1997 gab der große Politik-Lehrer, Prof. Theodor Eschenburg, der Illustrierten „Stern“ ein Interview, in dem der Tübinger Gelehrte auf die Frage „Wie stabil halten Sie unsere Demokratie?“ antwortete: „Ich halte sie für absolut stabil. Die Demokratie kann viel ertragen, man muss nur zäh bleiben. Wir kommen bestimmt nicht zu Weimarer Verhältnissen. Denn wir haben keine Grundsatzopposition.“ Heute, da eine in weiten Teilen rechtsextremistische Partei wie die AfD in nahezu allen Parlamenten sitzt, die in Umfragen bundesweit auf 22 Prozent kommt, weit vor der ältesten deutschen Partei, der SPD, und die sich anschickt, bei den anstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen stärkste Partei zu werden, sieht das Bild völlig anders aus. Nach Umfragen würden die AfD, die in Sachsen und Thüringen nach dem Urteil des jeweiligen Verfassungsschutzes gesichert rechtsextremistisch und in Brandenburg mindestens ein solcher Verdachtsfall ist, über 30 Prozent der Menschen wählen, wenn nicht mehr. „Absolut stabil?“ Ein Vierteljahrhundert nach Eschenburg ist diese Demokratie bedroht, in höchster Gefahr.
Die Stimmung im Lande scheint aus dem Ruder zu laufen, die Proteste nehmen zu, ja über Hand, arten aus, wie der Grünen-Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck es gerade erleben musste. Wütende Landwirte hinderten den Vizekanzler daran, von einem privaten Aufenthalt auf einer Hallig mit einer Fähre an der Nordseeküste anzulanden. Habeck wollte daraufhin mit den Bauern ins Gespräch kommen, aus Sicherheitsgründen aber nicht vor der aufgebrachten Menge auftreten. Einzelgespräche, wie der Minister den Demonstranten anbot, lehnten diese aber ab. Die Menge drängte den Grünen Politiker auf die Fähre zurück. Das ist kein demokratischer Stil, das ist ein Missbrauch des Demonstrationsrechts, das ist ein gewalttätiger Eingriff in die Privatsphäre und ein Angriff auf eine Person, der mit nichts zu rechtfertigen ist.
Der Verdacht liegt nahe, dass hier eine bestimmte Gruppe gar nicht auf einen legalen Protest gegen die Agrarpolitik der Regierung aus war, sondern Krawall machen wollte. Der Bauernverband hat die Blockade der Fähre mit dem Wirtschaftsminister verurteilt und vor Vereinnahmungen der Protestwoche „durch Schwachköpfe mit Umsturzfantasien, Radikalen sowie anderen extremen Randgruppen und Spinnern“ gewarnt. Die Sicherheitsbehörden sind alarmiert.
Die einst gepflegte Debattenkultur weist Risse aus. Das bekam auch der Bundeskanzler Olaf Scholz in Sachsen-Anhalt zu spüren, als er sich ein Bild von der Hochwasserlage im Lande machen wollte. Er wurde beschimpft, was nicht verboten ist, aber tief blicken lässt, wenn Demonstranten gar nicht interessiert sind an Aussagen des Regierungschefs, daran, wie die Bundesregierung den durch das viele Wasser in Not geratenen Menschen zu helfen gedenkt. Es wird einfach Lärm gemacht gegen den höchsten Vertreter der Ampel-Regierung, wissend, dass die klare Mehrheit der Bundesbürger unzufrieden ist mit der Politik der Regierung aus SPD, den Grünen und der FDP. Nach dem ARD-Deutschlandtrend äußerten sich 82 Prozent weniger bis gar nicht zufrieden mit der Berliner Politik. Und was Scholz betrifft, ist er inzwischen beim tiefsten Wert angelangt, der je für einen Politiker gemessen wurde: nur noch 19 Prozent sind zufrieden mit Scholz und seiner Politik. Hinzukommt, dass die SPD, immer noch Kanzlerpartei und beim Start mit 25,7 Prozent stärkste Partei in der Ampel, inzwischen bei 14 Prozent angelangt ist. Wie damals, als der Wahlkampf begann.
Kanzler ohne Führung
Dass der Kanzler im Keller ist, hat er sich teils selber zuzuschreiben. Der alte Spruch von Scholz, wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch, erwies sich in der Praxis leider nur als loser Spruch. Anfangs konnte man dem überlegt handelnden Kanzler noch zustimmen, dass er nicht jeder hysterisch geforderten Waffenhilfe für die Ukraine zustimmte, sondern lieber abwartete. Man konnte seiner Art zu regieren, durchaus Respekt abgewinnen, wenn er in die Welt reiste, um Unterstützung für seine Politik und die der EU gegen Russlands imperialistisches Gehabe zu gewinnen. Russland darf den Krieg nicht gewinnen, war ein Satz von Scholz, der noch heute gilt. Aber es stimmt leider auch, dass derselbe Scholz seit Monaten Führung vermissen lässt. Damit meine ich nicht das an Biertischen beliebte Wort „vom auf den Tisch hauen“. Führung heißt, das Land so zu führen, dass die Menschen merken, spüren, wohin die Reise gehen soll. Dass sie erfahren, dass die Ampel und der Kanzler sich um das Wohl der Menschen kümmern und deshalb diese oder jene Politik beschließen. Das aber erfahren die Bürgerinnen und Bürger nicht, auch weil Scholz nicht mit den Menschen draußen kommuniziert. Er überlässt dieses Feld der Union und vor allem der AfD und wundert sich, dass die Politik der Ampel, dass Scholz´ Wort kein Gehör und wenig Zustimmung finden. Dazu kommt, dass die Ampel immer mal wieder etwas beschließt, was sie anschließend wieder zurücknimmt.
