Schon lange nicht mehr hat der Wert der Arbeit so im Mittelpunkt der gesellschaftlichen und politischen Diskussion gestanden wie heute. Viele Ereignisse haben dazu beigetragen, haben mit krisenhaften Folgen die Menschen aufgeschreckt und aufgeregt, haben das Augenmerk auf das Wesentliche gelenkt, haben deutlich gemacht, dass nichts selbstverständlich oder gar dauerhaft ist, weder Wohlstand noch gesellschaftlicher Zusammenhalt noch demokratische Stabilität. Nichts kommt von selbst, schon gar nicht ist unsere wirtschaftliche und soziale Entwicklung ohne die Arbeitsleistung der Menschen zukunftsfähig, ganz gleich an welcher Stelle, in welcher Weise und in welcher Funktion diese Arbeit geleistet wird. Diese Erkenntnis wird inzwischen wieder Allgemeingut.
In dieser Situation kommt dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und seinen Mitgliedsgewerkschaften das große Verdienst zu, die mit dem Wert der Arbeit untrennbar verbundene Bedeutung für den einzelnen Menschen und die gesamte Gesellschaft in den Mittelpunkt des politischen Diskurses zu rücken. „Arbeit aufwerten – Demokratie stärken“, heißt das vom DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann herausgegebene Buch, in dem alle Gewerkschaftsvorsitzenden ihre Vorstellungen über gewerkschaftliche Gestaltungsperspektiven aufgeschrieben haben. „Mit diesem Buch wollen wir verdeutlichen, wofür DGB und Gewerkschaften stehen und wie sie ihre Ziele, Arbeit aufzuwerten und Demokratie zu stärken, aus den jeweiligen branchenspezifischen Perspektiven verwirklichen wollen“, schreibt Reiner Hoffmann in der Einleitung. Und weiter heißt es im Klappentext des Buches: „Ein Leben in Würde, materielle und soziale Sicherheit, Anerkennung und gesellschaftliche Teilhabe – dies macht den Wert der Arbeit aus.“
Die großen Krisen der letzten 15 Jahre haben eines zutage befördert: Gute Arbeit ist die Grundlage für die Wertschöpfung im eigenen Land und ohne diese Wertschöpfung gibt es keinen Wohlstand. Schon in der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise wurde schnell klar, dass Deutschland deshalb besser durch die Krise kam, weil es auf eine starke industrielle Produktion mit stabilen Wertschöpfungsketten bauen konnte. Das ist besonders bemerkenswert, weil einige Jahre vorher vor allem von vielen sogenannten Wirtschaftsexperten verlangt wurde, ohne das Bundeskanzler Gerhard Schröder sich davon beeindrucken ließ: Lasst eure alte Industrie auslaufen und setzt stattdessen auf Finanzdienstleistungen, dann geht es euch besser. Pustekuchen! Die Finanzbranche brach zusammen und war nur noch mit öffentlichen Finanzhilfen am Leben zu halten.
Auch während der besonderen Herausforderungen im Gefolge der sogenannten Flüchtlingskrise wurde schnell klar, dass Deutschland mit dem Zuzug vieler Menschen auch deshalb besser als andere Länder klarkommen konnte, weil es einen aufnahmefähigen und aufnahmebereiten Arbeitsmarkt hat, der Chancen für die geflüchteten Menschen bietet, sich durch Arbeit eine neue Existenz aufzubauen. Und in den Zeiten von Corona zeigt sich, dass die im öffentlichen Ansehen nicht gerade besonders geschätzten Arbeiten im Lebensmittelmarkt, in der Pflege, in den Krankenhäusern, in der Post- und Paketzustellung, in der Spedition und Logistik existenziell für unsere Gesellschaft sind. Ja: Arbeit ist nicht alles, aber ohne gute Arbeit ist alles nichts!
„Erwerbsarbeit ist die wichtigste gesellschaftliche Integrationskraft“, stellen die Gewerkschaften in dem Buch heraus und nennen als Konsequenz: „Um diese auch zukünftig zu gewährleisten, muss gute Arbeit gesichert und erweitert werden – und zwar als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Stärkung der Tarifbindung und Mitbestimmung, Einführung einer Bürger*innenversicherung, Entprivatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge und Bildungsgerechtigkeit gehören zu den notwendigen Wegmarken zur Aufwertung der Arbeit und damit zu einer gelingenden sozialen Nachhaltigkeit im wirtschaftlichen Transformationsprozess.“
Das ist eine klare Ansage an die Adresse der Parteien vor der Bundestagswahl und eine deutliche Positionierung der Gewerkschaften, die auch Orientierung für ihre Mitglieder vor der Wahlentscheidung am 26. September bietet. Besonders für die SPD ist das eine große Chance, der Öffentlichkeit wieder stärker ins Bewusstsein zu rufen, dass sie als die Partei der Arbeit der Garant für soziale und wirtschaftliche Stabilität und Sicherheit ist. Und dass es ihr vor allem um Gute Arbeit geht.
