Er traut sich was, überschrieb t-online den Kommentar zu Cem Özdemirs Ankündigung, er wolle Ministerpräsident von Baden-Württemberg werden und damit Nachfolger seines Grünen Parteifreundes Winfried Kretschmann. Eine Überraschung ist das nicht unbedingt mehr, man hatte seit Monaten mit einer entsprechenden Erklärung gerechnet. Lange hatte Özdemir gewartet oder soll man sagen gezögert, gezaudert, jetzt vertrug die Sache keinen Aufschub mehr, weil die Listen für die Bundestagswahl 2025 im November aufgestellt werden. Und da muss sich der Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir eben entscheiden, ob es ihn weiter ins ferne Berlin zieht oder ins heimische Stuttgart. Er hat sich für den Kampf um die Chefrolle in der Villa Reitzenstein festgelegt, dem Sitz des Ministerpräsidenten. 2026 ist die Landtagswahl, Kretschmann wäre dann 78 Jahre alt, er hat früh gesagt, dass dann Schluss sei für ihn. Für Cem Özdemir ist der Weg riskant, aber was ist in der Politik schon sicher.
„2026 will ich Ministerpräsident meiner wunderbaren Heimat werden.“ So die Erklärung des 58jährigen Cem Özdemir im Netz. Der Mann mit dem türkischen Namen ist in Bad Urach geboren, er ist also ein richtiger Schwabe, was man hören kann, wenn er mit den Leuten redet. Das ist echt. Wie seine Verbundenheit mit der Region natürlich ist, sein Bundestagswahlkreis ist Stuttgart. Und doch wartete die Öffentlichkeit lange, ob er es denn machen, sich trauen werde, den Hut in den Ring zu werfen. Denn die Uhr läuft nicht nach dem Wunsch der Grünen, sie sind in der Beliebtheitsskala abgestürzt, im Bund und auch im Ländle, trotz eines Winfried Kretschmann, der beliebt ist im Volk, geachtet, der im Stil eines Landesvaters dieses wirtschaftlich erfolgreiche Land seit 2011 regiert, erst mit der SPD, dann mit der CDU. Es muss die Christdemokraten ziemlich wurmen, wie dieser Grünen-Politiker ihnen die Show stiehlt. Kretschmann lässt sich vom politischen Gegner nicht in eine Verbots- oder Verweigerer-Ecke drängen. Er ist der Chef und macht Politik fürs Land, für die Menschen, nicht in erster Linie nur für die Grünen. Für die zwar auch, aber er weiß genau, was er tun muss, damit die Mehrheit der Menschen in Baden und Württemberg ihn, den Grünen, der einst Kommunist war, schätzt, ja sogar mag. Und natürlich fährt der Ministerpräsident auch einen Daimler. Da lässt sich einer wie Kretschmann nichts vormachen, die Firma mit dem Stern ist schließlich das Aushängeschild des Landes in der Welt.
Dem Alten nacheifern
Ob Cem Özdemir dem Alten nacheifern wird? Ein Stück weit gewiss, aber auch nicht zu viel. Özdemir ist lange genug in der Politik zu Hause, um zu wissen, dass ein Wechsel immer ein Risiko ist, weil die Leut, wenn es gut läuft, Veränderungen scheuen. Deswegen wird er vorsichtig, umsichtig hantieren, Veränderungen dürfen die Menschen nicht erschrecken, sie müssen Sinn machen, die Menschen müssen sie verstehen als Hilfen für sich. Das ist die Kunst, die der Amtsinhaber beherrscht. Einem Kretschmann wäre ein Heizungsgesetz a la Habeck nicht passiert. Reformen ja, Revolutionen nein. Am deutschen Wesen muss die Welt nicht genesen. Der Benziner wird noch Jahre laufen, der Umstieg auf umweltfreundlichere Autos muss gelingen, aber nicht von heute auf morgen und nicht zu Lasten der deutschen Auto-Industrie. Vor kurzem sah ich einen Bericht über Toyota. Ja, die lachen sich doch über manches bei uns tot.
Nein, Özdemir wird keine Kopie von Kretschmann werden. Das würde nicht wenige eher langweilen. Er muss seinen eigenen Weg finden. Und noch ist er nicht gewählt Als Bundeslandwirtschaftsminister hat er auch die Probleme der Ampel mitzutragen, die Bauern-Proteste bekam er am eigenen Leibe zu spüren. Die Pfiffe und Buh-Rufe werden ihm nicht gefallen haben. Aber so ist das, wenn man aufsteigt und gerufen und berufen wird zu einem Ressort-Chef, der man eigentlich nicht sein wollte. Oder wie war das noch damals? Der Grünen-Linke aus München jedenfalls war nicht begeistert, als er davon erfuhr, nicht dem Kabinett anzugehören. Also wurde Anton Hofreiter eine Art Waffen-Spezialist, Außenministerin Annalena Baerbock.
