Oskar Negt, Soziologe und Sozialphilosoph, hat sich als einer der politischen Intellektuellen verstanden, »die in ihrer Verantwortung für das Gemeinwesen einen substanziellen Beitrag für den Bestand einer friedensfähigen Gesellschaft zu leisten haben«. Dieser Verantwortung ist er über Jahrzehnte gerecht geworden. Denn Oskar Negt wurde zu einem der einflussreichsten Soziologen und führenden Denker der Kritischen Theorie in Deutschland. Für die undogmatische Linke in der Bundesrepublik war er eine wichtige Orientierungspersönlichkeit. Mir war er Freund und einer der wichtigsten intellektuellen Begleiter meiner Arbeit in der Gewerkschaft.
Negt wurde 1934 nahe Königsberg in einem sozialdemokratischen Elternhaus als jüngstes von sieben Kindern geboren. Die Flucht 1945 hat er nur knapp überlebt – ein einschneidendes Erlebnis für den damals Elfjährigen. Er nannte es Überlebensglück, so der Titel des ersten Bandes seiner Autobiografie (2016). Nach der zweiten Flucht mit seinen Eltern aus der DDR machte Negt sein Abitur in Oldenburg, studierte für kurze Zeit Jura in Göttingen, bevor es ihn 1955 nach Frankfurt zog. Er studierte bei Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, promovierte 1962 bei Adorno und war danach bis 1970 Assistent bei Jürgen Habermas in Heidelberg und Frankfurt. Von 1970 bis 2002 war er Professor für Soziologie in Hannover.
1954 wurde er SPD-Mitglied und löste damit ein Versprechen ein, das er seinem Vater gegeben hatte. Zwei Jahre später wurde er Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), 1961 aufgrund des sogenannten Unvereinbarkeitsbeschlusses aus der SPD ausgeschlossen. Er blieb ohne formale Mitgliedschaft sein Leben lang »konstitutioneller Sozialdemokrat«, wie er immer wieder bekannte. Seine politische Heimat wurde das Sozialistische Büro (SB), das er zunächst kritisch sah, dem er dann aber 1970 beitrat. Unter dem Titel
»Nicht nach Köpfen, sondern nach Interessen organisieren« hielt er auf einer Tagung des SB im Oktober 1972 ein Referat, dass das organisatorische Selbstverständnis des SB prägen sollte.
Durch ein Konzept der »Arbeitsfelder« sollten neue Formen der Basisarbeit entwickelt werden, die auf Erfahrungen und Bedürfnissen im beruflichen Umfeld der Menschen aufbaut und sie dadurch zu politischem Engagement motiviert. Dafür wurden Arbeitskreise gegründet, wie der AK »Betrieb und Gewerkschaft« oder der AK »Kritische Sozialarbeit«. Auf dieser Basis entwickelte Negt seinen »Erfahrungsansatz« weiter, der dann in der Bildungsarbeit der Gewerkschaften – wenn auch nicht unumstritten – genutzt wurde. Das SB hat so bis Anfang der 90er Jahre mehr Menschen erreicht und geprägt, als all die linksdogmatischen Splittergruppen jener Zeit.
Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen
Schon als Student suchte Negt den Kontakt zu den Gewerkschaften. Er hatte sein Studium noch nicht beendet, als er gefragt wurde, ob er Interesse an einer Stelle an der DGB-Bundesschule in Oberursel habe. Er hatte. Und war dann faktisch anderthalb Jahre Schulleiter. Eine Zeit, die – wie er in seiner autobiografischen Denkreise sagt – sein Leben grundlegend verändert hat, weil er erfuhr, wie kompliziert Lernprozesse sind, die emanzipative Inhalte und Ziele haben.
Seine anschließenden Arbeiten prägten die Gewerkschaften und ihre Bildungsarbeit. Der kleine, einflußreiche Band Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen, der 1967 erschien, hat die Debatte über gewerkschaftliche Bildungsarbeit enorm bereichert, zugleich heftige Kontroversen ausgelöst. Negt kritisiert darin das, was er »Trichterpädagogik« nennt, also das reine Vermitteln von Wissen, von Arbeitsrecht oder betriebswirtschaftlichen Zusammenhängen – oder des »richtigen« Klassenbewusstseins.