„Eine Politik für Gute Arbeit ist der Schlüssel für soziale Gerechtigkeit, gesellschaftlichen Zusammenhalt, für ein gutes Leben und eine nachhaltige Entwicklung“, schreibt der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann und weiter: „Eine solche Politik muss hohe Ansprüche erfüllen. Sie muss Arbeitsplätze mit verlässlichen Zukunftsperspektiven schaffen, ausbauen und dauerhaft sichern. Sie muss qualitativ hochwertige Arbeitsbedingungen gewährleisten, die ein materiell gutes Auskommen sichern, die der Gesundheit nicht schaden, die den Ansprüchen von Menschen nach Sinn, Selbst- und Mitbestimmung genügen, Wertschätzung durch Arbeitgeber*innen und öffentliche Anerkennung mit sich bringen und die Umwelt nicht zerstören. Und sie muss neben den Arbeitsbedingungen auch die Lebensbedingungen in den Blick nehmen, indem sie nicht zuletzt für bezahlbaren Wohnraum sorgt.“
Hoffmann erinnert daran, dass der DGB schon seit längerer Zeit „Medien, Öffentlichkeit und Politik stärker für das Thema Arbeitsbedingungen zu sensibilisieren“ versucht und „eine breite Debatte darüber“ führen will. Deshalb habe er 2007 den Index Gute Arbeit ins Leben gerufen. Seitdem würden für die Index-Erstellung auf empirisch wissenschaftlicher Grundlage jährlich bundesweit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gefragt, wie sie ihre Arbeitssituation bewerten. Sie kommen also als Experten ihrer Arbeitswelten selbst zu Wort. Für die Politik ist der Index ein großer Steinbruch, für die SPD müsste er zudem ein Anstoß sein, sich wieder ganz konkret und verstärkt um die Arbeitswelt zu kümmern. Reiner Hoffmann nennt als besonders gute Politik für bessere Arbeitsbedingungen das von der damaligen sozialdemokratisch geführten Bundesregierung unter Kanzler Helmut Schmidt 1975 eingeführte Programm „Humanisierung der Arbeitswelt“, das 1989 ausgelaufen ist.
Eine Neuauflage unter den Bedingungen von heute ist längst überfällig. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Arbeitsministerium haben immer wieder und Schritt für Schritt für Verbesserungen in der Arbeitswelt gesorgt. Das gilt auch in der sogenannten Großen Koalition für Minister Franz Müntefering, für Minister Olaf Scholz, für Ministerin Andrea Nahles, auch für Minister Hubertus Heil. Der große Wurf scheiterte aber immer am Bundeskanzleramt und der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Auch deshalb ist es gut und richtig, dass die Gewerkschaftsvorsitzenden sich aus ihrer Erfahrung und Verantwortung zu Wort melden und Wege nach vorn aufzeigen.
Olaf Scholz hat jedenfalls deutlich herausgestellt, dass eine von ihm geführte Bundesregierung die Arbeitswelt, die Arbeitsbedingungen für die Menschen besonders in den Blick nehmen wird. Er ist ein herausragender und erfahrener Politiker. Er genießt deutschlandweit und international großes Ansehen. Sein unaufgeregtes Auftreten und seine Fähigkeit zur gründlichen Analyse komplizierter Sachverhalte finden viel Zustimmung bei den Menschen. Sein jahrzehntelanges politisches Wirken ist immer an den tatsächlichen Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet. Ihnen soll es gut gehen. Dafür setzt er sich ein, geduldig und beharrlich. Auch die Gewerkschaften wissen das zu schätzen.
Olaf Scholz ist nicht auf die schnelle Schlagzeile aus, er konzentriert sich darauf, tragfähige Lösungen zu erarbeiten, notwendige Veränderungen Schritt für Schritt durchzusetzen. Ihm geht es darum mitzuhelfen, dass die Menschen sich auf Veränderungen in ihrem Leben einlassen können, weil ihnen bewusst ist, mit ihm und seiner Politik gibt es soziale Sicherheit in diesen Veränderungsprozessen. Olaf Scholz hat Respekt vor der Leistung der Menschen in ihrem Arbeitsalltag, in ihrer Familie, in ihrer Freizeit, in ihrem Einsatz für sich selbst und für andere. Und diesen Respekt vor der Lebensleistung jedes einzelnen Menschen will er auch in der Gesellschaft und in der Politik durchsetzen. Ihm geht es um den Wert der Arbeit, für die Gewerkschaften ist das ganz entscheidend.