Die Grünen waren in Baden-Württemberg schon früh eine politische Kraft, die zählte. Sie waren die ersten Grünen, die als Fraktion in einen Landtag einzogen. Die älteren Jahrgänge werden sich noch an die Anfänge der Debatte um die Kernenergie erinnern. Daran, dass die Pläne für einen Atomreaktor in Whyl am Widerstand der Bürgerinnen und Bürger im Ländle scheiterten. Die Lichter im Land gingen deshalb nicht aus, wie das prognostiziert worden war. 2011 wurden die Grünen im Land zwischen Mannheim, Karlsruhe, Stuttgart und Freiburg zweitstärkste Kraft bei der Landtagswahl, sie überholten die SPD. Und sie schafften es, die siegesgewohnte CDU als Regierungspartei abzulösen. Nach 58 Jahren hatte Baden-Württemberg erstmals eine Landesregierung ohne CDU-Beteiligung. Letzteres verdankte die Christenunion vor allem auch ihrem umstrittenen Regierungschef Stefan Mappus. Eines der beherrschenden Themen war damals Stuttgart 21, gegen das Tausende und Abertausende Sturm liefen. Die Kosten des Umbaus des Hauptbahnhofs Stuttgart- es handelt sich um eine Tieferlegung- liefen aus dem Ruder wie der Zeitplan. Das Projekt ist immer noch nicht fertig. So wuchs die Macht der Grünen, die dann in der Folge auch viele OB-Ämter eroberten, zum Beispiel in Stuttgart und in Tübingen. Die Grünen-Mitgliederzahl in Baden-Württemberg ist inzwischen angewachsen auf über 17000, darunter 40 Prozent Frauen. Zum Vergleich: die CDU hat im Lande über 54000 Mitglieder.
Wechsel aus purer Angst?
Cem Özdemir traut sich was. Das kann man so sehen. Die Schuhe seines Amtsvorgängers sind groß. Ein Grüner, ein christlicher Mensch, der sein Christentum lebt, ein Konservativer, ein Reformer, einer, der mit der Industrie kann und mit den Menschen im Lande. Alles, das ist Kretschmann. Oder ist es so, wie der „Spiegel“ titelt: Wechsel aus purer Angst?Gemeint Özdemir. Weil die Regierung Scholz/Lindner/Habeck die nächste Bundestagswahl verliert und die Grünen in der Opposition landen, weil CSU-Chef Markus Söder sein Veto einlegt gegen eine schwarz-grüne-Bundesregierung? Der bayerische Ministerpräsident hat ja die Grünen zum eigentlichen Gegner erklärt, weil man mit dieser Verbots-Partei nicht regieren könne. So ähnlich und viel schlimmer lauteten in der Vergangenheit die Anwürfe Söders gegen die Grünen. Dann doch lieber ein Ministerpräsident Özdemir? Doch da möchte ich widersprechen. Cem Özdemir kann die Landtagswahlen gegen eine erstarkte CDU unter Führung von Manuel Hagel(36) verlieren. Und zwar so, dass die Grünen auch in Stuttgart auf der Oppositionsbank landen. In Umfragen liegt die CDU mit über 30 Prozent meilenweit vorn, die Grünen abgeschlagen bei einem Wert von 18 Prozent. Es heißt, die CDU umwerbe die FDP und die SPD.
