Was wir Nachkriegskinder und Babyboomer über Sicherheit gelernt haben, stammt wohl vor allem aus der Kuba-Krise von 1962. Zuvor waren wir zu klein, um verstehen zu können.
Grob gezeichnet war Folgendes geschehen: aus echter oder der Öffentlichkeit nur vorgespielter Angst, Nazi-Deutschland könne den Kriegsverlauf noch durch Entwicklung von Atomwaffen entscheidend ändern, entwickelten die USA die Atombombe selbst. Robert Oppenheimer leitete das „Manhattan-Project“, aus dem unmittelbar „little boy“ und „fat man“ hervorgingen, die beiden im Krieg ersteingesetzten Atombomben. Sie töteten mindestens 300.000 Menschen auf einen Schlag; manche davon erst nach jahrzehntelanger Leidensgeschichte. Noch heute werden in Hiroshima und Nagasaki mehr Kinder mit Krankheiten und Fehlbildungen geboren als irgendwo sonst auf der Welt.
Der „Vater“ der Atombomben wurde angesichts dieser Massenvernichtung zum entschiedenen Gegner der Atomwaffen und setzte sich für strenge Kontrollen der Kernenergie ein. Die zwei „Großen“ aus der Anti-Hitler-Koalition, USA und UdSSR, nahmen deutsche Ingenieure in ihre Dienste, die vorher für Hitler Raketen entwickelt hatten. Der berühmteste wurde der „Deutsch-Amerikaner“ Wernher von Braun, der es ebenfalls zum Vater brachte, der Mondfahrt nämlich.
So kamen zu den Massenvernichtungssprengköpfen auch die Raketen, mit beiden rüsteten sich USA und UdSSR um die Wette auf. Man hielt sich gegenseitig für angriffslustig, da man sich aber tunlichst nicht gegenseitig angriff, galt die atomare Abschreckung als Grund für die Sicherheit beider Großmächte und ihrer europäischen Partner und Satelliten. Dank der Interkontinentalraketen konnten beide Großmächte sich gegenseitig vernichten, ohne selbst mit Militär an des anderen Grenzen gehen zu müssen. Schließlich war auch sichergestellt, dass dem schon so gut wie vollständig Vernichteten noch Zeit genug blieb, den anderen ebenfalls zu vernichten.
Diese Fähigkeit zur „mutually assured destruction“ (MAD) besteht nach wie vor. Das Zeitalter atomarer Massenvernichtungswaffen ist keineswegs beendet! Und die angesammelte atomare Sprengkraft reicht aus, die gesamte Menschheit mehrfach auszurotten.
1962 hatte die Sowjetunion bemerkt, dass US-amerikanische Raketen mittlerer Reichweite nahe der sowjetischen Grenze stationiert waren und begann ihrerseits Mittelstreckenraketen auf der mit ihr verbündeten Insel Kuba zu stationieren. Der junge Präsident Kennedy und der erfahrene Funktionär Chruschtschow lieferten sich einen Nervenkrieg. Die Welt hielt den Atem an. Wegen der amerikanischen Seeblockade, die die weitere Lieferung von Sowjetraketen nach Kuba verhinderte, knickte Chruschtschow ein, so schien es. Tatsächlich zogen die Amerikaner ihre in Europa stationierten Mittelstreckenraketen ebenso ab, wie die Russen ihre von Kuba.
Trotzdem war allen das Risiko bewusst geworden, dass wir uns am „Eve of destruction“ befinden – und sei es aus Versehen und Missverständnis.
Die angeblichen Sicherheitsgaranten waren zu Sicherheitsrisiken geworden. Beide Seiten begannen miteinander allerlei Verfahren und Begrenzungen zu entwickeln, um sowohl das atomare Wettrüsten einzudämmen als auch den Atomkrieg „aus Versehen“ möglichst auszuschließen.
Diese Rüstungskontroll- und Abrüstungsvereinbarungen sind heute, Stand Februar 2024, sämtlich gekündigt und unwirksam.
Sie hatten aber auch zuvor nicht verhindert, dass es neue Mittelstreckenraketen gibt, die so aufgestellt sind, dass sie Europa vernichten können. Ihr Einsatz wird, so die öffentlich verbreitete Expertise, nur dadurch verhindert, dass sich die beiden großen Atommächte gegenseitig vernichten können und es im Fall eines zwischen ihnen geführten europäischen Krieges auch tun würden.
Letzteres ist nicht erst unwahrscheinlich, seit sich die älteste US-amerikanische Partei dazu bekennt, die USA zukünftig zu einem unzuverlässigen Bündnispartner zu machen. Aber ausgeschlossen ist es derzeit noch nicht. Das bedeutet: niemand weiß wirklich, ob und wie die Abschreckung – auch zukünftig – funktioniert.
