Bundespräsident Frank Walter Steinmeier war der Ideen- und Auftraggeber. 2020 betraute er den renommierten Zeithistoriker Norbert Frei, den Umgang der sechs Bundespräsidenten der alten Bonner Republik mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu untersuchen. Daraus ist ein spannendes Buch geworden, das seit Oktober vorliegt. Frei beweist: Es war ein langer Weg von 1949 mit Theodor Heuss bis zum letzten Bonner Präsidenten Richard von Weizsäcker (1994), Schuld und Verantwortung der Deutschen an den Nazi-Gräueln klar zu benennen.
„Im Namen des Volkes – Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit“ schließt eine wichtige Lücke. Denn während das Auswärtige Amt oder das Bundesjustizministerium ihre Vergangenheit und personellen Verstrickungen in der NS-Zeit längst aufgearbeitet hatten, war das Präsidialamt der Staatsoberhäupter ein weißer Fleck.
Bekannt war, dass Theodor Heuss als Reichstagsabgeordneter Hitlers Ermächtigungsgesetz zustimmte und damit einen Schatten auf seine Präsidentschaft als angeblicher „Glücksfall“ niemals ganz abstreifen konnte. Heinrich Lübke als zweiter Präsident (1959 bis 1969) wurde vorgeworfen, als Ingenieur am Bau von Unterkünften für Zwangsarbeiter beteiligt gewesen zu sein. Gesundheitlich angeschlagen nahm er die Vorwürfe zum Anlass, kurz vor Ende seiner zweiten Amtszeit zurückzutreten. Gustav Heinemann (1969 bis 1974), jeder Nazisympathie unverdächtig, arrangierte sich dennoch als Justitiar der Rheinischen Stahlwerke in Essen mit dem System der deutschen Rüstungswirtschaft.
Während die drei ersten Präsidenten schon als Erwachsene den Beginn des Nationalsozialismus erlebten, wuchsen Walter Scheel (1974 bis 1979), Karl Carstens (1979 bis 1984) und Richard von Weizsäcker (1984 bis 1994) erst in der Nazizeit auf und erlebten dessen Ende als Wehrmachtssoldaten. Gleichwohl: Scheel und Carstens waren Mitglieder der NSDAP.
Soweit nichts Neues. Auch dass in den ersten Präsidialämtern ehemalige NSDAP-Mitglieder Karriere im demokratischen Staat machten (Manfred Klaiber, Amtsleiter unter Heuss, hatte als NSDAP-Mitglied bis 1945 einen Aufstieg im Auswärtigen Amt) überrascht nicht.
Das große Verdienst von Norbert Frei: Er zeigt auf, wie schwer sich die Präsidenten taten, die Deutschen nicht als Opfer der Naziverbrechen, sondern zu großen Teilen auch als Täter, mitlaufend oder aktiv gestaltend, zu betrachten. Zwar gestand Heuss schon 1952: „Wir haben es gewusst.“ Aber es war eben keine „Kollektivschuld“, sondern eine „Kollektivscham“, die er dem Volk verordnete. Scham über die Verbrechen an sechs Millionen Juden, Entsetzen über viele Millionen Kriegstote. Und dennoch auf eigentümliche Weise ein täterloses Volk. Oder: Es gab „Taten ohne Täter.“
„Hitler und seine ‚Schergen‘ waren eine kleine Minderheit, die große Mehrheit der Deutschen deren Opfer“, fasst Frei knapp die ähnlich lautenden Botschaften von Heuss und Lübke zusammen. Bei Heinemann stellt der Autor ein erstaunliches Desinteresse an der öffentlichen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit fest. Das steht in merkwürdigem Gegensatz zu seiner Auslandsarbeit, die er mit Versöhnungsbesuchen in Westeuropa und Skandinavien begann. Dennoch war Heinemann, der „Bürgerpräsident“, der erste, der ein persönliches Versagen im Umgang mit den Nazis einräumte. 1974, zum 25. Jahrestag des gescheiterten Attentats auf Hitler, gestand er: „Mich lässt die Frage nicht los, warum ich im Dritten Reich nicht mehr widerstanden habe.“
Frei schildert interessante Details. Dass der 8. Mai 1945 – das offizielle Kriegsende – ein „Tag der Befreiung“ war, wie Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede von 1985 für viele Deutsche feststellte, war gar nicht so neu. Scheel hatte von der „Befreiung“ schon ein Jahrzehnt zuvor zum 30. Jahrestag des Kriegsendes geredet, als Weizsäcker noch der Meinung war, dieser 8. Mai sei kein Festtag gewesen. Vielleicht war diese Terminologie gar nicht die originäre Formulierung der Präsidenten. Hatten sie sich auf den Diplomaten und Redenschreiber Michael Engelhard verlassen, der sowohl Scheel als auch von Weizsäcker bei diesen Reden zuarbeitete?
Die Studie von Frei führt eindringlich vor Augen, dass sich die ersten Bürger des Staates schwer taten, die Täter zu benennen. Es war ein Balanceakt, weil sie die Stimmung großer Teile der Bevölkerung kannten: Sie wollten an der Spitze des Staates keine „Sühneprinzen“, sondern Repräsentanten, die sie von Vorhaltungen und Schuldzuweisungen möglichst verschonten.
Bildquelle: Wikipedia, Sir James – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0