Dabei war Bildung für ihn das Mittel zur Emanzipation der Menschen und der »Grundbaustoff« der Demokratie, die es täglich neu zu verteidigen gelte. Bildung müsse daher an der konkreten Lebenswelt der Menschen ansetzen:
»Ihr müsst den Arbeiter’innen nicht erklären, wie schlecht ihre Lage ist. Das wissen sie selber viel besser. Das wäre die Verdoppelung von Realität. Ihr müsst mit ihnen Perspektiven entwickeln, konkrete Utopien, die sie zum emanzipatorischen, demokratischen Handeln befähigen«.
Die Frage, wie demokratisches Lernen organisiert, wie die ganze Gesellschaft gebildet werden kann, zieht sich wie ein roter Faden durch die Arbeiten von Negt. Davon zeugt bis heute eine der ersten von ihm 1972 mitinitiierten antiautoritären Reformschulen Deutschlands, die Glockseeschule in Hannover. Knapp zehn Jahre hat er das Projekt wissenschaftlich begleitet.
Emanzipationsinteressen und Organisationsphantasie
Negt war zudem seit seiner Zeit in Oberursel ein kritischer und oft ein unbeque- mer Begleiter der Gewerkschaften. Sehr früh hat er sich für die Erweiterung des politischen und kulturellen Mandats der Gewerkschaften und einen erweiterten Interessenbegriff ausgesprochen. Wie das konkret funktioniert, hat er in der sogenannten Ortskartellstudie Mitte der 80er Jahre empirisch erforscht. Das Projekt wurde von der Hans-Böckler-Stiftung (HBS) gefördert, war aber nicht unumstritten. Erst musste der DGB-Bundesvorstand grünes Licht geben, dann konnte das Vorhaben begonnen werden.
Negt untersuchte in der Studie besonders die Organisation der sogenannten Ortskartelle. Die gab es seit über 100 Jahren und hatten eine enorme Bedeutung für den Wiederaufbau der Gewerkschaften nach 1945 in den Kommunen. Sie waren zudem für das gewerkschaftliche Politikverständnis relevant, denn es ging um das Zusammenführen der Interessen der Beschäftigten in den Betrieben mit den lebensweltlichen Interessen in den kommunalen Gemeinwesen. Ihre Arbeitsformen waren nicht vorrangig an Gremien orientiert, sondern voll- zogen sich projektförmig entlang der außerbetrieblichen Interessen an guter Lebensqualität, einer intakten Umwelt und öffentlichen Dienstleistungen.
Für Negt waren sie Vermittler zwischen Arbeitswelt und übriger Lebenswelt. Sie kamen seinen Vorstellungen von dem erweiterten Mandat der Gewerkschaften sehr nahe. Die Ortskartelle waren für ihn soziokulturelle Netzwerke, die politische Bündnisse mit örtlichen Bürgerinitiativen und den neuen sozialen Bewegungen entwickelten, und die neue Handlungsspielräume für die Gewerkschaften eröffnen können. Seine Empfehlungen wurden jedoch nicht aufgegriffen.
Im Zuge der Mitgliederrückgänge und verengter finanzieller Ressourcen wur- den sie im Rahmen der Organisationsreform des DGB eingestellt. Für Negt war das ein großer politischer Fehler, weil dadurch Gewerkschaften in der Fläche kaum noch sichtbar sind. Erst seit 2018 wurde der Versuch unternommen, die heutigen Kreis- und Stadtverbände des DGB im Rahmen eines »Zukunftsdia- logs« im Sinne der negtschen Organisationsphantasie wieder zu beleben.
Über Jahrzehnte hat Negt in seinem Wirken den deutschen Gewerkschaften zu vermitteln versucht, die Ziele gesellschaftlicher Emanzipation mit der gewerkschaftlichen Praxis zu verbinden. Seine Werke haben in den Gewerkschaften große Aufmerksamkeit erhalten und wurden immer wieder kontrovers diskutiert.
Politische Philosophie des Gemeinsinns
1970 wurde Negt auf den Lehrstuhl für Sozialwissenschaften an der Technischen Universität Hannover berufen. Dies war die couragierte Entscheidung des niedersächsischen Kultusministers Peter von Oertzen (SPD), der Negt, obwohl von konservativen Ordinarien auf Platz zwei der Berufungsliste plaziert, den Vorzug gab. Den Lehrstuhl hatte er bis zu seiner Emeritierung 2002 inne.
