Gerade noch haben wir der wenigen Widerstandskämpfer gegen Hitler gedacht und stellvertretend Dietrich Bonhoeffer erwähnt und Johann Georg Elser, die in den letzten Kriegstagen von den Nazis hingerichtet wurden, beide am 9. April 1945, der Schreiner Elser im KZ Dachau und der Theologe Bonhoeffer im KZ Flossenbürg. Am 11.April 1945, vor genau 80 Jahren, wurde das KZ Buchenwald in der Nähe von Weimar durch die Amerikaner befreit. Dort waren 277800 Menschen aus 50 Ländern inhaftiert, 56000 wurden ermordet, darunter 15000 Sowjetbürger, 7000 Polen, 6000 Ungarn und 3000 Franzosen. Und am selben Tag lese ich einen Artikel von Willi Winkler in der „Süddeutschen Zeitung“ unter dem Titel „Schweigen bis zum Tod“. Darin zitiert der SZ-Journalist, dass der Historiker Thomas Gruber in der neuen Ausgabe der „Zeit“ enthüllt, dass der große Verleger Siegfried Unseld, der 2002 in Frankfurt starb, im Jahre 1942 im Alter von 18 Jahren in die NSDAP eingetreten war. Mitglieds-Nummer: 9194036. Was mich an andere Fälle erinnert, die auch Mitglied der NSDAP waren und schwiegen bis zum Tod, wie Martin Broszat, Chef des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, der uns Studenten lehrte, wie das war mit den Nazis und seine eigene Mitgliedschaft ausblendete. Nicht weil sie Mitglied waren, sondern weil sie es danach verschwiegen und uns nicht die Gründe nannten. Und in Berlin fordert die in Teilen rechtsextreme AfD, die in den Augen von NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst(CDU) eine „Nazi-Partei“ ist, den Otto-Wels-Saal, in dem bisher die SPD-Bundestagsfraktion sitzt, für sich.
Es klingt wie Hohn, wenn der Parlamentarische Bundesgeschäftsführer der AfD-Fraktion, Bernd Baumann, nebenbei betont, heute wäre Otto Wels wohl bei der AfD. Wie damals die Nazis mit der Opposition umgegangen seien, „so ähnlich wird mit uns ja auch umgegangen.“ Als wäre die AfD im Widerstand, als könnte man den SPD-Chef Otto Wels und dessen mutige Rede gegen das Ermächtigungsgesetz Hitlers mit heute vergleichen. Das ist der Versuch der Einverleibung eines großen Sozialdemokraten, das ist der Versuch, die älteste deutsche Partei und ihre Berufung auf den Widerstand gegen die Nazis als einzige Partei des Reichstags zu verhöhnen.
Man darf daran erinnern, was damals geschah. Am 23 März 1933 hielt Otto Wels, Vorsitzender SPD seit 1919, eine der bis heute mutigsten Reden in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus. Man kann die Bedeutung der Rede nachlesen im Buch „Deutungskämpfe“ des Historikers Heinrich August Winkler. Unter dem Titel „Die Ehre der Deutschen Republik“ würdigt der Wissenschaftler, der selber seit Jahrzehnten streitbares Mitglied der SPD ist, die „SPD, die erste deutsche Demokratie und Hitlers Ermächtigungsgesetz“. Die Nationalsozialisten hatten für diesen Tag massiven Druck aufgebaut. Hitler war schon am 30. Januar 1933 von Reichspräsident Hindenburg zum Reichskanzler ernannt worden, weil jener „Teil der Machtelite, der seit langem darauf aus war, mit der verhassten Republik von Weimar radikal zu brechen“(Winkler). Am 27. Januar 1933 brannte der Reichstag, einen Tag später setzte die Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat die wichtigsten Grundrechte bis auf weiteres außer Kraft, schreibt Winkler in seinem Buch.
Rechtsbrüche und Manipulationen
Am 5. März des Jahres kommt es erneut zur Wahl des neuen Reichstags. Die NSDAP wird mit 43.9 Prozent der Stimmen stärkste Partei, 8 Prozent erhält die „Kampffront Schwarz-Weiß-Rot“, die bisher mit Hitler regiert. Damit hatte Hitlers Regierung zwar die Mehrheit, aber nicht die für das Ermächtigungsgesetz erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit. Also brachen die Nazis die Verfassung, indem sie die Mitglieder der Kommunisten als nicht existent betrachteten, (einige von ihnen waren längst verhaftet oder geflohen)wodurch sich die Mitgliederzahl des Reichstag um 81 Mandate verringerte. Reichspräsident Hermann Göring ließ dann die Geschäftsordnung verändern. Abgeordnete, die Göring wegen unentschuldigten Fehlens ausschließen konnte, galten dennoch als anwesend. Durch diese Rechtsbrüche und Manipulationen hätte selbst eine SPD, die geschlossen der Sitzung ferngeblieben wäre, die Verfassungsänderung nicht verhindern können. Schreibt Winkler. Das Zentrum stimmte Hitlers Gesetz zu, weil Hitler dem Parteivorsitzenden, Prälat Kaas, mündlich kirchenpolitische Zusagen gemacht hatte, die der Nazi-Chef aber nie schriftlich fixierte.
