Europa wehrt sich nicht zum ersten Mal gegen Russlands imperiale Übergriffe.
Polen und die Ukraine sind schon seit Jahrhunderten Ziele derartiger russischer imperialer Bestrebungen. Russlands Griff nach Osteuropa hat seit dreihundert Jahren Tradition. Der Überfall auf die Ukraine ist nicht notwendige Folge des fehlenden Verständnisses für die angeblichen Sicherheitsbedürfnisse Russlands. Vielmehr stehen die Ukraine und andere Staaten in der Linie imperialer Eroberungspolitik Russlands seit Peter dem Großen und dem Großen Nordischen Krieg, der 1721 mit der totalen Niederlage Schwedens und seiner Verbündeten endete. Finnland und die baltischen Staaten gelangten damit in den Machtbereich Russlands, das damit sein großes Ziel, den Zugang zur Ostsee dauerhaft zu erlangen, erreicht hatte.
Katharina die Große, gekrönte Königin des russischen Imperialismus, sah ihre Lebensaufgabe in der Zerschlagung Polen-Litauens und dem Kampf gegen das Osmanische Reich, um den ungehinderten Zugang zum Schwarzen Meer zu erreichen. Rückendeckung erhielt sie dabei durch die Habsburger Monarchie und Preußen.
Die polnisch-litauische Adelsrepublik war durch das Einstimmigkeitsprinzip in der Verfassung praktisch kaum handlungsfähig. Es war in dieser Situation für die drei „Raubritterstaaten“ immer möglich, einzelne im Sejm stimmberechtigte Adlige für ihre Interessen zu gewinnen. Der Zugriff und damit die Auslöschung des polnischen Staates gelang durch die drei Teilungen von 1772,1793 und 1795. Eine im letzten Moment beschlossene neue Verfassung, die das Einstimmigkeitsprinzip aufhob, kam zu spät. Die neue Ordnung in Europa wurde durch die 1815 gegründete „Heilige Allianz“, vorrangig aus den Staaten Russland, KuK-Moarchie und Preußen, mit einer religiös verbrämten restaurativen Politik zur Eindämmung der Folgen der französischen Revolution gestützt. Anders als Preußen, dass seine polnischen Gebietserweiterungen eingegliedert hatte und auf die dortige Bevölkerung großen Assimilierungsdruck ausgeübt hat, richtete Russland in seinem Herrschaftsbereich das „autonome“ polnische Königreich ein. In diesem begrenzten Freiraum, der in Ansätzen etwa dem Zustand der Ukraine unmittelbar nach der Lösung von der Sowjetunion 1991 entsprach, formierte sich im polnischen Adel der Widerstand gegen den russischen Herrschaftsanspruch. Im November 1830 brach der bewaffnete Aufstand im russisch beherrschten Teil Polens aus, der im September 1831 zerschlagen wurde. Ähnlich wie 1981 nach dem Jaruzelski Putsch und der Zerschlagung der Solidarnosc gab es in Europa eine große Welle der Sympathiebekundungen für den polnischen Freiheitswillen. Dabei blieb es allerdings.
Wie Russland seine imperialen Raubzüge begründete, zeigt ein Gedicht des Nationaldichters Alexander Puschkin zu dem polnischen Aufstand. Darin legt er die Notwendigkeit der Assimilation des ganzen Slawentums in ein großrussisches Reich dar. Die Alternative dazu sei das Verschwinden des Russentums. In die gleiche Kerbe hieb am 1. November 2022 der russische Außenminister Lawrow mit der Rezitation des Puschkin Gedichts in einem Video. Die imperiale Größe war und ist Grundlage russischer Politik.
Seit Putin, der sich als Nachfolger russischer Zaren sieht, am 24.02.2022 in die Ukraine eingefallen ist, hat sich die Geschichte wiederholt. In seinem Essay vom 23. Februar des Angriffsjahres hat Putin seine Ziele unmissverständlich dargelegt. Aus seiner Sicht ist die Ukraine immer Bestandteil des russischen Reichs gewesen. Wer noch immer der These anhängt, der russische Überfall auf die Ukraine sei durch mehr Rücksichtnahme des Westens auf das russische Sicherheitsbedürfnis nach 1991 vermeidbar gewesen, sollte dieses Pamphlet lesen. Daraus folgt auch, dass nur geringe Chancen bestehen, Putin in seinem Drang, das russische Imperium alter Größe zu erneuern, im Verhandlungsweg zu stoppen. Natürlich muss jeder mögliche Versuch zum Frieden unternommen werden. Illusionäre Forderungen wie bei Ministerpräsident Kretschmer in Sachsen und den „Friedenstauben“ aus AfD und BSW sind jedoch nicht mehr als Luftblasen. Der Traum vom billigen russischen Öl, das übrigens nie billig war, sondern sich stets an Weltmarktpreisen orientiert hat, geistert noch immer durch die politische Welt in Ostdeutschland. Die Realität verschwindet dort hinter einem Wunschbild. Manchmal scheint es so, als ob die alte Tradition der Sonderbeziehung zwischen Preußen und Russland sich in die Gene der Ostdeutschen geschlichen hat. Frieden ist ein Wert an sich, aber nicht verantwortbar, wenn er zu Lasten anderer Staaten geht. Die Ukraine hat ein Recht auf Unabhängigkeit und Zugehörigkeit zu Europa. Europa muss sich der Gefahren durch Russlands Zugriff in der Ukraine bewusst bleiben und weiter entschlossen die Ukraine in ihrem Kampf um staatliche Unabhängigkeit solidarisch unterstützen.
Gut, ich mache mich ehrlich, obwohl ich in Westfalen lebe: Das tägliche Töten an den Kriegsfronten dieses Krieges ist die Realität, über die Hans-Christian Hoffmann sich ausschweigt. Diese Realität ist so schrecklich, dass sie sofort enden muss. Auch um den Preis, dass Russland seine Eroberungen in der Ost-Ukraine behält. Deshalb bin ich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, nicht wegen Gas oder Öl. Wer behauptet, der Komplex Putin würde im Falle einer erfolgreichen Eroberung den Krieg an anderer Stelle, z. B. im Baltikum, weiterführen wollen, missachtet die Realität, dass Russland es 2022 nicht geschafft hat, Kiew und Charkiw zu erobern. Es war militärisch zu schwach dazu. Der Komplex Putin hat also seine blutige Lektion gelernt. Es reicht.
Wenn man den Russlandfedzug 1812, den ersten und zweiten Weltkrieg sowie die Bombardierung Belgrads durch die NATO ausblendet, könnte man Herrn Hoffmann recht geben. Das ist aber weder realistisch noch ehrlich.
Entgegen den Auffassungen von Herrn Hoffmann sollten wir aus der Geschichte gelernt haben: für ein sicheres Zusammenleben in Europa gibt es keine militärische Lösung.
NB: ich lebe in Baden Württemberg