jährliche Erhöhung ihrer Renten erhalten als diejenigen, die weniger belastende Berufe ausgeübt haben. Das ist kein Ersatz für später wegfallende Lebenszeit aber ein Stück Gerechtigkeit; und Gegenleistung für harte Jahre in der Pflege oder am Bau, die der Mensch mit Home- Office so nicht hatte.
Eine Lösung ist hier überfällig.
Rentensysteme aller Art werden – ob Umlage-, Beitrags- oder Kapitalrendite finanziert, alle aus den fortlaufenden Wirtschaftsperioden finanziert. Das ist unaufhebbar.
Unter sehr günstigen Umständen kann sich ein Staat für sein System einen „Bypass“ legen, wie etwa Norwegen, das einen Staatsfonds mit den Erträgen der Ölförderung vor der Küste fütterte. Aber mittlerweile hat sich die Geschichte ausgedehnt. Der Staatsfonds wird nicht mehr nur aus der Ölförderung finanziert, sondern über die Beteiligung an Immobilienunternehmen durch die Mieten auf Berliner Wohnungen. Wie gesagt: schier unaufhebbar. Über die Zukunft der Rentenversicherung sollte in den kommenden Jahren sehr gründlich nachgedacht werden – im Sinne einer Ergänzung des Systems durch eine „Riester“-Erweiterung. Dies sollte nicht als etwas „Exklusives“ begriffen werden, sondern als Einlösen der alten Forderung nach einer breiten Beteiligung der Beschäftigten am zuwachsenden Produktiv-und Finanzvermögen. Wir haben diese alte Idee zu lange in den Akten der Sozialgeschichte schlafen lassen.