15 Jahre regierte Kretschmann Baden-Württemberg. Und jetzt soll wieder ein CDU-Mann regieren? Wie all die anderen Schwarzen vor ihm, also Müller, Kiesinger, Filbinger, Späth, Teufel, Oettinger, Mappus. Nur Reinhold Maier(FDP/DVP) und Winfried Kretschmann(Die Grünen) waren keine CDU-Mitglieder. Kann einer wie Cem Özdemir die Erfolgsgeschichte der Grünen in Baden-Württemberg fortsetzen? Und eine Erfolgsgeschichte ist es. Özdemir müsste gegen den Trend ankämpfen, der Trend ist augenblicklich kein Fan der Grünen, auch wenn die Umweltthemen wichtig sind, die Erde, wenn man so will, um ihr Überleben kämpft, wenn quasi täglich irgendwo auf der Welt dieselbe unterzugehen scheint. Der Trend zeigt für die Grünen in den Abgrund. Kann Özdemir diesen Weg stoppen? Er ist ja ein Mann des klaren Wortes, er kann Wahlkampf. Einer wie er legt sich mit dem Türkei-Präsidenten Erdogan an, da fürchtet er sich nicht, wenn es um Menschenrechte geht. Einer wie er kritisiert Männer mit Migrationshintergrund, weil Frauen sich von ihnen belästigt fühlen. Dass man ihn deswegen einen Rassisten nennt, finde ich lächerlich und abwegig. Einer wie er lässt sich auch im Netz nicht einfach beschimpfen. So verklagte er einen Nutzer, der ihn im Netz einen Drecksack geheißen hatte. Das Gericht gab Özdemir Recht, der Beklagte musste ein Schmerzensgeld von 600 Euro blechen.
Kritik von der CDU
Cem Özdemir bringe alles mit, was man brauche, um Landeschef in Baden-Württemberg zu werden, lobte der Amtsinhaber und schob nach: „Er ist ein geborener Schwabe.“ Er hat Regierungserfahrung und ist über Parteigrenzen hinweg ein geschätzter Politiker. Er verbinde, so Kretschmann, eine klare Haltung mit pragmatischem Handeln. „Uns beide verbindet die Überzeugung, dass das Wohl des Landes immer an erster Stelle steht- und nicht die Partei oder der persönliche Ehrgeiz.“ Und natürlich folgten die Lobeshymnen von Baerbock bis Habeck, was denn sonst. Bodenständig, der Beste fürs Land, seine Biographie steht für alles, was dieses Land stark macht. Yes, wie Cem, schrieb die scheidende Grünen-Chefin Ricarda Lang. Die Grünen-Jugend erwartet was von Özdemir, er müsse beweisen, dass er auch „bei
Gegenwind für die Werte und Beschlüsse der Partei eintritt.“ Kritik äußerte die CDU, die ja zumindest bis zur Wahl 2026 mit den Grünen weiter regieren wird, aber natürlich eigene Ambitionen im Auge hat. „Nach der Berliner SPD-Ampelministerin Faeser in Hessen versucht die Berliner Ampel jetzt ihre zweite Fachkraft in die Landespolitik weg zu versorgen.“, erklärte die CDU-Landesgeneralsekretärin Nina Warken. „Das B in Baden-Württemberg steht aber definitiv nicht für Plan B. Unser Land ist zu schade als Alternative für die gescheiterten Außenminister-Karrieresehnsüchte des Herrn Özdemir.“ Und nebenbei schenkte Frau Warken Herrn Özdemir noch ein paar ein, indem sie ihm „Dauer-Moralisiererei“ und Verbotspolitik vorwarf. Es klingt so, als habe der Wahlkampf im Ländle schon begonnen.
Lassen wir noch einmal Winfried Kretschmann zu Wort kommen, über den es gelegentlich heißt, der habe immer Recht. Die Lage der Partei sei „schwierig, aber nicht aussichtslos“. Zumal der Schuldige für das Negative der Lage ja die Bundespolitik ist. Und der gewiss nicht uneitle Ministerpräsident Kretschmann fügte dann noch an, dass die Antistimmung weniger seine Politik im Land beträfe als die der Ampel. Und dass derselbe Kretschmann Ermüdungserscheinungen erkennen lasse, das mögen politische Beobachter schreiben, der Amtschef hat an anderer Stelle kürzlich betont, dass er bis zum Ende der Legislaturperiode arbeiten werde und noch vieles vorhabe.
Und Cem Özdemir? Wie könnte seine Lebensgeschichte im Wahlkampf aussehen, sein Narrativ, wie es neudeutsch heißt, das ihm Stimmen bringen soll auf dem Land, in den Städten, in den Hochschulen, bei Frauen und Männern. Der kleine Cem, in Bad Urach am Fuß der schwäbischen Alb als Sohn türkischer Gastarbeiter geboren, der es durch Bildung ganz nach oben geschafft hat, an die Spitze der Grünen, an die Spitze des Bundeslandwirtschaftsministeriums, und vielleicht bald an die Spitze seines Heimatlandes. So ähnlich stand es bei t-online, Klingt fast kitschig. Aber wenn wir schon mal dabei sind, könnte ich noch hinzufügen, dass der Mann schwäbisch schwätzen kann. Er sagt Moscht, wenn er Most meint.
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