Heute müssen die Weichen in die Zukunft gestellt werden. Und sie müssen richtig gestellt werden. Damit die Richtung stimmt und Fahrt aufgenommen wird, um für die Menschen in Deutschland Wohlstand auch in den nächsten zehn, zwanzig, dreißig Jahren zu sichern. Wer jetzt zögert und zu viel Rücksicht auf einzelne Interessengruppen und Lobbyisten nimmt, verspielt unsere Zukunftschancen. Olaf Scholz ist entschlossen und bereit, mit Investitionen und Innovationen den Weg für eine klimaneutrale Produktion und Wirtschaft zu ebnen, mit den Chancen der Digitalisierung eine neue industrielle Revolution einzuleiten. Das erfordert Mut und das braucht Bündnispartner – in der Politik wie in der Gesellschaft.
Die Gewerkschaften sind ein solcher Bündnispartner. Ihnen geht es darum, wie sie schreiben, dass „der rasante Wandel in Wirtschaft und Arbeitswelt zukünftig so gestaltet werden kann, dass nicht primär Verunsicherung und wachsende Zukunftssorgen in der Gesellschaft das Ergebnis sind – sondern vielmehr eine umfassende Anerkennung des Werts von Arbeit, der weit über die rein materielle Existenzsicherung hinausgeht und gerade auch in ihrem wichtigen Beitrag zur sozialen und damit demokratischen Teilhabe liegt“. Insofern ist das Buch nicht nur eine Steilvorlage für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, sondern auch eine Aufforderung, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Es ist längst nicht vergessen, dass die Sozialdemokratie ihre Fortschrittspolitik immer mit der klaren Erkenntnis verbunden hat, dass die heimische Wirtschaft, vor allem die Industrie mit ihrer Innovationskraft, der Qualifikation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Mitbestimmungskompetenz ihrer Gewerkschaften als Problemlöser gebraucht und gewollt wird. Daran anzuknüpfen, ist die große Chance der SPD, ihre industrie- und arbeitsmarktpolitische Kompetenz wieder zu stärken und neues Vertrauen in ihre politische Gestaltungskraft zu gewinnen. Vor allem ihre angestammte Rolle, sozialen Frieden herzustellen und zu sichern, kann die SPD damit wieder ausleuchten. Besonders in Zeiten gesellschaftlicher, kultureller, wirtschaftlicher und sozialer Umwälzungen beweist sich, wie wichtig sozialer Friede für den Zusammenhalt und die demokratische Stabilität unserer Gesellschaft ist. Sozialer Friede fällt aber nicht vom Himmel, er ist auch nicht ein Abfallprodukt wirtschaftlicher Prosperität, sondern sozialer Friede muss politisch gewollt und gepflegt werden. Eine Politik, die auf sozialen Frieden zielt, darf niemand ausgrenzen oder an den gesellschaftlichen Rand drängen. Sie muss stattdessen Chancengleichheit für alle Menschen herstellen. Das ist eine Daueraufgabe, weil Menschen unterschiedlich sind, unterschiedliche Begabungen und Talente haben, auch unterschiedliche Beeinträchtigungen. Das muss bei gezielter und zielorientierter Förderung berücksichtigt werden. Eine Politik also, die Unterschiedlichkeit hinnimmt und duldet, zielt nicht auf sozialen Frieden und ist deshalb gefährlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wie für die wirtschaftliche Entwicklung. Sozialer Friede in unserer sozialen Marktwirtschaft ist das Ergebnis von sozialem Fortschritt und Mitbestimmung, er ist also auch ein wichtiger Produktionsfaktor. Heute ist sozialer Friede aber noch mehr. Er bietet die Sicherheit für die Menschen, sich auch auf rasante Veränderungen einzulassen, Wandel als Chance aufzunehmen. Für einen solchen Weg, für eine solche Politik bietet das Buch viele gelungene Beispiele und lesenswerte Beiträge.
Mit Beiträgen von Reiner Hoffmann, Jörg Hofmann, Michael Vassiliadis, Frank Werneke, Marlis Tepe, Robert Feiger, Guido Zeitler, Klaus-Dieter Hommel, Oliver Malchow, Elke Hannack, Stefan Körzell, Anja Piel.
Dietz-Verlag, ISBN 978-3-8012-0609-3