Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus. Nur, wer ist das Volk, das Wahlvolk, um es genauer zu sagen? Die Antwort, die der Gesetzgeber darauf gibt, hat auch mit Macht zu tun. Das Wahlrecht entscheidet darüber, wer demokratischen Einfluss auf die politischen Weichenstellungen nehmen kann. Zur Bundestagswahl am 26. September sind gut 60 Millionen Menschen wahlberechtigt; sie müssen deutsche Staatsbürger und mindestens 18 Jahre alt sein. Das Mindestalter gilt seit 50 Jahren, als Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) ausrief: „Wir müssen mehr Demokratie wagen.“ Vorher hatte es bei 21 Jahren gelegen, dem damaligen Volljährigkeitsalter.
Nach Jahrzehnten intensiver Debatte über eine weitere Senkung des Wahlalters, über das Wahlrecht von Geburt an und das Familienwahlrecht sowie erster Reformschritte auf kommunaler und Landesebene, scheint nun auch auf Bundesebene die Zeit für eine Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre reif zu sein. Die Mehrheit der aktuell im Bundestag vertretenen Parteien steht hinter der Forderung, in Zukunft auch 16- und 17-jährigen das Wahlrecht zu geben. Allerdings muss dazu das Grundgesetz (Artikel 38 Absatz 2) geändert und folglich noch Widerstand in den konservativen Fraktionen überwunden werden. Die Skepsis gegenüber dem Wahlverhalten der Jugendlichen hält sich dort beharrlich.
Es geht um etwa 1,5 Millionen Bundesbürger im Alter zwischen 16 und 18 Jahren, denen derzeit das aktive Wahlrecht als wichtigstes Instrument der demokratischen Teilhabe verwehrt ist. Manipulierbarkeit, fehlendes Interesse und eine Unfähigkeit zur politischen Willensbildung sind die Hauptargumente des Gegner. Die Befürworter hingegen sehen den Ausschluss der Jugendlichen als nicht länger gerechtfertigt an. Eine generell mangelnde Einsichts- und Urteilsfähigkeit, die den begründen könnte, sei jedenfalls nicht festzustellen. Jugendforscher gehen sogar davon aus, dass die nötige Reife bereits mit 13, 14 Jahren erreicht sei.
Nicht erst seit der Fridays-for-Future-Bewegung und dem Aufbegehren der jungen Generation für einen nachhaltigen Klimaschutz zieht das Argument von einer angeblich unpolitischen Generation nicht mehr. Die Shell-Studie sieht seit Jahren ein wachsendes politisches Interesse bei Jugendlichen, nur spiegelt es sich nicht in den herkömmlichen parteipolitischen Bindungen wider. Außerdem würde das Wahlrecht das Politikinteresse weiter befördern. Die Möglichkeit zur aktiven Mitwirkung verstärkt die Motivation informiert zu sein, um eine verantwortungsbewusste Entscheidung zu treffen.
Die demographische Entwicklung und auch die Krise der Demokratie erhöhen den Druck. Jeder fünfte Wahlberechtigte bei der bevorstehenden Bundestagswahl ist älter als 69 Jahre. Nach Auskunft des Bundeswahlleiters sind das 12,8 Millionen der insgesamt 60,4 Millionen Wahlberechtigten. 10,2 Millionen Wahlberechtigte sind zwischen 60 und 69, weitere 11,8 Millionen zwischen 50 und 59 Jahren. Damit sind 57,8 Prozent aller Wahlberechtigten älter als 49 Jahre. Demgegenüber sind 8,7 Millionen Wahlberechtigte zwischen 18 und 29 Jahre alt, darunter zwei Millionen Erstwähler. Weitere 8,7 Millionen sind zwischen 30 und 39, und noch einmal 8,2 Millionen zwischen 40 und 49 Jahren.
Insgesamt geht die Gesamtzahl der Wahlberechtigten zurück. 2017 lag sie noch bei 61,7 Millionen. Grund für den Rückgang ist die demografische Entwicklung: Seit der letzten Wahl sind mehr Deutsche gestorben als volljährig wurden und damit ins wahlberechtigte Alter kamen. Bei der Wahl im September sind deshalb weniger Personen unter 30 Jahren sowie zwischen 40 und 59 Jahren wahlberechtigt als noch vor vier Jahren. Höher als 2017 liegt die Zahl der Wahlberechtigten bei den 60- bis 69-Jährigen, der Generation der „Babyboomer“, sowie bei den 30- bis 39-Jährigen, den Kindern der „Babyboomer“.
Der Trend zur älter werdenden Gesellschaft hält an, und Wahlentscheidungen reichen weit in die Zukunft. Nun ist den Großeltern nicht abzusprechen, dass sie mit ihrer Stimmabgabe auch die Zukunft der Enkel und Urenkel im Blick haben. Doch die Politik der letzten Jahrzehnte hat deutlich gezeigt, dass es insgesamt an der nötigen Weitsicht und dem Mut zu Veränderungen fehlt. Das Bundesverfassungsgericht hat erst kürzlich in Bezug auf die Klimapolitik klargestellt, dass die mangelnde politische Entschlossenheit zu Lasten der Jüngeren geht, und mehr Verantwortung für die kommenden Generationen angemahnt.
Auch während der Corona-Krise sind die Kinder und Jugendlichen sträflich vernachlässigt worden. Mit eigenem Wahlrecht, so die optimistische Erwartung, hätten sie mehr Chancen, nicht einfach übergangen oder übersehen zu werden. Das Wahlrecht gibt ihnen nicht nur ein echtes Mitbestimmungsrecht über ihre eigene Zukunft, sondern macht sie gleichzeitig zu einer Wählergruppe, die den Gewählten Aufmerksamkeit und Rücksicht abverlangt.
Bei der Bundestagswahl 1972 übrigens, bei der fast fünf Millionen 18- und 19-Jährige erstmals wählen durften, erreichte die Wahlbeteiligung die Rekordhöhe von 91,1 Prozent. Nicht, dass das so einfach zu schaffen wäre. Aber es ist Ansporn, die Akzeptanz der Demokratie zu fördern und sie zu beleben. Demokratie lebt vom Mitmachen.
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