Wie gerade geschehen bei den geplanten Kürzungen im Agrarbereich, wogegen die Landwirte Sturm liefen und die Ampel-Regierung daraufhin einknickte. Nein, Herr Bundeskanzler, das heißt nicht, dass ich die Kürzungen für gut oder schlecht heiße. Sondern das besagt, dass man sich seine Politik gut und notfalls länger überlegen muss, ehe man sie verkündet. Aber wenn man sie verkündet, muss sie auch überlegt sein und man muss dazu stehen. Selbst SPD-Mitglieder, Herr Scholz, verzweifeln längst. Wo ist die Linie des Kanzlers, der rote Faden? Eine kleine Partei wie die FDP kann immer wieder etwas verhindern, was die SPD als richtig empfinden würde. Der Schwanz wackelt längst mit dem Hund. Der Sagenichtskanzler wird verzwergt. 19 Prozent für ihn, 14 Prozent für die SPD. Wie will man da wieder raus, wieder Glaubwürdigkeit gewinnen, Vertrauen? In Sachsen wurde die SPD laut Umfragen gerade noch mit vier Prozent gemessen?
Das Erscheinungsbild der Ampel ist mehr als diffus. Man denke nur an das Theater vor Monaten bei dem sogenannten Heizungsgesetz. Wie Anfänger behandelte man dieses wichtige Problem, beklagte dann bitterlich, dass der erste Entwurf früh durchgestochen worden sei. Als wäre das neu in dem Gewerbe. Allein der Boulevard ist immer darauf aus, sich mit solchen Früh-Veröffentlichungen zu brüsten. Damit will man den Plan zum Scheitern bringen. Oder hat jemand in der Ampel-Regierung geglaubt, bestimmte Gazetten wären auf ihrer Seite? Haben sie nicht gemerkt, dass viele Medien sich auf sie eingeschossen haben, um ihnen zu schaden, ja sie zu stürzen?
Kemmerich kein Garant
Vorsicht, Illusion. So der Titel des Leitartikels in der „Süddeutschen Zeitung“ zum Wahljahr. Glaube nur niemand, es gäbe in Deutschland eine Garantie für diese Demokratie. Sie ist kein Selbstläufer, hat der Bundespräsident mehrfach gewarnt und gefordert, die Demokratie brauche Demokraten, die sie unterstützen, für sie eintreten, sie stützen gegen ihre Feinde. Und der Feind steht rechts. Wie kommt jemand auf die Idee, mit den Feinden der Demokratie Geschäfte zu machen? Ich meine die Thüringer CDU. Und auch die dortige FDP ist kein Garant gegen die AfD. Das haben wir ja erlebt mit dem kurzzeitigen Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich. Schon vergessen? Ich habe auch nicht die ersten Reaktionen führender Liberaler verdrängt, die jubelten ob der Wahl Kemmerichs. Später drehten sie bei. Es war eine linke Politikerin, die Kemmerich die Blumen vor die Füße warf. Recht so.
Björn Höcke ist Geschichtslehrer, man glaubt es kaum. Denn derselbe Höcke ist Spitzenkandidat der AfD in Thüringen. Er warnt nicht vor Nationalismus und der Hetze gegen Minderheiten, er spricht auch nicht über die Weimarer Republik und darüber, wie diese von den Nazis gekapert wurde. Höcke ist Spitzenmann einer Partei, die als gesichert rechtsextremistisch gilt. So der Verfassungsschutz, den Höcke aber, käme er an die Macht, verändern will, stutzen, wie auch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Oh ja, ich höre sofort die Klagen von Bürgerinnen und Bürgern über den Rundfunk, weil ihnen diese oder jene Sendung, der eine oder andere Redakteur nicht passt. Ich kann davor nur warnen, den Höckes auf den Leim zu gehen. Der würde den Rundfunk und das dazu gehörende Fernsehen in seinem Sinne umbauen, nicht im Sinne der Meinungs- und Pressefreiheit. Man schüchtert die Institutionen ein, greift sich staatliche Kontrollorgane, verunglimpft sie und baut sie nach eigenem Gusto um. Justiz und Geheimdienste wären betroffen. Vorsicht, kann ich da nur sagen. Die Gegner des Rechtsstaates nutzen deren eigene Institutionen, um die Demokratie zu zerstören.