Ganze Studentengenerationen, aber auch Bürger’innen der Stadt Hannover haben seine Vorlesungen angelockt und zum Nach- und Weiterdenken angeregt. Es war ein Grundsatz seiner Vorlesungen – die er durchgängig in freier Rede gehalten hat – Philosophie so zu vermitteln, dass sie in den Erfahrungshorizont der Menschen übersetzbar sind (exemplarisches Lernen). Dabei waren Philosophie und soziologische Theorie für ihn nicht zu trennen.
Ein Schüler hat von 1972 bis 1982 seine vierstündigen wöchentlichen Semestervorlesungen auf einem Tonband aufgenommen. Erst spät entwickelte Negt die Idee, das über 300 Stunden umfangreiche Vorlesungsmaterial systematisch zu einer umfassenden politischen Philosophie zu bearbeiten. Andere Projekte, wie die zweibändige autobiografische Spurensuche und Denkreise, mussten erst abgeschlossen werden. Ab 2016 hat die HBS das Forschungsprojekt »Politische Philosophie« gefördert, in dem das Vorlesungsmaterial gesichtet, strukturiert und in zeitgeschichtliche Bezüge verortet wird. Herausgekommen sind vier Bände in denen der Versuch unternommen wird, die Tradition politischer Philosophie für die Deutung und Erklärung der Gegenwart zu überprüfen und nutzbar zu machen. Sie sind aktueller denn je.
Der erste Band behandelt die griechische Antike und die Ursprünge europäischen Denkens (2019), in dem Negt herausarbeitet, in welcher Weise die antiken Philosophen für unser heutiges Gemeinwesen noch Geltung haben. Im zweiten Band (2020) werden Negts Kant-Vorlesungen aus dem Wintersemester 1974/75 und dem Sommersemester 1975 aufgearbeitet, in denen er die kantsche Philosophie als genuin und explizit politisch dechiffriert. Für Negt gab es keine kritische Theorie ohne Kants Philosophie. Für ihn war kritische Theoriebildung bedingungslos dem praktischen Interesse der Verwirklichung individueller und kollektiver Autonomie verpflichtet. In den Vorbemerkungen (2020) schreibt Negt, dass die kantsche Philosophie für ihn eine groß angelegte Versuchsordnung darstellte, in der Fundamente eines Hausbaus der Vernunft gesucht werden.
Der dritte Band (2022) basiert auf einer zweisemestrigen Romantikvorlesung (1976/77) in der er aufzeigt, wie eng Aufklärung und Rationalität verknüpft sind mit dem, was in der Romantik als Entwurf eines ganzheitlichen Menschenbildes betrachtet wird. Dahinter stand für ihn die Idee, dass die Romantik als eine Form der Aufklärung begriffen werden kann, also der Versuch einer Politisierung der Romantik.
Die Veröffentlichung des vierten Bandes Das Erbe des Marxismus (2024) hat Negt nicht mehr erlebt. In der Vorankündigung des Steidl-Verlages heißt es: »Neben Material aus zwei Vorlesungen vom Ende der 70er Jahre bietet der Band unveröffentlichte Manuskripte sowie einige klassische Schriften von Negt zum Themenfeld >Marx und Marxismus««. Gerade dieser Band war ihm ein Herzensanliegen.
Mit dem Tod von Oskar Negt am 2. Februar 2024 haben wir einen der bedeuten- den Sozialphilosophen und einen großartigen Menschen verloren. Seine Ermutigungen, Gesellschaftsentwürfe zu wagen und konkrete Utopien als Kraftquellen des politischen Handelns zu entwickeln, werden wir schmerzlich vermissen.
Zum Autor: Reiner Hoffmann ist Vorsitzender des Rats für Nachhaltige Entwicklung (RNE), stellvertretender Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) und Mitglied im Europäischen Wirtschafts- und Sozialauschuss (EWSA). Bis Mai 2022 war er Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes.
Dieser Beitrag wird veröffentlicht in Neue Gesellschaft | Frankfurter Hefte 3/2024
Bildquelle: Ilse Paul in Hannover, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons