„Augen zu und durch war immer schon der falsche Weg“, sagt Ex-SPD-Chef Norbert Walter-Borjans im Gespräch mit dem Blog-der-Republik zur Debatte über die Stationierung von US-Marschflugkörpern als Reaktion auf entsprechende Raketen Russlands in Kaliningrad. Was er damit meint, ist auch die Art, wie versucht wurde, in der SPD, im deutschen Bundestag und am liebsten in der gesamten Öffentlichkeit eine angemessene Debatte zu umschiffen, ebenso wie der herablassende Ton, den Kritiker der Stationierung erfahren. So konnte man in einem Beitrag lesen, dass Rolf Mützenichs Haltung, der der Entscheidung kritisch gegenübersteht, als „irrlichternd“ abgetan wird.
Dabei ist das Thema ernst: US-Raketen allein in Deutschland zu stationieren, heißt mehr Abschreckung, aber auch ein Wettrüsten, ohne dass bei den Raketen-Befürwortern ein Hauch von Diplomatie einfließt in die Debatte, kein Hinweis darauf, wie man denn eines Tages den Krieg beenden könnte. Letzteres betont nicht nur der SPD-Fraktionschef Mützenich, sondern auch ein SPD-Urgestein wie Klaus von Dohnanyi. Beide müssen, wenn sie so reden, damit rechnen, als Träumer hingestellt zu werden, während die Raketen-Freunde als Experten gelten. Als wenn mehr Waffen mehr Sicherheit oder gar den Frieden brächten.
Es verwundert in der Tat, dass eine Debatten-Partei, wie die SPD immer eine war, ausgerechnet bei diesem Thema weitgehend schweigt. Ausnahmen sind eben Mützenich, Dohnanyi, Walter-Borjans, der Erhard-Eppler-Kreis(benannt nach dem früheren Entwicklungshilfeminister und Anhänger der Friedensbewegung), der sich mit einer Erklärung, die auch im Blog-der-Republik veröffentlicht wurde, zu Wort gemeldet hatte. Dohnanyi hatte darauf hingewiesen, dass die SPD traditionell eine Friedenspartei gewesen sei. Im Buch „Wir Kinder des 20. Juli“(Autor Tim Pröse) wirft der frühere Hamburger Bürgermeister seiner Partei vor, sich zu wenig für den Frieden einzusetzen. „Eine SPD ohne eine erklärte, hörbare und offensive Friedenspolitik ist keine SPD mehr“. Der Krieg gegen die Ukraine sei zu verhindern gewesen, behauptet Dohnanyi, wenn die Bundesregierung und der Westen die Prioritäten anders gesetzt hätten. „Die Priorität müsste sein, uns vor den Folgen des Klimawandels zu schützen. Stattdessen kaufen wir Panzer für die Ukraine, weil wir nicht geholfen haben, einen Krieg zu verhindern, der verhinderbar war.“
Bush und der Irak-Krieg
Dohnanyi, ein enger Freund von Helmut Schmidt, ein unabhängiger Kopf wie der Ex-Kanzler, bezeichnet im Gegensatz zu den Politikern des Westens “ Putin nicht als Kriegsverbrecher“. Wörtlich wird Dohnanyi in dem erwähnten Buch zitiert: „Ich würde Präsident Bush ja auch nicht zum Kriegsverbrecher erklären und vor Gericht stellen, obwohl er ohne Zweifel einen noch folgereicheren Krieg im Irak geführt hat, mit sehr vielen Toten und ohne jeden Grund, wie wir alle heute wissen.“ Der Irak-Krieg der USA 2003- der damalige SPD-Kanzler Gerhard Schröder hatte eine deutsche Beteiligung abgelehnt, die damalige CDU-Oppositionschefin Angela Merkel hatte in einem Beitrag für die „Washington Post“ erklärt, Herr Schröder spreche nicht für alle Deutschen- war auf Lügen aufgebaut, der Irak unter Saddam Hussein verfügte über keine Massenvernichtungswaffen, wie Washington behauptet hatte. Der Krieg dauerte Jahre und kostete rund einer halben Million Menschen das Leben.