Abgesehen von den wechselseitigen Aufkündigungen von Rüstungskontrollabkommen und auf beiden Seiten laufenden Programmen zur Modernisierung ihrer Atomwaffen-Arsenale, hat zuletzt der russische Machthaber Putin mit der atomaren Zaunlatte gewunken und die russischen Atomstreitkräfte aus ihrem bisherigen Dornröschenschlaf geweckt. Motto: es könnte zwar selbstmörderisch sein, aber tun könnte man es trotzdem.
Am ehesten kann man die atomare Abschreckung mit dem Geld vergleichen: es kommt darauf an, dass alle daran glauben, dass ein Schein oder ein virtuelles Datum, in oder auf dem steht, es seien 20 €, tatsächlich 20 € sind, nur dann kann man etwas dafür kaufen. Solange der amerikanische und der. russische Präsident und ihre Experten glauben, dass die gesicherte gegenseitige Zerstörung nicht ausgeschlossen werden kann, kühlt sie die Gemüter.
Nachdem nun aber alle Kontrollmechanismen ausgesetzt sind, ist genau genommen die Situation von 1962 wieder hergestellt: Es könnte von nun an auch wieder aus Versehen passieren oder: Atomwaffen sind nicht nur politische Sicherheitsgaranten, sondern auch alltägliche Sicherheitsrisiken wegen zahlreicher menschlicher und technischer Fehlerquellen.
Krieg in Europa und nukleare Abschreckung
Der zweite* seit 1945 in Europa ausgefochtene Krieg hat die gesamte in Konsequenz aus der Kuba-Krise und dem Mauerbau 1961 geschaffene politische Sicherheitsstruktur zerstört. Denn sie beruhte
neben dem Glauben an den „atomaren Schutzschirm“ auf im wesentlichen zwei politischen Essentials: dem wechselseitigen Gewaltverzicht und dem Prinzip der Unverletzlichkeit der Staatsgrenzen. Beide sind durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine außer Kraft. Der flächenmäßig größte Staat der Welt und der offenbar nach wie vor mächtigste in Europa hat seine Unterschrift unter die Verträge der europäischen Entspannungspolitik de facto zurückgezogen.
Hat die „mutually assured destruction“ – deren Abkürzung „mad“ bedeute auf englisch„verrückt“ – etwas damit zu tun? Und wenn ja, was?
Die Mitgliedsstaaten der NATO – auf deutsch: Nordatlantische Vertrags Organisation – verpflichten sich gegenseitig, jedem anderen Mitgliedsstaat, falls er militärisch angegriffen wird, beizustehen. (sog. Verteidigungsfall). Die USA sind nicht nur Mitglied sondern Erfinder und Führungsmacht der NATO. Ein Schauplatz, auf dem sowohl die USA als auch Russland, die Besitzer der beiden größten Atomwaffenarsenale, militärisch aktiv würden, würde sofort das Risiko des Atomwaffeneinsatzes und im Falle der Eskalation eben auch der gesicherten gegenseitigen Zerstörung hervorrufen. Deswegen gehen sich beide auf solchen Schauplätzen auf das sorgfältigste aus dem Weg. Ein militärisches gegnerisches Aufeinandertreffen beispielsweise Russlands mit jedem anderen NATO-Mitgliedsstaat ist theoretisch exakt genauso riskant wie das unmittelbare Aufeinandertreffen der Atommächte.
Vor diesem Hintergrund musste der erste nüchterne Gedanke nach dem russischen Überfall sein, wie dieser Krieg eingedämmt werden könne. Wer Grimmelshausens Simplicissimus liest, den sehr anschaulichen Bericht über die Gräuel des 30jährigen Krieges im 17. Jahrhundert, weiß, dass Kriege nicht erst im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen das Schlimmste sind, was sich Menschen gegenseitig antun können. Um Menschen davor zu schützen, gibt es nur zwei Möglichkeiten: durch geschicktes Handeln vorher einen Kriegsausbruch verhindern und, wenn das misslingt, den Krieg regional zu begrenzen, also zu verhindern, dass er auf andere Regionen, andere unbeteiligte Menschen ausgeweitet wird.
Im konkreten Fall gehört zur Eindämmung, die direkte Konfrontation zwischen Russland und einem NATO-Mitglied unbedingt zu vermeiden, nicht zuletzt auch, um die Atomwaffen aus dem Schlachtfeld herauszuhalten. Der schwächere Verteidiger kann also maximal mit gutem Rat und Kriegsgerät versorgt werden. Mehr ist wegen der mutually assured destruction in Europa nicht denkbar.
