Es ist eine Mammutdebatte, eine der längsten in der Geschichte des Bundestages. 16 Stunden streitet das Parlament an jenem Freitag, dem 6. und Samstag, dem 7. Juli 1956 über die Zukunft der Bundeswehr. Wehrpflicht oder Freiwilligenarmee? Die Fronten haben sich plötzlich verhärtet. In einer Frage, die eigentlich schon geklärt schien. Im Vorfeld der Entscheidung hatte Fritz Erler, der verteidigungs- und sicherheitspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, eher um Detailfragen gestritten. Ihm schien das vorgesehene Eintrittsalter für Wehrpflichtige in die Armee mit 18 Jahren zu niedrig.
Dass die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik keinesfalls in einer Freiwilligenarmee geschehen dürfte, war für Erler ausgemacht. In den „Gewerkschaftlichen Monatsheften“ schrieb er Monate vor der Entscheidung: „ Es ist in Deutschland erwogen worden, ob man nicht Streitkräfte nur aus Freiwilligen aufstellen soll. Eine solche Lösung schiene mir außerordentlich gefährlich zu sein… Wenn in einem Staat schon Waffen verteilt werden, sollte man sie nicht nur denen geben, die danach drängen. Die Gefahr eines Missbrauchs der bewaffneten Macht, auch für innenpolitische Zwecke, ist kleiner, wenn die Streitkräfte einen wirklichen Querschnitt durch die ganze Nation darstellen.“
Jetzt in der Debatte, hört sich das bei dem Mann, der nicht nur national, sondern auch in der Parlamentarischen Versammlung der Westeuropäischen Union als Sicherheitspolitiker Gewicht hat, ganz anders an. „Unser Volk“, so argumentiert der rhetorisch begabte Erler, „lebt in einer tiefen Tragik. Zwei Armeen werden in beiden Teilen Deutschlands aufgestellt. Das ist schlimm genug. Noch schlimmer ist es, dass diese beiden Armeen eingeschmolzen werden in feindlich einander gegenüberstehende Militärblöcke, und noch schlimmer ist es, wenn durch unser Zutun dafür gesorgt wird, dass es sich bei diesen Armeen dann auch noch um Wehrpflichtarmeen handelt!“
Den wichtigsten Grund für den sozialdemokratischen Sinneswandel hat die Synode der Evangelischen Kirche geliefert, der sich Erler durch sein Engagement in deren baden-württembergischen Akademie verpflichtet fühlt. Es greift in seiner Rede deren Befürchtungen auf und formuliert: „Es sind Bedenken gegen die Einführung der Wehrpflicht in der Bundesrepublik wegen der Folgen, die für die Spaltung unseres Landes und für das Leben unserer Brüder in der sowjetischen Besatzungszone damit verbunden sind, und Bedenken – das ist selbstverständlich das andere Bild der Sache – bei den Machthabern in der sowjetischen Besatzungszone gegen den Druck vortragen lässt, der drüben ausgeübt wird, um junge Menschen in die kommunistische Armee hineinzupressen.“
Erler und die SPD teilen die Sorge, dass mit der Einführung der Wehrpflicht in der Bundesrepublik eine Einführung auch in der Besatzungszone unausweichlich sei und immer mehr junge Menschen von drüben zur Übersiedlung animieren würde. Das führe zu einer „Entleerung der Sowjetzone gerade von den Menschen, die innerlich das Regime so ablehnen, dass sie unter gar keinen Umständen bereit wären, auch auf Grund eines Gesetzes drüben Wehrdienst zu leisten“ „Das Problem“, so Erler weiter, „ wie viel an innerem Widerstandswillen geht uns dadurch in der sowjetischen Besatzungszone verloren“.
Ein weiteres Indiz gegen die Wehrpflicht, die am Ende eine Truppenstärke von 500 000 Mann anpeilt, sieht er in der veränderten weltpolitischen Lage in der Nach-Stalin-Ära. Es sei eine „Überalterung der Vorstellungen“, dass deren Einführung noch notwendig sei. In diesem Denken würde die Bundesrepublik „nicht der letzte Soldat, sondern nur der letzte standhafte Zinnsoldat des Kalten Krieges werden“. Und schließlich: „Die Argumente des Kalten Krieges gelten heute nicht mehr: der Kreuzzug findet nicht statt.“ Ein Irrtum, wie die Geschichte zeigen sollte.
Die SPD, die 1956 die Wehrpflicht gegen die Mehrheit der Regierungskoalition ablehnte, korrigierte ihre Haltung in den nächsten Jahren, zumal mit der Berlin-Krise und dem Mauerbau die Spannungen zwischen NATO und Warschauer Pakt zunahmen. Deshalb wurde 1962 die ursprünglich auf 12 Monate festgelegte Wehrdienstzeit im Bundestag in einer Abstimmung, bei der die Fraktionsdisziplin aufgehoben war, auf 18 Monate verlängert.
Ein interessantes Detail der Debatte von 1956: Sie ist eine der Geburtsstunden, in denen sich der junge Abgeordnete „Schmidt, Hamburg“ wegen seiner rhetorischen Schärfe, den Beinamen „Schmidt, Schnauze“ erarbeitete. Weil die CDU alle Wehrpflichtigen noch Jahrzehnte nach der Entlassung aus der Armee zu alljährlichen „Wehrversammlungen“ zwingen wollte, konterte er: Das ist ein Erbe und hat seit 1936 hauptsächlich der „Infiltration nationalsozialistischer Ideologie gedient“. Sarkastisch fragte er nachweislich des Protokolls unter „großer Heiterkeit in der SPD-Fraktion“ nach: „Warum will die Christlich Deutschnationale Union an dieser Bestimmung festhalten?“ Es folgte ein Ordnungsruf, für den sich Schmidt beim Präsidenten bedankte und wiederholte: „Ich stelle die Frage an die CDU-Fraktion, warum sie an dieser komischen Bestimmung festhalten will.“
Erstveröffentlichung in www.vorwaerts.de
Bildquelle: Frank Hall – U.S. DefenseImagery photo VIRIN: DA-SN-85-11301, Gemeinfrei,