Das Regierungsviertel glich einer Festung. Hunderte von Bereitschaftspolizisten sicherten den Bundestag durch Absperrgitter und Wasserwerfer – die Angst vor Ausschreitungen war groß. Denn seit Monaten hatten in vielen Universitätsstädten wütende Studenten gegen die geplanten Notstandsgesetze protestiert. Gemeinsam mit mehreren Einzelgewerkschaften hatte die APO am 11. Mai 1968 zu einem Sternmarsch nach Bonn aufgerufen. 60 000 Teilnehmer demonstrierten bei der Abschlusskundgebung auf der Bonner Hofgartenwiese gegen das Gesetzesvorhaben der Großen Koalition. Als Hauptredner wetterte Heinrich Böll, die Planungen der Regierung stünden „für eine fast totale Mobilmachung“.
Der Kölner Schriftsteller hatte aber wenig Hoffnung, dass die dritte Lesung und die Abstimmung an jenem 30. Mai von den Protesten beeindruckt würden. „Die Gesetze sind durch“, schrieb er resigniert an den SPD-Vorsitzenden Willy Brandt und warnte: „Die wirklich beunruhigende Hast, mit der nun nach der dritten Lesung geschrien wird, wird auch harmlosere politische Gemüter nachdenklich stimmen.“
Böll hatte mit seiner Einschätzung recht. Die Abgeordneten der Großen Koalition stimmten mehrheitlich jenem Gesetzespaket zu, das im Falle eines inneren oder äußeren Notstands mit beträchtlichen Einschränkungen im privaten, aber auch im öffentlichen Bereich verbunden war. Ein Jahrzehnt war über das Vorhaben gestritten worden. Gegen den Ansatz der Union, im Notstand müsse alle Macht von der Exekutive ausgehen, stemmte sich die SPD vehement. Im Parlament war es ab 1966 vor allem das Verdienst der Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel (CDU/CSU) und Helmut Schmidt, dass sie das Primat des Parlaments in solchen Krisensituationen durchsetzten.
Doch das Ja zu den Gesetzen barg erhebliche innerparteiliche Risiken. Große Teile der Basis, ohnehin über das Regierungsbündnis mit der Union erzürnt, hatten ähnliche Bedenken wie die Schriftsteller Böll und Günter Grass oder die protestierenden Studenten und Gewerkschafter.
Für Willy Brandt, den Vizekanzler und Außenminister dieses ungeliebten Bündnisses keine leichte Aufgabe, in der Debatte, die Gesetze zu vertreten und gleichzeitig Bedenken der innerparteilichen Gegner aufzugreifen und zu minimieren. Für ihn unabdingbar: der Notfall dürfe nicht die „Stunde der Exekutive“ sein, sondern „er muss die Stunde des Parlaments und der mündigen Bürger sein“.
Ironisch wandte er sich gegen die These, das Parlament werde sich mit den Gesetzen selbst abschaffen: „Manche Stimmen… wollen den Eindruck erwecken, hier habe sich eine Gesellschaft von lauter Bösewichten mit finsteren Absichten zusammengefunden: eine Regierung, die darauf aus ist, ihre Macht zu verewigen, die Grundrechte der Staatsbürger abzuschaffen, einen neuen Krieg vorzubereiten, und ein Parlament, das nichts lieber täte, als sich selbst zu entmannen. Diese absurde Vorstellung nährt eine ganze propagandistische Kampagne.“
Brandt verteidigte die Gesetze auch mit dem Hinweis, es sei Aufgabe eines „Hausvaters“ für den Notfall vorzusorgen und stellte klar: „Die Feuerwehr für ein mögliches Feuer verantwortlich zu machen, ist widersinnig. In staatlichen Maßnahmen, die für den Notfall Vorsorge treffen wollen, ein Mittel und den Weg zu sehen, der das Verhängnis herbei zwingt, ist nicht minder abwegig.“
Gleichzeitig versicherte er: „Wer einmal mit dem Notstand spielen sollte, um die Freiheit einzuschränken, wird meine Freunde und mich auf den Barrikaden zur Verteidigung der Demokratie finden, und dies ist ganz wörtlich gemeint.“
Für die ernsthaft und nicht propagandistisch gemeinten Proteste zeigte der SPD-Vorsitzende Verständnis. Er gehöre zu denen, „die meinen, dass wir uns fragen müssen, was in unserem Staat nicht stimmt, noch nicht stimmt, wenn zuweilen ganze Gruppen von tiefem Misstrauen erfüllt sind, wenn man dem Wort des anderen nicht mehr glaubt, wenn alle allen alles oder viele vielen vieles zutrauen“.
Es sei die „Last der Geschichte“, die eine Ursache für dieses Misstrauen sei. Aber nicht nur: „Wir sollten auch nicht die Frage überhören – sie anderen und uns stellen – , ob in den zurückliegenden Jahren die Grundsätze der Machtkontrolle und der Wahrhaftigkeit in staatlichen Angelegenheit hoch genug gehalten worden sind, um Schule zu machen.“
Eine Breitseite gegen die seit 1949 regierende CDU, insbesondere wohl gegen die langen Adenauer-Jahre. Wer weiter im Protokoll liest erkennt, dass Brandt schon aus der Großen Koalition heraus seinen berühmt gewordenen Satz – „Mehr Demokratie wagen“ – intonierte, den er später als Motto über seine Kanzlerschaft stellte. Das „größte Risiko“ für die Demokratie sei, „dass im entscheidenden Moment Demokraten da sein müssen, die Verantwortung tragen“.
Eine Rede, die weit über das Parlament hinaus als bedeutend wahrgenommen wurde. Notstandsskeptiker Böll jedenfalls schrieb Brandt danach: „Ihre Garantie ist das einzige, was mich nach der Verabschiedung der Notstandsgesetze noch tröstet.“ Aus seinem Vertrauen zu dem SPD-Vorsitzenden und der Bewunderung für den späteren Kanzler hat der Schriftsteller nie einen Hehl gemacht. Sie wurden Freunde, die beide in Politik und Literatur für „Mehr Demokratie“ stritten.
Erstveröffentlichung in www.vorwaerts.de
Bildquelle: Wikipedia, Bundesarchiv, B 145 Bild-F066928-0012 / Wegmann, Ludwig / CC-BY-SA 3.0