Norbert Walter-Borjans, Mitglied des Erhard-Eppler-Kreises, teilt die „tiefe Besorgnis“ mancher Sozialdemokraten „über die Schlagseite, mit der gegenwärtig über Pro und Contra einer Stationierung von US-Langstreckenraketen in Deutschland und Wege zu einem Ende des Blutvergießens in der Ukraine debattiert wird.“ Wie Rolf Mützenich warnen die Mitglieder des Eppler-Kreises „eindringlich davor, die Gefahren einer Stationierung mitten in Europa zu unterschätzen.“ Deutschland könnte zum „Schlachtfeld der Vorwärtsverteidigung der USA“ werden, wie es in einem Aufsatz heißt. Mützenich, immerhin der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, ein besonnener Mann, der dafür sorgt, dass der Kanzler im Bundestag die Mehrheiten bekommt für seine Politik, fühlt sich von Scholz übergangen, die Raketenentscheidung, getroffen am Rande eines NATO-Gipfels zwischen US-Präsident Biden und Bundeskanzler Scholz, hält der Kölner Sozialdemokrat für falsch. Ab 2026 sollen wieder landgestützte Marschflugkörper vom Typ Tomahawk sowie Raketen vom Typ SM-6 und neu entwickelte Hyperschallwaffen mit Reichweiten bis zu 2500 Kilometern auf deutschem Boden stationiert werden, die die russische Hauptstadt Moskau erreichen könnten. Theoretisch, darauf hatte Mützenich hingewiesen, könnten sie auch nuklear bestückt werden. Scholz zufolge werde damit eine Lücke bei der Abschreckung geschlossen. Die Stationierung soll nicht verteilt werden auf andere NATO-Staaten, sondern nur in Deutschland erfolgen. Lastenverteilung sieht anders aus.
Beschlossen von Biden und Scholz
Mützenich vermisst wie Walter-Borjans auch Initiativen, um mit Russland über neue Rüstungskontrollmechanismen zu reden. Auch wenn das zur Zeit als wenig wahrscheinlich angesehen wird und Mützenich wie Walter-Borjans und andere nicht bestreiten, dass Putin „offenbar nur eine Sprache versteht, nämlich die Härte“, muss man doch grundsätzlich darüber nachdenken, wie man mit dem Kreml-Chef ins Gespräch kommt. Die Frage darf gestellt werden, ob wir nicht schon heute über genügend Waffen verfügen, um Russland von einem Angriff abzuschrecken. Mehr Waffen bedeuteten mehr Sicherheit, dies habe ich schon immer für einen Trugschluss gehalten. Man mag über die nicht vorhandene Schlagkraft der über Jahre von CDU- und CSU-Verteidigungsministerinnen und -ministern vernachlässigte Bundeswehr klagen, die NATO als Ganzes dagegen verfügt gewiss über umfassende Abschreckungsmaßnahmen. Und weil das so ist, versteht Mützenich diese neue Maßnahme, beschlossen von Biden und Scholz, nicht. Dass die Raketen nur eine sehr kurze Vorwarnzeit hätten und sie die Gefahr einer unbeabsichtigten Eskalation noch steigern würden, ist seine große Sorge. So würde Deutschland einseitig ins Visier Russlands gestellt.
Norbert Walter-Borjans wie auch Mützenich können ihre Argumente auch mit Zitaten von Helmut Schmidt stützen. Der hatte schon 1961 gesagt: „Landgestützte Raketen gehören nach Alaska, Grönland, Labrador oder in die Wüsten Libyens oder Vorderasiens, keineswegs aber in dichtbesiedelte Gebiete; sie sind Anziehungspunkte für die nuklearen Raketen des Gegners. Alles, was Feuer auf sich zieht, ist für Staaten mit hoher Bevölkerungsdichte oder kleiner Fläche unerwünscht.“ Von Olaf Scholz, der sich im EU-Wahlkampf als Friedenskanzler plakatieren ließ, wünscht sich Norbert Walter-Borjans mehr Erklärung, zumal nach der Genehmigung des Einsatzes deutscher Waffen auf russischem Gebiet. Es gehe nicht um Glaubwürdigkeit, sondern um „nahbare Kommunikation“, der Kanzler müsse den Menschen „zugewandter“ darlegen, warum er der Friedenskanzler für Deutschland sei. (Frankfurter Rundschau)
Ziemlich einseitige Medien
Auch die mediale Berichterstattung hält Norbert Walter-Borjans „für ziemlich einseitig. Mit dem herabsetzenden Unterton: Wir müssen sicherheitspolitisch endlich erwachsen werden“, kann sich nicht nur er nicht anfreunden. Es klingt auch sehr überheblich. „Wer die Sorgen vieler für dumm erklärt, muss sich nicht wundern, wenn Populisten das Feld auf ihre Art beackern.“(FR)
Der Ex-SPD-Chef gibt sich inzwischen ein wenig erleichtert, dass die weitreichende Entscheidung über die Stationierung nicht nur die Öffentlichkeit beschäftigt, sondern dass seine Forderung, der Bundestag müsse damit befasst werden, u.a. geteilt wird von SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius. „Ein Thema, zu dem es nicht nur eine seriöse Meinung gibt, kann doch nicht im Alleingang getroffen werden in der Hoffnung, dass diese Entscheidung um des lieben Friedens willen geschluckt wird. Das ist nicht mein Verständnis von Führung noch von Geschlossenheit.“ Es geht um das Ringen um den richtigen Weg, eigentlich etwas, was die Volkspartei SPD früher auszeichnete. Ein solches Ringen muss im Bundestag stattfinden, im sogenannten Hohen Haus. Das Parlament entscheidet. Und nicht die Bundesregierung.