Auch wenn es ein etwas unkonventionelles Jubiläum ist – hier eine Hymne auf ein deutschsprachiges Ausnahme-Talent.
Dieser Text basiert auf meinem aktuell überarbeiteten Sendemanuskript von Februar 1987 für den DLF, damals zum 150. Todestag von Georg Büchner
„Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag: sie wohnen in schönen Häusern,
sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigene Sprache.
Das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker. Der Bauer geht hinter dem Pflug, der Vornehme aber geht hinter ihm und dem Pflug und treibt ihn mit dem Ochsen am Pflug, er nimmt das Korn und lässt ihm die Stoppeln.
Das Leben des Bauern ist ein langer Werktag: Fremde verzehren seine Äcker vor seinen Augen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf dem Tisch des Vornehmen. Sie herrschen frei und ermahnen das Volk zur Knechtschaft.
Ihnen gebt ihr 6 000 000 Gulden Abgaben, sie haben dafür die Mühe, euch zu regieren, d.h. sich von euch füttern zu lassen und euch eure Menschen-und Bürgerrechte zu rauben. Und wenn sie barmherzig sind, so geschieht es nur, wie man ein Vieh schont, das man nicht so sehr angreifen will.“
Georg Büchner, der Verfasser dieser Flugschrift aus dem Jahr 1834 mit dem Titel „Der hessische Landbote“ wurde am 17. Oktober 1813 in Goddelau bei Darmstadt geboren, er starb am 19.Februar 1837 im Exil in Zürich.
Er hatte in Deutschland und Frankreich gesellschaftliche Missstände gesehen und zu verstehen gesucht. Lauter beunruhigende Wahrheiten schrieb er nach seiner ersten Veröffentlichung, diesem Pamphlet aus dem Jahr 1834. Mit drei Theaterstücken und einer Novelle ging Georg Büchner, der nur 23 Jahre und vier Monate Zeit zu leben hatte, als größter realistischer Dichter in die Weltliteratur ein.
Länger als sechzig Jahre nach seinem Tod dauerte es jedoch, bis die Germanistik dem Autor von “Lenz“,von „Leonce und Lena“ und vom Dramenfragment “Woyzeck“ wissenschaftliche Beachtung schenkte. Den Niederungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit galt ihr Interesse bisher ebenso wenig wie einem so sprachgewandten Aufbegehren, welches sich zudem außerhalb gängiger ästhetischer Normen Bahn brach.
Nach dem Expressionismus machte vor allem Gerhart Hauptmann auf Büchner begeistert aufmerksam. Die große Identifikationskraft seines schmalen Werks erwies dann in der Studentenrevolte um 1968 ihre Aktualität, als das historische Beispiel für Gegenöffentlichkeit.
Wie stellt sich heute, 2013, der so genannte „Gebrauchswert“ der Literatur Georg Büchners dar?
Der Mediziner Georg Büchner analysierte das Scheitern von Menschen zur Biedermeier-Zeit, ihre Widerstandskraft und ihre Hoffnungen. Was sagt uns dieser Dichter – fast 200 Jahre später – dessen Schreibtisch in seinem kurzen Leben sowohl konkret als auch gesellschaftskritisch als Seziertisch diente?
“Friede den Hütten, Krieg den Palästen“.
Diesen Kampfruf der französischen Revolution von1789 nahm Georg Büchner zur Überschrift seines Flugblatts, mit dem er den gedrückten Bauern praktische Informationen an die Hand gab. Den zunächst vereinzelten Zorn der “Erniedrigten und Beleidigten“ wahrzunehmen, bezöge sich heutzutage allerdings als literarischer Impetus vornehmlich auf die globale Unrechtssituation in der so genannten dritten Welt, insofern auf „die Unbetrauerbaren“, wie Judith Butler die Vielzahl der Globalisierungsverlierer treffend bezeichnete.
Doch solcher Beobachtungssinn macht Schreibende zu allen Zeiten den jeweils Herrschenden verdächtig und zum Zensur-Objekt. So journalistisch genau, wie Georg Büchner den gesellschaftlichen Ist-Zustand seiner hessischen Umgebung untersuchte und darlegte – damals wie heute sind verfügungsgewaltige Obrigkeiten daran interessiert, ihr menschenverächtliches Machtkalkül zu verschleiern.
In seinen Theaterstücken “Danton’s Tod“ 1835 sowie“ Leonce und Lena“ 1836 zeigt Büchner uns die falschen Lösungen ignoranter Staatsräson. Seine Psychogramme herrschaftlicher Anmaßungen sind heute noch gültig.