Im Leitartikel der SZ wird Höcke zitiert laut Bericht des Verfassungsschutzes im Kapitel „Rechtsextremistische Parteien“. Wörtlich heißt es in der SZ: “ Er beschreibt Ausländer als gewaltbereit, krank und ansteckend, erklärt die Regierung für ferngesteuert und sieht überall ein globalistisches Establishment am Werk.“ Höckes Landesverband vertrete „völkisch-ethnische, evident geschichtsrevisionistische und antisemitische Positionen“.
Nein, die Demokratie stirbt nicht über Nacht, sie stirbt langsam, weil bestimmte Kräfte ihr den Hals zudrehen, ihr die Luft nehmen zum Atmen. Die AfD ist eine demokratisch gewählte Partei, die aber die Demokratie abbauen will. Zug um Zug. Und was tun die demokratischen Parteien? Sie diskutieren über ein Verbot der AfD, was möglich ist laut Grundgesetz. Laut Grundgesetz ist es aber auch möglich, ja sogar geraten im Grundgesetz, den Vertretern der AfD die bürgerlichen Rechte zu entziehen. Aber kaum waren die Gedanken geäußert, kamen die Bedenken der anderen, die als Alternative die inhaltliche Auseinandersetzung mit der AfD empfahlen. Als wüssten sie nicht, dass die Rechtsextremisten darauf nur warten, weil sie entsprechende Fragen in Interviews nicht beantworten, sondern die Medien-Bühne nur dazu benutzen, ihre Parolen loszuwerden. Sie wollen die EU zerstören, mit das Beste, was in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurde. Die AfD-Politiker lassen sich ins Europa-Parlament wählen, das sie zerstören wollen. Wollen wir das zulassen? In London weiß man, wie negativ sich der Austritt der Insel aus der Europäischen Union ausgewirkt hat.
Menschlichkeit der Gesellschaft
Die Gründe für die wachsende Ablehnung der Ampel-Parteien liegen wohl in einer Mischung aus Angst vor dem Abstieg gerade auch in Teilen der Mittelschicht, in der Sorge wegen der allgegenwärtigen Krisen in der Welt, in den Kriegen Russlands gegen die Ukraine, im Krieg im Gazastreifen, im Argwohn gegenüber Migranten. Wie will man das besser steuern? Durch mehr Kontrollen an den Grenzen, durch ein Europa der Mauern? Gleichzeitig werden doch die Rufe nach einer gezielteren Einwanderungspolitik lauter, weil wir Arbeitskräfte brauchen, Hunderttausende. Das Thema Ausländer ist ein Reizthema und wird von der AfD missbraucht. Wir sollten uns auf dieses Niveau nicht begeben. Der Umgang mit Flüchtlingen sagt auch viel aus über die Menschlichkeit, wie sie eine Gesellschaft pflegt. Nicht umsonst steht die Menschenwürde im Grundgesetz an erster Stelle.
Gefragt in der Debatte ist auch die Union, deren Partei- und Fraktionschef Friedrich Merz, der aber unberechenbar ist und schon mal darüber schwadroniert, wie Flüchtlinge ins deutsche Sozialsystem einwanderten. Gerade so, als sei es eine Lust, die eigene Heimat zu verlassen, um sich in einem Boot auf die lebensgefährliche Fahrt übers Meer einzulassen. Und derselbe Friedrich Merz, der höchstwahrscheinliche Kanzlerkandidat der Union wird natürlich auch gebraucht, wenn es darum geht, Brandmauern zur AfD zu errichten und damit Koalitionsbildungen der CDU zum Beispiel in Thüringen mit der AfD zu verhindern.
Nie wieder! Hatten sich viele Deutsche damals geschworen. Nie wieder Krieg, nie wieder Nazis. Und jetzt? Könnte in Thüringen der AfD-Rechtsaußen Höcke Ministerpräsident werden. Im dritten Wahlgang. Im 75. Jahr des Grundgesetzes, 79 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Ende der Nazi-Diktatur, die zig Millionen Tote gekostet und wahnsinnige Zerstörungen über ganz Europa gebracht hatte. Ich darf an Weimar erinnern, die Stadt in Thüringen, die Stadt Goethes und Schillers, der Ort der nach ihr benannten Verfassung. Bekommen wir doch wieder Weimarer Verhältnisse? Es wäre vielleicht nicht der Untergang Deutschlands, aber es könnte der Anfang vom Ende sein. Das mit Höcke. Nicht auszudenken, wenn diese Partei dann noch von einer Person mit charismatischer Ausstrahlung geführt würde. Deutschland, das zeigt die Entwicklung der letzten Jahre, ist nicht immun gegen Rechtsextremismus. Ob die Demokratie das aushält? Ob wir zäh genug sind im Sinne von Theodor Eschenburg? Man kann es nur hoffen.