Die Szene ist bizarr. Kaum hat Bundestagspräsident Wolfgang Thierse unter dem Beifall der Koalitionsfraktionen SPD und Grüne das Ergebnis der namentlichen Abstimmung verlesen, eilt eine Frau, einen Schal in den Farben des Regenbogens um den Hals, aus den hinteren Reihen des Plenums nach vorn auf Bundeskanzler Gerhard Schröder zu. Sie gibt ihm hastig die Hand und gratuliert. „Ich freue mich, dass Ihr weiter regieren könnt.“ Perplex umarmt Schröder die Abgeordnete für den Bruchteil einer Sekunde und wendet sich dann ab.
Verwundert verfolgt der SPD-Fraktionsvorsitzende Peter Struck aus der ersten Reihe des Plenums die Szene. Ausgerechnet Christa Lörcher, Abgeordnete aus Villingen-Schwenningen als erste Gratulantin. Und Schröder umarmt sie auch noch.
Bis einen Tag vor dieser Debatte am 16. November 2001, in der der Kanzler wegen des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr die Vertrauensfrage stellte, gehörte Lörcher der SPD-Fraktion an. Seit 1993 war die Sozialdemokratin über die baden-württembergische Landesliste im Bundestag. Eine Rebellin war sie nicht. Unauffällig und effektiv arbeitete sie im Ausschuss für Familie, Senioren und Jugend, war stellvertretendes Mitglied im außenpolitischen Ausschuss und gehörte dem Europarat an.
Keine Frau, die sich für den großen Auftritt inszenierte. Jetzt aber wagt sie ihn. Lörcher wollte als überzeugte Pazifistin die Entscheidung der Bundesregierung nicht mittragen, bis zu 3900 Bundeswehrsoldaten zum Kampf gegen Al Quida und die Taliban in Afghanistan in der internationalen „Operation Enduring Freedom“ bereit zu halten und notfalls zu entsenden.
Nach dem Anschlag von 9/11 auf die Twin Towers in New York hatte Bundeskanzler Schröder den USA „uneingeschränkte Solidarität“ zugesagt, die Nato hatte erstmals in ihrer Geschichte den Bündnisfall ausgerufen. Für die Bundesregierung war klar, dass sie sich einer Unterstützung in diesem Kampf nicht entziehen könne.
Der Widerstand in den Fraktionen von SPD und Grünen waren groß. 20 Abgeordnete der SPD signalisierten eine Woche vor der Abstimmung, eher nicht zuzustimmen, acht Abgeordnete der Grünen legten sich strikt auf ein Nein fest.
„Die Wasserstandsmeldungen wurden von Tag zu Tag beunruhigender“, schrieb Peter Struck in seinen Memoiren. „ Eine eigene Mehrheit für den Kampf gegen den Terrorismus schien in immer größere Ferne zu rücken. Der Zustand wurde zunehmend dramatischer, weil sich viele der Zweifler in ihren Wahlkreisen bereits festgelegt und der Basis versprochen hatten, einem entsprechenden Bundeswehreinsatz nicht zuzustimmen.“
In dieser Situation entschloss sich Schröder, die Entscheidung mit der Vertrauensfrage zu verbinden. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik wurde die Vertrauensfrage an eine Sachfrage gekoppelt. Die Medien werteten den Entschluss des Kanzlers auch als einen Hieb gegen den Fraktionschef, der die Aufständischen offensichtlich nicht zur Raison bringen konnte.
Für Struck begannen zermürbende, nicht immer freundliche Einzelgespräche. Endlich, einen Tag vor der Abstimmung, konnte er Schröder melden, er habe die Fraktion bis auf eine Stimme hinter dem Antrag versammelt.
Christa Lörcher aber wollte sich nicht beugen. Sie schrieb an die Fraktion. „Ich wünsche mir, dass Pazifismus in der SPD … immer noch einen Platz hat.“ Und weiter, sie wolle ihre Arbeit bis zum Ende der Legislaturperiode fortsetzen: „Wenn dies nicht innerhalb unserer SPD-Fraktion möglich ist, dann – das würde ich sehr bedauern – außerhalb unserer Fraktion.“
Die Version von Struck liest sich ein wenig anders: „Sie hatte ihrem Gewissen nicht nachgeben können, war aber aus der SPD-Fraktion ausgetreten, um als Abgeordnete nicht gegen den eigenen Kanzler stimmen zu müssen.“
Die Widerständler in der Grünen-Fraktion einigten sich darauf, die Nein-Stimmen von ursprünglich acht auf vier zu reduzieren, um die Kanzlerschaft nicht zu gefährden. Damit reichten an jenem 16. November die 336 Stimmen der Koalition, zwei mehr als notwendig, um Kanzler und Rot-Grün zu retten.
Für immer in Erinnerung: Christa Lörcher, die Frau mit dem Friedensschal, im Arm des Kanzlers, dem sie die Stimme versagte. Trotz ihrem Austritt aus der Fraktion blieb sie Sozialdemokratin und wurde 2022 für ihr soziales und friedensbewegtes Engagement von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt.
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