“Geht einmal euren Phrasen nach, bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden.“
Diese Mahnung Büchners – wunderbar geeignet auch für ganz aktuelle PolitikerInnen in Deutschland und anderswo – verweist auf die verselbständigte Dynamik von „Führungs – Qualitäten“ in einem historischen Stadium, da sich die proklamierten Ideale gegen die vitalen Interessen der breiten Bevölkerung verkehren. Der “Terreur“ Robespierres, des rigiden Revolutions-Helden, der schon als Kind – „finster und einsam“ war, lässt gnadenlos seine Gegner auslöschen. Als „empörend rechtschaffen, bloß um des elenden Vergnügens willen, andere schlechter zu finden,“ so charakterisiert ihn Danton. Während dieser es ablehnt, auf der Grundlage von inhumaner Unvernunft eiskalt pragmatisch alle Hindernisse zur Machterhaltung aus dem Weg zu räumen, setzt sein fanatischer Rivale Robespierre die Moral zynisch als Mittel zur eigenen Polit-Karriere ein: “Die Tugend muß durch den Schrecken herrschen.“ Das ist sein brutales Credo.
Der Typus des unbeirrbaren Technokraten, beherrscht und betäubt von seiner totalitären Ernstfall-Logik – ist er inzwischen eine Antiquität? Keinesfalls!
„Wir haben nicht die Revolution, sondern die Revolution hat uns gemacht.“
Mit dieser Erkenntnis zieht sich der müde gewordene Berufspolitiker Danton zurück.
Er begreift die Halbheit der neuen Machtstruktur, sieht, dass das Volk immer noch missachtetes Objekt, lange noch nicht freies Subjekt der Geschichte ist.
“Wir genießen – und das Volk ist tugendhaft, das heißt, es genießt nicht, weil ihm die Arbeit die Genußorgane stumpf macht,“ erkennt der reflektierte Hedonist selbstkritisch.
Assoziationen zur aktuellen Lage jedes noch real existierenden „Sozialismus“ diverser Staaten – wie Russland, China, Nordkorea, etc. – lassen sich bei aller Skepsis gegenüber westlichen vom Kapital dominierten Gesellschaften kaum verdrängen.
“> Eure Majestät wollten sich an etwas erinnern, als sie diesen Knopf in Ihr Schnupftuch zu knüpfen geruhten. < > Was?- Ja, das ist’s, das ist’s: ich wollte mich an mein Volk erinnern.< “
“Der grüblerischen Spaßhaftigkeit dieser Komödie wird man nicht froh“, urteilte der Wiener Schriftsteller Alfred Polgar 1926 über “Leonce und Lena“.
Aus der narzißtischen Perspektive des gelangweilten Adels kritisiert Georg Büchner gekonnt polemisch den lächerlich repräsentativen Aufwand eines Duodezstaates. Wie in der konkret vorgefundenen Ignoranz des Metternich’schen Machtapparates, spitzt sich für den Dichter in seiner Persiflage der Widersinn vermeintlichen Fortschritts zu: Privileg auf der einen, da Schinderei auf der anderen Seite. Beides ist Ausdruck jener ökonomischen Entfremdung, die letztlich das Sein so elend, und das Bewusstsein so korrupt werden lässt. Hatte auch Bernt Engelmann in seiner präzisen Milieustudie “Ihr da oben“ aus dem Jahr 1973 sich durch Büchners Komödie zu allerhand scharfsichtigen Einblicken in Bundesdeutsche Geld – Adel – Bereiche anregen lassen? Glücklicherweise haben etliche Autoren Georg Büchners unkorrumpierbaren Blick zum Vorbild genommen. Engelmanns investigativer Kollege Günter Wallraff stellte zudem aus der Perspektive “Wir da unten“ und 1988 mit seiner Reportage „Ganz unten“ die fatal erzwungene krankmachende Tapferkeit von schuftenden Handlangern in den Mittelpunkt seiner empathischen Recherche.
So, wie Georg Büchner weltumspannend gültig in „Dantons Tod“ rebellisch konstatierte: “Nichts dummer, als die Lippen zusammenzupressen, wenn einem was weh tut.“ Die Fälle der jeweiligen Opfer ähneln sich frappant: “Woyzeck ist der Mensch, auf dem alle rumtrampeln. Somit ein Behandelter – nicht ein Handelnder. Somit ein Kreisel – nicht eine Peitsche. Somit ein Opfer – nicht ein Täter. Dramengestalt wird sozusagen die Mitwelt – nicht Woyzeck, Kernpunkt wird sozusagen die quälende Menschheit – nicht ihr gequälter Mensch. Bei alldem bleibt wahr: daß Woyzeck durch seine Machtlosigkeit justament furchtbarsten Einspruch erhebt. Dass er am tiefsten angreift – weil er halt nicht angreifen kann.“
Alfred Kerr sieht 1927 im gemeinen Soldaten Woyzeck überdeutlich auch das Opfer eines nur vermeintlichen Fortschritts im 20. Jahrhundert. Woyzeck, ein Gelegenheitsarbeiter, war und ist aufgrund seiner sozialen Misere auch der ach so bewährte Kandidat für pharmazeutische Experimente, damals wie heute, hier und mehr noch in den armen Ländern, betrieben zumeist von europäischen und amerikanischen Großkonzernen. Hier kann sich der aussichtslose Außenseiter auch heute noch ein paar Dollars oder Euro dazuverdienen.
