Es hatte sich viel aufgestaut bei Herbert Wehner. Die Intervalle, in denen er die Redner der Opposition mit spitzen Zwischenrufen angiftete, wurden immer kürzer. Selbst im nüchternen Bundestagsprotokoll zeichnet es sich noch vier Jahrzehnte später ab, dass ein emotionaler Vulkanausbruch bei dem SPD-Fraktionsvorsitzenden bevorstand.
Die Debatte zur inneren Sicherheit an diesem 13. März 1975 war ohnehin hitzig. Regierungsparteien und CDU/CSU-Opposition hatten ihre rednerische Prominenz aufgefahren, um die Meinungshoheit in dieser heiklen sicherheitspolitischen Lage für sich zu gewinnen. Die Republik war im Ausnahmezustand. Terroristen der Rote-Armee-Fraktion hatten den Berliner CDU-Landesvorsitzenden Peter Lorenz entführt und im Austausch die Freilassung von sechs inhaftierten RAF-Gefangenen erzwungen.
Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte sich nur widerwillig diesem Deal, den vor allem der CDU-Vorsitzende Helmut Kohl und seine Partei für den Berliner Christdemokraten forderten, gebeugt. Letztlich hatte Schmidt, dessen Widerstandskräfte durch eine schwere fiebrige Grippe geschwächt waren, diesen Forderungen der RAF und dem Drängen der Opposition nachgegeben. Wie zuwider es ihm war, dass sich der Staat auf die Erpressung der Terroristen einließ, machten er und seine Frau Loki klar, als sie unmittelbar nach dem „Fall Lorenz“ testamentarisch festlegten, dass sie niemals als Geiseln von Terroristen befreit werden wollten.
Da sich die Redner der Union der Fragwürdigkeit dieser Entscheidung bewusst waren, setzten sie alles daran, SPD und FDP vorzuwerfen, in ihren Reihen heimliche Sympathisanten des Terrors zu decken. Umgekehrt holten die Regierungsparteien weit aus, um jeden Zweifel an Sympathien für antidemokratische und terroristische Umtriebe zu vertreiben.
Als der SPD-Vorsitzende Willy Brandt als Beleg für den sozialdemokratischen Kampf gegen Demokratiefeindlichkeit die legendäre Rede des SPD-Vorsitzenden Otto Wels gegen das Ermächtigungsgesetz Hitlers 1933 anführte, wurde ein Zwischenruf aus den Reihen der Union sehr persönlich: „Wo war denn Wehner damals?“
Als Zwischenrufer hatte der SPD-Fraktionsvorsitzende den CSU-Vorsitzenden Franz-Josef Strauß ausgemacht. Und den nahm sich Wehner gnadenlos vor, als er zu später Stunde in die Debatte eingriff. Er beschimpfte Strauß, weil der in den Regierungsfraktionen „einen ganzen Haufen von Baader-Meinhof-Verbrechersympathisanten“ sehe. Strauß komme es nicht darauf an, „dass Terroristen lahmgelegt und unschädlich gemacht werden, sondern so vieldeutig wie möglich die Tatsache, dass es solche Terroristen gibt, dazu ausnützen, Dunstkreise zu beschreiben und möglichst viele als in diesem Dunstkreis befindlich zu verdächtigen.“ Und, einmal in Fahrt, setzte er noch einen drauf: „Das ist alles, was sie im Kampf gegen den Terrorismus interessiert. Denn Sie sind selbst geistig Terrorist.“
Ein Eklat. Der größte Teil der Unionsfraktion verließ den Saal. Wehner donnerte ihnen hinterher: „Wer herausgeht, muss auch wieder hineinkommen.“ Ein Zitat, das bis heute legendär ist.
Historisch wurde die Debatte für Wehner auch aus einem anderen Grund. Nach sechzehn Jahren im Parlament ging er, von dem Zwischenrufer Strauß provoziert, erstmals ausführlich auf seine kommunistische Vergangenheit ein. Jeder wisse: „Natürlich stand ich damals nicht neben Otto Wels.“ Und weiter: „Jeder weiß – denn ich habe es zum Unterschied von anderen nie geleugnet – , dass ich Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands – der richtigen Kommunistischen Partei Deutschlands, nicht irgendeiner nachgemachten von heute – gewesen bin und dass ich vom ersten Tag an, an dem die anderen mit ihren Fackeln aufmarschierten – das war mein Auftrag damals –, die Überführung des organisatorischen Teils des zentralen Komitees in die Illegalität zu verantworten hatte. Das habe ich gemacht. Ich war steckbrieflich gesucht und verfolgt.“ Nein, er habe nicht neben Wels gestanden, für den er aber schon damals großen Respekt gehabt habe, „obwohl ich einer anderen Partei angehörte“.
Damals sei er gejagt worden. Und jetzt? „Ich weiß genau, ich hätte mich nie – und das war ja auch mein Wille – in einen Bundestag wählen lassen sollen.“ Kürzlich habe ja jener „Ehrenmann“ Strauß gesagt, „einer wie ich gehöre zu denen, die niemals legitimer Weise in einem demokratisch gewählten Parlament sein dürften.“ Diese „Unverschämtheit“, fügte er bitter an, sei nicht gerügt worden. Wohl deshalb, weil es ja stimme: „Wer einmal Kommunist war, den verfolgt ihre gesittete Gesellschaft bis zum Lebensende, und wenn es geht, läßt sie ihn auch noch durch Terroristen umbringen.“
Dann erinnerte er daran, dass er schon 1949 den SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher davor gewarnt habe, ihn in den Bundestag zu schicken. Die Gegner „würden ihm die Haut vom lebendigen Leibe abziehen“, habe er prophezeit. Aber Schumacher habe erwidert: „Und Du bist einer, der das aushält, Du musst hier sein.“
Trotzig beendete er den Blick in sein Innenleben mit der Bemerkung: „Ich halte noch einen Teil aus.“ Denn er habe n seinem langen „wechselvollen Leben“ schon viele „Prügel“ einstecken müssen.
Erstveröffentlichung in www.vorwaerts.de
Bildquelle: Bundesarchiv, Bild 175-Z02-00866 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE, via Wikimedia Commons