Nun tut auch der Rechtsprofessor Volker Boehme-Neßler seinen Unmut über die Verurteilung von Höcke durch das Landgericht Halle kund. In einem Online-Beitrag für das Magazin „Cicero“ titelt er: „Warum der Höcke-Prozess kein Ruhmesblatt für die Justiz ist“. Dabei ähnelt seine Kritik im Kern stark der von „taz“-Journalist Christian Rath. Es geht erneut um die (Nicht-)Anwendung des sogenannten Zweifelssatzes „im Zweifel für den Angeklagten“.
Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, gar verbissen zu wirken, muss ich sagen: Mich überzeugt auch diese Kritik nicht. Und zwar schon im Ansatz nicht. Nicht nur wird hier erneut – mehr oder weniger vage – auf der Grundlage der mündlichen Urteilsbegründung eine Entscheidung kritisiert. Sondern auch die Ansatzpunkte sind von Boehme-Neßler teilweise unglücklich gewählt. Hier einige Beispiele:
Der Maßstab, den Boehme-Neßler im zweiten Satz seines Beitrags bildet, ist ungenau und stimmt mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) nicht überein. Boehme-Neßler führt aus, dass das Gericht erst verurteilen dürfe, „wenn das Gericht keine Zweifel an der Schuld des Angeklagten hat“. Die Betonung liegt auf: keine Zweifel. Einen anderen Maßstab gibt indes der BGH als Leitlinie für die Strafgerichte vor. So hat etwa der 2. Strafsenat des BGH in seinem Urteil vom 16. Februar 2022 (Az. 2 StR 399/21) bekräftigt:
„für eine Verurteilung genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige und nicht bloß auf denktheoretische Möglichkeiten gegründete Zweifel nicht zulässt.“
Lässt man sich diese Worte auf der Zunge zergehen, dann ist der Maßstab „keine Zweifel“ zu streng gewählt. Dass Boehme-Neßler die Höcke-Entscheidung anschließend an diesem zu strengen Maßstab misst, schwächt seine Argumentation. Hinzu kommt, dass er kurzerhand eine eigene Beweiswürdigung anstellt und diese den Leserinnen und Lesern als richtige Lösung präsentiert. Etwa wenn er schreibt: „So zweifelsfrei, wie das Gericht meint, ist das sicher nicht. Sonst hätte nicht der Spiegel im September 2023 eine Kolumne mit ebendiesem Spruch überschrieben“. All das tut er, obwohl er – anders als das Gericht – weder dazu berufen ist noch die Eindrücke aus der Hauptverhandlung besitzt. Zugegeben: Das kann man in einem journalistischen Beitrag zwar machen, überzeugt aber praktisch nicht.
Bisweilen bleibt seine Kritik reine Spekulation. Das gilt etwa für folgende Aussage:
„Am Ende eines langen Verhandlungstages hat das Gericht am Dienstag unmittelbar nach den Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung das Urteil verkündet. War da noch Zeit, um die Ergebnisse des letzten Verhandlungstages zu reflektieren und im Urteilsspruch zu berücksichtigen?“
Allein den Umstand, dass das Gericht das Urteil am Schluss der Verhandlung verkündet hat, kann und sollte man nicht als Ansatzpunkt nehmen für negative Rückschlüsse in puncto Rechtsstaatlichkeit eines Prozesses. Denn es handelt sich um den gesetzlichen Regelfall. Gemäß § 268 Abs. 3 Satz 1 Strafprozessordnung soll das Urteil am Schluss der Verhandlung verkündet werden – also noch am gleichen Hauptverhandlungstag.
Für seine weitere Kritik wählt Boehme-Neßler eine spannende Rechtskategorie. Er spricht davon, dass die „Strafrechtsnorm, auf die sich die Anklage gegen Höcke gestützt hat,“ verfassungsrechtlich heikel sei. Entscheidend ist hier die Einordnung als verfassungsrechtlich heikel. Sie liegt – wenn auch sprachlich nur knapp – unterhalb der Schwelle zur Verfassungswidrigkeit. Damit soll scheinbar ausgedrückt werden, dass man von dieser Norm besser die Finger lässt. Gemäß Artikel 20 Abs. 3 des Grundgesetzes sind die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung aber an Gesetz und Recht gebunden. Das heißt: Auch Strafnormen, die man als verfassungsrechtlich heikel bezeichnet, die zugleich aber nicht verfassungswidrig und nichtig sind, müssen beachtet werden. Die von Boehme-Neßler gebildete Zwischenkategorie hilft also praktisch nur wenig weiter – und taugt schon gar nicht als Kritikpunkt gegen die Anklage.
Boehme-Neßler kommt zu dem Ergebnis: „Ohne Zweifel haben die Richter in Halle dem Rechtsstaat geschadet.“ Das ist einerseits bedauerlich, andererseits nichts Neues. Denn der Rechtsstaat geht für Boehme-Neßler regelmäßig unter. Und für ihn versagt die Justiz alle Nase lang. Diesen Eindruck gewinnt man jedenfalls, wenn man sich seine übrigen „Cicero“-Beiträge ansieht. So etwa in Bezug auf das AfD-Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht Münster, wo er titelt: „Kein guter Tag für den Rechtsstaat“ und weiter: „Nein, das Verfahren in Münster ist kein gutes Beispiel für einen funktionierenden Rechtsstaat“. Oder in Bezug auf das Klima-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wenn er schreibt: „Doch die Richter überschreiten die Grenze zwischen Rechtsprechung und (Klima-)Politik und missachten einen Grundsatz des Rechtsstaats: die Gewaltenteilung.“ Angesichts dieser ständigen Kritik kann man vielleicht auch etwas gelassener bleiben.