Und erst als die missgünstige und schadenfrohe Bürgersmoral ihm die Schande vom Ehebruch Maries aufzwingt, voyeuristisch ihn zur Raserei treibt, sieht der schon längst apathische Mann rot:
“He, Woyzeck, was hetzt er sich so an uns vorbei. Bleibt er doch, Woyzeck!
Er läuft ja wie ein offenes Rasiermesser durch die Welt, man schneidet sich
an ihm; Wie ist, Woyzeck, hat er noch nicht ein Haar aus einem Bart in seiner
Schüssel gefunden? He, er versteht mich doch? Ein Haar eines Tambour-
Majors? Was der Kerl ein Gesicht macht!…. Vielleicht nun auch nicht in der
Suppe, aber wenn er sich eilt und um die Eck‘ geht, so kann er vielleicht noch
auf ein paar Lippen eins finden. Ein paar Lippen, Woyzeck – ich habe auch das
Lieben gefühlt, Woyzeck, Kerl. Er ist ja kreideweiß! Den Puls, Woyzeck, den Puls! – Klein, hart, hüpfend, unregelmäßig.“
“Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der Anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.“
Dieser Satz Adornos kommentiert auch Woyzecks Schicksal, lässt daran denken, dass gesellschaftlicher Druck wie eine anthropologische Konstante nicht nur den Körper, sondern auch die Seele entstellt, zerstört. Schon immer als Mensch entwertet, kann sich das Selbstgefühl Woyzecks fast nur asozial entwickeln; und zur niedersten Arbeit macht ihm seine Verrohung geradezu tauglich. Büchners Forderung an den Künstler, er “senke sich in das Leben des Geringsten“ erfüllt er selbst in diesem Fragment in grandioser Intensität. Solche Sicht auf unser Wohlstandselend heutzutage realisierte z.B. der Schriftsteller Ludwig Fels in seinem grandiosen Roman „Ein Unding der Liebe“ aus dem Jahr 1981, wenn er die trostlose subjektive Wahrnehmung des dicklichen, zutiefst verunsicherten Küchenhelfers Georg Bleistein in einem Supermarkt- Imbiss schonungslos rekonstruiert. Auch dieser „loser“ ist ein Wiedergänger vom armen Woyzeck.
„Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur“.
lässt Georg Büchner 1835 in seiner Novelle “Lenz“ den verstörten und deshalb zusehends isolierten Dichterkollegen feststellen. Der durch Leistungszwänge überforderte, höchst sensible Intellektuelle muss krank werden, muss leiden, da sein Mitleiden ihn lähmt, kein Eingreifen mehr möglich macht. Sein Verlust von Wirklichkeit allerdings ergibt sich aus überintensiver Erfahrung von Wirklichkeit, seine Haut – auch die seiner Seele – sie ist zu dünn.
„Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren.“
Dieser Satz von Gotthold Ephraim Lessing könnte als Leitmotiv über Büchners Werk stehen. Die Fähigkeit dieses Dichters, zu zeigen, was nicht länger sein darf, ist einzigartig in der Geschichte. Sein Anspruch ist immer ein parteilicher: Er möchte mit seiner Dichtung sich „in das Leben des Geringsten versenken.“ Indem er die gesellschaftlichen Widersprüche in seinen Theaterstücken eben nicht aufhebt, auf der Tragik der Verhältnisse besteht, kann von einem Fatalismus Büchners die Rede nicht sein. Nie kann doch realistisches Schreiben optimistisch sich gebärden. Wo leben wir denn?
Hier noch einige meiner Lieblingsautoren, die sich in der Tradition Büchners zu Recht in ihrem Engagement und ihrer klaren Sprache einen Namen machen konnten:
Heinrich Mann
Alfred Döblin – z.B. „Berlin Alexanderplatz“
Lion Feuchtwanger
Oskar Maria Graf
Kurt Tucholsky
Ludwig Fels – „Ein Unding der Liebe“
John le Carré – z.B. „Der ewige Gärtner“
Arthur Miller – z.B. „Brennpunkt“
Günter Wallraff
Stéphane Hessel „Empört Euch“
Wolfgang Schorlau – z.B. „Die letzte Flucht“
Tana French
E.A. Rauter – z.B. „Wie eine Meinung in einem Kopf entsteht“
Matthias Deutschmanns kluge Momentaufnahmen übers globale Machtgefüge,
und auch: Georg Schramm, der Tacheles-Kabarettist; er zitiert folgenden Ausspruch immer wieder gerne:
„Die Vernunft kann sich mit größerer Wucht dem Bösen entgegenstellen, wenn der Zorn ihr dienstbar zur Hand geht“ Papst Gregor der Große, um 600
Und: der neue Papst Franziskus sprüht ja in der Tat solidarische Funken in unsere weite Welt!