Das Nein der SPD erforderte Winkler zufolge „ein hohes Maß an Mut. SA und SS standen in dichten Reihen vor der Krolloper in Berlin, wo der Reichstag nach dem Brand tagte. Durch diese „grölende Masse“ von Nazis mussten Sozialdemokraten durch, wobei sie angeschrieen wurden als „Marxistensau“ und „Zentrumsschwein“, aus anderen Quellen heißt es, sie seien auch bespuckt und bedroht worden. Im Innern des Gebäudes waren erneut SS- und SA-Leute versammelt und bildeten eine bedrohliche Kulisse. Über dem Rednerpult wehte eine riesengroße Hakenkreuzfahne. Von 120 Abgeordneten der SPD nahmen 93 an der Sitzung teil. Wegen Krankheit hatten sich einige der Sozialdemokraten abgemeldet, darunter jene mit jüdischer Abstammung, weil sie sich bedroht fühlten. Darunter Hilferding. Andere waren schon emigriert, andere verhaftet. Winkler zufolge lag der ehemalige Reichsinnenminister Wilhelm Sollmann, der kurz zuvor von SS- und SA-Schlägern in seiner Kölner Wohnung überfallen und schwer misshandelt worden war, im Krankenhaus.
Otto Wels selber litt an Bluthochdruck, schildert Winkler, aber er sah sich in der Pflicht und verließ gegen den Rat der Ärzte das Sanatorium frühzeitig. Die Rede von Wels sei ohne verbale Schärfen gewesen, so Winkler, stellenweise bemüht um einen konzilianten Ton. Otto Wels sei daran gelegen gewesen, die Leistungen der Sozialdemokratie in der Weimarer Republik zu würdigen. Namentlich habe Wels „unsere Leistungen für den Wiederaufbau von Staat und Wirtschaft, für die Befreiung der besetzten Gebiete“ herausgestellt. Ferner habe er darauf verwiesen, dass die SPD gleiches Recht für alle und ein soziales Arbeitsrecht geschaffen und an einem Deutschland mitgewirkt hätte, „in dem nicht nur Fürsten und Baronen, sondern auch Männern der Arbeiterklasse der Weg zur Führung des Staates offensteht.“ Die Weimarer Verfassung keine keine sozialistische Verfassung gewesen, sondern eine auf den Grundsätzen des Rechtsstaates, der Gleichberechtigung und des sozialen Rechts. Alles Grundsätze, die zum politischen Glaubensbekenntnis der Sozialdemokraten zählten. Wels Rückblick und Würdigung wertet Winkler als „Antwort auf das Zerrbild, das Hitler von Weimar gezeichnet hatte. „Vierzehn Jahre Marxismus haben Deutschland ruiniert.“ So Hitlers Rede an das deutsche Volk am 1. Februar 1933. Der konziliante Ton der Rede hätte der Überlegung von Wels entsprochen, „zum einen wieder lebend vom Pult herunterzukommen“ und zum anderen die Hoffnung, dass eine maßvolle Rede eher von der bürgerlichen Presse im Lander verbreitet würde.
Freiheit und Leben kann man uns nehmen…
Berühmt wurde Wels schließlich durch den Satz seiner Rede: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ Er soll, heißt es, eine Giftampulle in seiner Jacke gehabt haben für den Fall, dass man ihn vom Rednerpult weg verhaftet hätte. Da die Kommunisten nicht mehr zugelassen waren zur Sitzung des Reichstags am 23. März 1933, war die SPD die einzige politische Kraft, die dem Druck der Nazis standhielt und mit Nein stimmte. „Dass nicht ein einziger Abgeordneter aus den Reihen der katholischen und der liberalen Parteien mit ihnen gegen das Ermächtigungsgesetz stimmte, machte noch einmal deutlich, woran Weimar letztendlich gescheitert war: Der Staatsgründungspartei von 1918 waren die bürgerlichen Partner abhanden gekommen. Ohne diese konnte die größte demokratische Partei die Demokratie nicht gegen ihre Gegner behaupten.“ Allein auf sich gestellt hätten die Sozialdemokraten getan, was in ihren Kräften war. „Durch ihr Nein zum Ermächtigungsgesetz retteten sie nicht nur ihre eigene Ehre, sondern auch die Ehre der ersten deutschen Demokratie“.
