Energie sparen, Organe spenden oder ins Urinal pinkeln – und nicht daneben. Dinge, die ein jeder befürwortet, deren Einhaltung anscheinend nicht besonders vielen Leuten wichtig ist. Die Regierung will helfen und den Bürgern einen Anschubs geben – mit Nudging. Doch darf sie das? Eine kleine Diskussion zwischen gesellschaftlicher Notwendigkeit und überflüssiger Bevormundung.
Der Anfang dieses Beitrages spricht vorrangig die männliche Zunft an. Viele von Ihnen kennen das: Auf öffentlichen Pissoirs findet man häufig kleinere Symbole in selbigen, die den Pinkelnden ein Ziel geben sollen. Ab und an lassen sich sogar kleine Fußbälle „bespielen“, die in ein Miniatur-Tor bugsiert werden sollen. Was für viele nur die Verbindung von notwendigem Bedürfnis und kurzweiligem Zeitvertreib darstellt, ist für Putzkräfte ein Segen. Angeblich pinkeln Männer dank der Zielvorrichtung um 80 Prozent genauer!
Diese Pinkel-Targets werden unter den Begriff des Nudging angesiedelt. Nudging („anstupsen“) ist bisher noch recht unbekannt, betrifft aber die meisten von uns. Mit Nudging versucht man, das Verhalten anderer in eine bestimmte Richtung zu lenken, ohne dabei die Wahlmöglichkeiten der betroffenen Person einzugrenzen. Zweifelsohne hat man beim Urinal-Beispiel auch die Möglichkeit, völlig vom gewünschten Verhalten abzuweichen, auch wenn dies wenig sozial wäre. Ein weiteres Beispiel findet sich in Portugal: Damit Steuerbetrug klein gehalten wird, sollen Verbraucher mit Quittungen Luxusautos gewinnen können. Das Land im Westen Europas kämpft damit, dass Kunden oft keine Rechnung verlangen, allerdings wird nur dann auch eine Mehrwertsteuer fällig. Mit dem Vorhaben sollen Steuern in die maroden Staatskassen fließen. Alles kostenlos und freiwillig, zumindest für den Verbraucher.
„Wirksam regieren“ der Bundesregierung
Was die portugiesische Regierung kann, sollte doch in Deutschland genauso möglich sein. So ähnlich dachte es sich wohl auch die Bundesregierung, als sie verkündete, sich mit dem „Wirksam regieren“-Programm das Nudging auf die Fahnen zu schreiben. Hierfür sollen Psychologen und Wirtschaftswissenschaftler in einer Arbeitsgruppe ermitteln, wie man am besten das Volk dazu bekommt beispielsweise mehr Energie zu sparen oder Organspender zu werden. Eine Idee dabei: Damit Deutschland das Land der Organspender wird, sind alle von Geburt an Spender. Wer nicht will, muss eine Erklärung mit sich führen, dass er das nicht möchte. Auch der Wunsch der Regierung bis 2020 eine Million Elektroautos in Deutschland zu sehen, kann durch Nudging vorangetrieben werden. Beispiel: Elektrofahrzeuge dürfen Busspuren benutzen oder auch umsonst innerstädtisch parken. Man sieht also, dass der Staat mit Verhaltensanreizen den Bürger so beeinflussen möchte, dass dieser sich „besser“ verhält.
Das Volk will viel, tut wenig.
Das Problem ist. Die meisten befürworten es, Organspender zu sein. Energie sparen und was für die Umwelt tun, ist allgemein anerkannt, auch mehr Bewegung oder die eigene Altersvorsorge abzusichern, befürwortet die Mehrheit. Doch die Wenigsten halten sich an diese simplen Regeln. Kein Wunder, sind doch nach der Arbeit Sofa sowie deftiges Essen reizvoller als Sport und Gemüse. Jeder ist gewillt Gutes für andere oder zumindest für sich zu tun, aber nicht mehr heute und warum ich und sowieso. Im Prinzip erscheint also ein leichtes Anschubsen der Regierung da als ein notwendiges Übel, damit wir uns insgesamt besser, aber auch gesellschaftlicher verhalten. Das eigene Handeln wird zwar beeinflusst, aber jeder bleibt frei in seinen Entscheidungen. Wie auch in der Erziehung gegenüber Kindern helfen Anreize wohl sicher mehr als die ungeliebte, aber auch reizvolle Welt der Gebote und Verbote.
Aber Bürger würden sich nur ungern das eigene Handeln als kindlich bezeichnen lassen. Auch wenn die Ergebnisse positiv sein können, nimmt doch eine andere Person oder in diesem Fall eine Regierung Einfluss auf das eigene Handeln. Das kann niemand gutheißen. Verbote und Gebote werden zwar von den meisten kritisiert, aber sie sind in einer Art und Weise ehrlich. Sie werden schlussendlich oft hingenommen und – wichtiger noch – akzeptiert. Wenn nun die Regierung plant vor allem unterschwellig, gar unbemerkt von Bürger dessen Verhalten in eine bestimmte Richtung zu steuern, wird die Empörung riesig werden. Kritiker beschreien diese neue Idee des Nudging als paternalistisch und sehen den Bürger bevormundet. Tatsächlich bezeichnen die geistigen Schöpfer des Nudge, die amerikanischen Professoren Richard Thaler und Cass Sunstein, dies als libertären Paternalismus. Da sie der Meinung sind, Menschen würden nur begrenzt rational handeln, wäre Nudging unumgänglich.
Libertärer Paternalismus – ein Paradoxon
Die Professoren geben dem Nudging eine widersprüchliche Bezeichnung. Libertär ist freiheitlich, fast schon anarchistisch, während der Paternalismus die Bevormundung meint. Wer bevormundet wird, ist in der Regel wenig frei. Deshalb sollte der Paternalismus in einer Gesellschaft, in der die Bürger ihrem freien Willen folgen sollen, keinen Platz haben, egal, welches Attribut dem vorangestellt wird. Gesellschaftliche Normen und Regeln sollte eine Gesellschaft sich selbst geben können. Haben sich diese etabliert, werden sie als selbstverständlich hingenommen, wer sie nicht befolgt, wird darauf hingewiesen oder – je nach Umständen – geächtet. Die Organspende sollte für eine Normalität werden, ohne dass dabei der Staat diese als Freiwilligkeit verkauft, indem per Geburt jeder Spender ist.
http://www.welt.de/finanzen/article124948137/Portugal-bekaempft-Steuerbetrueger-mit-Luxusautos.html
Ich halte Nudging für eine gute Idee – auch wenn der Begriff in der Tat nicht ideal ist. In den USA wird oft von „choice architecture“ gesprochen – dieser Begriff macht deutlich, dass man in einer Marktgesellschaft nicht umhin kommt, *irgendein* Design für Wahlmöglichkeiten zu schaffen. Ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt – Nudging ist Alltag!
Hier noch einmal meine Position in etwas ausführlicherer Form: http://www.danielflorian.de/2014/08/26/angela-merkel-setzt-zu-recht-auf-nudging/