Der Mann hat einen Lauf. Das spürt man, wenn man Olaf Scholz(63) beobachtet und ihm zuhört. Vor Jahresfrist gab es noch Äußerungen aus der SPD-Führung, einen Kanzlerkandidaten bräuchten sie gar nicht aufzustellen. Chancenlos sah die SPD aus, abgeschlagen hinter Union und den Grünen. Und jetzt, sechs Wochen vor der Wahl, sind sie in Schlagdistanz, würde der Hobby-Ruderer Scholz sagen. Die Grünen hat man überholt, CDU/CSU liegen nur noch ein paar Prozentpunkte vor der SPD.Und ganz wichtig für das Selbstvertrauen: Der Kanzlerkandidat der SPD hat seine Konkurrenten Armin Laschet und Annalena Baerbock abgehängt. Im ZDF-Politbarometer trauen 59 Prozent ihm, dem Sozialdemokraten, das wichtigste politische Amt, das die Republik zu vergeben hat, zu, Laschet kommt nur auf 28 Prozent, Baerbock auf 23 Prozent.Wer hätte das vor Wochen für möglich gehalten?! Plötzlich scheint das Kanzleramt in greifbarer Nähe für Scholz. Und der fühlt sich „in der Form meines Lebens“, wie er in einer Leserrunde der Dortmunder Ruhr-Nachrichten zugab.
Wahlkampf-Auftakt in Bochum am Samstag auf dem Dr.-Ruer-Platz. Ein Heimspiel. Auch wenn die Sozialdemokraten in der jüngeren Vergangenheit einigen Boden im Ruhrgebiet verloren haben, dazu die Macht am Rhein, gemeint in Düsseldorf, in Bochum ist das anders. Da regiert ein SPD-OB, Thomas Eiskirch, und das nicht mal schlecht. Hört man sich um, erfährt man, der Mann sei gut, bodenständig, einer von uns, fehlt nur noch die gemeinsam verzehrte Currywurst von Dönninghaus, die echte, wie sie hier gern betonen. Bochum steht für den Strukturwandel im Revier, ein Erfolgsmodell, das jedoch nie zu Ende gehen wird. Immer weiter muss es gehen. Bochum, das war mal Kohle, Stahl, dann kam Opel, Nokia. Alles weg. Und doch geht es voran. An der Spitze der Entwicklung preist man die Ruhr-Universität, die erste in der einstigen Malocher-Region, das Bergmanns-Heil, eine Vorzeige-Klinik seit Jahrzehnten. Und jetzt ist der VFL Bochum noch aufgestiegen in die erste Fußball-Bundesliga, während die Blauen aus der Nachbarstadt Gelsenkirchen sich in Liga II rumschlagen müssen.
Blauer Himmel über der Ruhr
Und als wäre das noch nicht genug, scheint am Samstag, als die SPD sich in Bochum versammelt, die Sonne am blauen Himmel. Natürlich wird an Willy Brandt erinnert, den legendären Vorsitzenden der SPD, der vor 60 Jahren gefordert hatte: „Der Himmel über der Ruhr muss wieder blau werden“. 1961 war das. Damals war noch alles schwarz und grau im Ruhrgebiet, an jeder Ecke stand praktisch eine Zeche, die Stahl-Industrie lief auf Hochtouren, Umweltschutz war damals ein Wort, das man nicht kannte. Man lebte mit dem Schmutz in der Luft, der Erde, dem Wasser, war halt so, weil man gut verdiente. Und wenn man sich die Hände schmutzig machte, war es auch nicht schlimm. Ich komme aus dem Revier, weiß, wie das war mit dem Ruß auf den Fensterbänken und wie schnell ein weißes Hemd schwarze und graue Flecken bekam, vor allem, wenn die Luft feucht war. Aber Willy Brandt war ein Visionär, er trug in einer Rede in der Bonner Beethovenhalle aus einer Studie Folgendes vor: „Erschreckende Untersuchungsergebnisse zeigen, dass im Zusammenhang von Luft und Wasser eine Zunahme von Leukämie, Krebs, Rachitis, Blutbildveränderungen sogar schon bei Kindern festzustellen sind.“ Brandt nannte es eine „Gemeinschaftsaufgabe, bei der es um die Gesundheit von Millionen Menschen geht,“ die bisher vernachlässigt worden sei. Und daran schloss er seine Forderung mit dem Himmel über der Ruhr, der wieder blau werden müsse.