Otto Wels´ Großnichte Tatjana hat sich in einem Leserbrief in der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ zu dem Streit um den Otto-Wels-Saal geäußert. „Das kann nicht wahr sein“, schrieb sie. Sie bewundert den Mut des Bruders ihres Großvaters, die Haltung, die er an den Tag gelegt habe. In der Familie ist man stolz auf Otto Wels. Die Großnichte erzählt in einem Beitrag der SZ, dass, wenn ein Junge geboren werde in der Familie, er automatisch zum Rufnamen den Otto dazu bekomme. Das sei Tradition. Ehrensache. Natürlich. Der Satz mit der Ehre hat seit Jahren den Ehrenplatz im Herzen eines jeden überzeugten Sozialdemokraten. Er erinnert an die dunklen braunen Jahre Deutschlands, daran, wie viele Sozialdemokraten in der Nazi-Zeit wegen ihrer Überzeugung verfolgt, verhaftet, verprügelt, ermordet wurden. Und jetzt das mit dem Saal, in dem die SPD-Bundestagsfraktion seit ihrem Umzug nach Berlin tagt. Auf dem Weg in den Saal geht man an der Ahnengalerie der SPD vorbei, auch am Bild von Otto Wels. Und jetzt will die AfD diesen Saal. Für die Großnichte Tatjana ist das „wie ne feindliche Übernahme“. Es sei für sie wie eine Beschmutzung, eine Beleidigung des Mutes von Otto Wels und seiner Werte.
Die AfD spottet über all das, will den Otto-Wels-Saal, wie es Stephan Brandner gesagt hat, „durchlüften“, vom sozialdemokratischen Mief befreien. Die Radikalität, mit der die AfD hier auftritt, stößt auf und einen jeden Demokraten vor den Kopf. Rolf Mützenich, lese ich in der SZ, sei „angefasst“. Ich kann das verstehen. Die sind keine Demokraten, auch wenn sie demokratisch gewählt sind. Die wollen die anderen erniedrigen, ohne jeden Anstand treten sie in Berlin auf, pöbeln im Plenarsaal bei Reden der anderen. Das mit dem Hohen Haus gibts für die nicht. Dass der Saal seine eigene Geschichte hat, mit der diese Rechtsextremen nun wirklich nichts zu tun haben, die gern die Hitler-Jahre schönschreiben, das Holocaust-Mahnmal in Berlin als Schande bezeichnen.
Die SPD hat seit der letzten Bundestagswahl nur noch 120 Abgeordnete. Es war das schlechteste Wahlergebnis, das die SPD je erzielt hat. Die AfD, die auch viele Stimmen von früheren SPD-Wählerinnen und Wählern erhalten hat, ist nun mit 152 Abgeordneten zweitstärkste Fraktion nach der Union. In der Raum-Frage muss sich was ändern, die FDP ist nicht mehr im Bundestag, auch andere haben verloren. Da lässt sich sicher etwas machen, wenn es mit Vernunft und gutem Willen angeht. Und nicht nur ruppig und unanständig, wie das die AfD spielt. Der Ältestenrat wird eine Entscheidung treffen. Man kann nur hoffen, dass sich die Demokraten in diesem Gremium durchsetzen. Für Tatjana Wels ist die Sache klar. Der Otto-Wels-Saal müsse der SPD vorbehalten bleiben, schreibt sie in ihrem Leserbrief, „alles andere verbietet sich der Ehre wegen, die uns keiner nehmen kann.“
Ja, ob sie denn keine Angst habe, so mit Foto und Namen in der Zeitung zu stehen, sei sie kürzlich gefragt worden, schildert Tatjana Wels. „Was machts Du, wenn die AfD mal vor der Tür steht?“ Allein diese Frage habe sie entsetzt, lese ich in einem Artikel von Renate Meinhof in der SZ. „Was sei denn das für eine Angst, die da gerade wieder groß werde? So weit sind wir zum Glück noch nicht. Die Demokratie muss sich als wehrhaft erweisen gegen ihre Feinde. Tatjana Wels findet: „Otto Wels würde sich im Grabe umdrehen.“