Was im Umkehrschluss bedeutet, dass das atomare Gleichgewicht aus der Sicht Russlands eine Bedingung des Angriffs auf die Ukraine ist. Putin und seine Militärs mussten einschätzen, welches Risiko sie mit dem Angriff eingehen und es musste ihnen bald klar sein, dass kein militärisches Risiko der Ausweitung besteht. Dank „MAD“ wird kein NATO-Mitglied selbst auf der ukrainischen Seite eingreifen können. Mit anderen Worten: MAD ist paradoxerweise vom gedachten Kriegsverhinderer zum Kriegsermöglicher geworden. Um Himmels willen: natürlich ist MAD nicht schuld am Angriff sondern Putin! Dieser Angreifer hatte bedacht, welchen Schaden er für sich einkalkulieren muss, würde der Schaden klein sein oder groß, würde es politischer Schaden sein oder wirtschaftlicher, könnte es schließlich sogar militärisch-strategischer Schaden sein, weil dem Verteidiger viele andere Armeen zur Hilfe kommen würden? Dank der atomaren Abschreckung konnte er letzteres ausschließen; die Spannung mit den NATO-Staaten bestand bereits, dieser politische Schaden war also schon eingetreten (und in Kauf genommen); wirtschaftlich ist der Krieg teuer – aber nicht wegen Wirtschaftssanktionen des (je nach Ausgang der US-Wahl auseinanderfallenden) Westens, die konnten vielmehr durch andere Handelspartner weltweit ausgeglichen werden.
Was folgt aus dieser neuen Pirouette der Weltpolitik? Ist die atomare Abschreckung damit erledigt?
Oder wird auch eine nukleare Abschreckung gegenüber anderen Atomwaffenbesitzern gebraucht? Schließlich gibt es inzwischen eine stattliche Anzahl potentieller und tatsächlicher Atomwaffenstaaten.
Oder kann umgekehrt die MAD auch in anderen Weltregionen das Risiko der Kriegführung für potentielle Angreifer senken statt es zu erhöhen?
Und welche Folgerungen ergeben sich für die nun ausbrechende neue Atomdebatte in Deutschland und Europa? Deren Anlass war die verflossene und nun erneut drohende Amtszeit eines Donald Trump als Präsident der USA. Eine eventuelle ganz offizielle Aufkündigung des „atomaren Schutzschirms“ der USA über Europa, wäre ja auch das Ende der vielbeschworenen „nuklearen Teilhabe“ der Bundesrepublik Deutschland, für deren praktische Ausübung gerade neue Düsenbomber angeschafft werden. Das wäre also schon einmal eine Folge: für deutsche atomwaffenfähige Flugzeuge gäbe es diese Waffe nicht mehr.
In Anbetracht dessen fordert selbst eine sozialdemokratische Europapolitikerin deutsche – oder doch wenigstens europäische – Atomwaffen.
Die Logik solcher Forderungen liegt auf der Hand: eine Aufkündigung der Abschreckung durch die USA soll durch eine eigene, europäische Abschreckung ersetzt werden. Weder Europa noch Russland aber benötigen Interkontinentalraketen, um Europa westlich Russlands in Schutt und Asche zu legen oder umgekehrt. Was bedeutet das technisch für die Vernichtungsenergie der Sprengköpfe? Könnte ein bereits Vernichteter auch auf dem europäischen Schlachtfeld noch den Angreifer vernichten? Oder würde es einer europäisch-russischen MAD wegen der Dimension der Waffen schlicht an der überzeugenden Glaubwürdigkeit fehlen?
Die Debatte erscheint aber schon bevor solche Fragen aufgerufen werden obsolet, nämlich durch die Dauer der politischen Entscheidungsprozesse in Europa. Selbst eine“TO“ (NATO ohne nordatlantischen Partner am anderen Ufer) hätte mit der Unterscheidung zwischen französischen, europäischen und großbritischen Atomwaffen alle Hände voll zu tun.
Doch angenommen, eine Einigung gelänge wider alle Wahrscheinlichkeit, was für Atomwaffen wären sinnvoll für ein Szenario mit viel kürzeren Entfernungen? Würden dann nicht alte Träume von niedrigerer Sprengkraft (von Protagonisten gern „chirurgische Präzision“ genannt) oder gar Neutronenbomben ( das sind die, die Lebewesen töten ohne Sachen zu beschädigen) wieder erwachen? Dann aber käme ein neues Paradox: in der Absicht atomare Abschreckung zu ersetzen würde sie durch „normalisierte“ Atomsprengköpfe vollends abgeschafft. Mit „normalisiert“ meine ich, dass solch kleinere Nuklearwaffen wie konventionelle Waffen behandelt und eingesetzt werden würden.
Als ob die nicht schlimm genug wären.
*) der erste Krieg in Europa nach 1945 war der sogenannte Jugoslawienkrieg; vielleicht wird er gern verdrängt, weil Deutschland als Kriegspartei daran beteiligt war.
Gern will ich einräumen, dass ich die Formulierungen „Oppenheimers deadly toy“ und „Eve of Destruction“ älteren Popsongs entnommen habe. Der eine stammt aus „Russians“ von Sting, etwa 1982 und der andere ist der Titel eines Hits von 1965.