Der Platz in Bochum ist gut gefüllt, als die SPD-Prominenz sich hier versammelt: Svenja Schulze, die Bundesumweltministerin ist da, Fraktionschef Rolf Mützenich, sein Amtskollege in Düsseldorf, Thomas Kutschaty, die Parteivorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, SPD -Generalsekretär Lars Klingbeil und natürlich Olaf Scholz. Pünktlich zum Start in die heiße Wahlkampfphase haben die Umfrage-Institute gute Nachrichten für die SPD und ihren Kandidaten. Monatelang schien die Partei in den Meinungsumfragen irgendwo bei 15 Prozent eingemauert, jetzt plötzlich ist alles in Bewegung geraten. Die SPD holt auf, liegt quasi gleichauf mit den Grünen bei 19 Prozent. Der Stand am Samstag in der Früh. Ich nehme an, Olaf Scholz hat die nächste Umfrage der Bild-am-Sonntag auch schon erfahren. Das Instititut „Insa“ sieht die SPD endlich auf Platz zwei mit 20 Prozent, die Grünen kommen nur noch auf 18 Prozent, die Union liegt zwar weiter in Führung, ist aber abgesackt auf 25 Prozent. Man stelle sich nur noch vor, der Trend geht so weiter, nächste Woche steige die SPD auf über 20 Prozent, die Union falle weiter…. Einige Genossen verdrehen die Augen.
Und Scholz muss ja nicht Erster werden am 26. September. Der zweite Platz tut es auch. Zu erinnern sei an frühere Wahlen. 1969 lag die Union von Kanzler Kiesinger bei 46,1 Prozent, die SPD knapp dahinter mit 42,1 Prozent. Kanzler wurde Willy Brandt mit den Stimmen der FDP(5,8vh).1976 verfehlte der junge Helmut Kohl mit 48,6 Prozent knapp die absolute Mehrheit, Bundeskanzler blieb Helmut Schmidt dank der Stimmen der FDP(7,9vh). Und vier Jahre später scheiterte Franz-Josef Strauß mit 44,5 Prozent der Stimmen, die SPD blieb knapp dahinter mit 42,9 Prozent. Helmut Schmidt wurde wiedergewählt mit den Stimmen der FDP, die 10,9 Prozent erreicht hatte- auch dank ihres Wahlslogans: FDP wählen, damit Helmut Schmidt Kanzler bleibt. Die SPD wurde nur 1972(45,8 vh- CDU-44,9 vh) und 1998(40,9vh zu 35,1vh) stärkste Partei. 2002 gab es fast eine Patt-Situation: Gerhard Schröders SPD und Edmund Stoibers Union kamen beide auf 38,5 vh der Stimmen, die SPD hatte lediglich 6000 Zweitstimmen mehr als die Union.
Der Mann mit dem Wumms
Der Kanzlerkandidat, der wirklich in guter Form und Stimmung ist, zeigt sich demütig. „Die Zustimmung für mich berührt mich sehr“, sagt er vor den rund 1300 Zuhörern, gewiss in der Regel Parteifreundinnen und Parteifreunde. Die Zustimmung für ihn ist sehr groß, er liegt weit vor Laschet und mehr noch vor Baerbock. Was zeigt, dass Scholz mit seiner Seriosität punktet, seinem soliden Wahlkampf, sie belegt, dass er ankommt bei den Leuten, dass sie ihm glauben. Und er hat ja als Bundesfinanzminister eine wirklich gute Figur gemacht neben der CDU-Kanzlerin Angela Merkel. Scholz hat mit seinen Bazooka-Auftritten, seinem Wumms die Milliarden-Hilfen gestemmt, die den Corona-Geschädigten helfen sollen, über die Runden zu kommen. Und natürlich hat man nicht vergessen, dass der SPD-Politiker in die Hochwassergebiete an Ahr, an der Erft, in Bayern,Rheinland-Pfalz und NRW geeilt war, um den Menschen zu garantieren: Wir helfen Euch beim Wiederaufbau. Aber er sagt an dieser Stelle auch, es sei gut, dass die Umfragen der SPD Rückenwind gäben. Das braucht er, die Zweitstimme ist die Kanzler-Stimme. Die SPD müsse aus dieser Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger mehr machen und viele Menschen überzeugen.
Scholz ist im Wahlkampfmodus, was aber bei ihm nicht heißt, dass er allzulaut auf den Putz haut. Er schreit nicht, tobt sich nicht aus, er bleibt seiner Linie treu, wie man ihn kennt. Nüchtern, sachlich, ja entspannt, hin und wieder freundlich. In Bochum legt er einen Zahn zu, wirkt an der einen oder anderen Stelle fast schon leidenschaftlich, kämpferisch. So als er betont, unter der Führung der SPD werde Deutschlands Zukunft gelingen. Er greift die Union an, wirft ihr vor, die Probleme des Landes nicht offen anzusprechen und anzupacken, er gibt dem CDU-Wirtschaftsminister Peter Altmeier einen mit. Jetzt müssten die Weichen gestellt werden, damit die 20er Jahre gut würden, Durchwursteln helfe nicht weiter, Durchlavieren auch nicht. Der Beifall sagt ihm, dass er richtig liegt mit seiner Rede und mit seinem Ton.
Ja, Deutschland brauche einen Aufbruch, eine Regierung, die die Zukunftsaufgaben anpacke. Seine Regierung meint er, die er anführe. Zu Koalitionen äußert er sich hier nicht, das ist auch richtig. Erst muss gewählt werden, dann wird gezählt. Und dann wird man sehen, wer mit wem zusammengeht, was inhaltlich passt. Scholz legt sich fest und lehnt Steuersenkungen für Gutverdiener ab, weil er sie in der jetzigen Situation, wo es gewaltige Aufgaben zu meistern gelte, für „unmoralisch“ hält, für „unfinanzierbar“ und für „unsolidarisch“. Er beschwört den Zusammenhalt der Gesellschaft und die Solidarität in der Gesellschaft. Was Deutschland durch die Pandemie getragen habe, müsse auch als Prinzip in vielen anderen Lebenslagen gelten.
Respekt ist das Zauberwort
Respekt ist sein Zauberwort, Respekt für die Arbeitsleistung der anderen, Anerkennung und Wertschätzung für die Arbeit von Handwerkern, Paketboten, Pflege- und -Reinigungskräften.“Niemand darf und soll sich als was Besseres fühlen“, sagt er und erntet den Beifall. Das mit der Gleichheit und der Solidarität, das kennen sie an der Ruhr. Gesellschaftliche Anerkennung müsse sich aber auch in der Bezahlung widerspiegeln. Deswegen verspricht er, in seinem ersten Jahr als Kanzler den Mindestlohn auf 12 Euro anzuheben. Dies würde für zehn Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr Geld bedeuten. Ordentliche Bezahlung sollen aber auch die anderen Corona-Helden bekommen, die Pfleger, die Sanitäter, die LKW-Fahrer, die Frauen und Männer an den Kassen der Supermärkte. Pro Jahr sollen mindestens 400000 neue Wohnungen gebaut werden. „Das ist kein Hexenwerk. Man muss es nur anpacken.“ Der Kanzlerkandidat betont die Notwendigkeit stabiler Renten. Nötig sei eine „Garantie stabiler Renten besonders für junge Leute, die viele Jahrzehnte Beiträge“ zahlten. Eine weitere Steigerung des Renteneintrittsalters lehnte er ab.
„Wir packen die Zukunft an“, ruft er den Leuten zu. „Mit uns wird es gelingen.“ Die SPD wirkt geschlossen wie lange nicht mehr. Der Kanzlerkandidat Olaf Scholz, den sie als Parteichef nicht wollten, macht ihnen Mut und Hoffnung. „Wir wollen“, sagte Generalsekretär Lars Klingbeil, „dass Olaf Scholz der nächste Bundeskanzkler wird.“ Es ist zwar richtig, dass Klingbeil das auch sagen muss, aber es ist lange her, dass eine solche Aussage so selbstbewusst geäußert wurde. Scholz ist nah dran und er hat einen Lauf. Und Kondition. In sechs Wochen wissen wir mehr.