„Die Ostdeutschen haben damals demonstriert“, so Wladimir Kaminer in der Berliner Zeitung „Tagesspiegel“ am Sonntag,“ sie wollten aber nicht, dass ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt wird. Sie waren in der ehemaligen DDR gut behütet aufgewachsen, jeder Bürger hatte gleich nach der Geburt einen „Ausweis zur Arbeit, Spaß und Sozialversicherung bekommen.“ Der Schriftsteller Kaminer, der in Moskau geboren ist und seit über 30 Jahren in Berlin lebt, kennt seine Berlinerinnen und Berliner. Wenn man seine Bücher liest, muß man immer gut unterscheiden zwischen dem Ernst und der Satire, der feinen Ironie, die stets in den Zeilen mitschwingen. Oder wie soll man den Beginn seiner „Tagesspiegel“-Kolumne verstehen: „Im Grunde mochten die meisten ihre DDR, nur das Ostgeld konnte niemand leiden. Alle wollten das schönere Westgeld“. Ganz so einfach wird es nicht gewesen sein, damals in der DDR. Das wird jeder bestätigen, der dort gelebt hat- hinter Mauern und Stacheldraht, ausgehorcht von der Stasi, gehindert an mancher Karriere, wer nicht SED-Mitglied werden wollte. Und wenn einer den Mut zur Flucht hatte, musste er riskieren, an der Mauer oder davor erschossen zu werden. Und trotz aller Beschränkungen, Einschränkungen der Freiheit behauptet Kaminer: „Aber die Menschen waren glücklich.“
Und sind sie es heute nicht oder nicht mehr? 31 Jahre nach der deutschen Einheit, 32 Jahre nach dem Fall der Mauer, was ihnen den Weg in die Freiheit-so ein hohes Wort- ebnete und zum Konsum von Westwaren, die ja so begehrt waren. Zur Pressefreiheit, zur Freiheit, in alle Welt reisen zu dürfen und nicht mehr nur in die Länder des Ostblocks, den es bald nicht mehr gab. Aber bleiben wir noch bei Kaminer und dem „Tagesspiegel“.: “ Auf einmal waren die Bürger auf sich allein gestellt, sie verloren ihre Arbeit….Die einen gaben auf und gingen unter, die anderen versuchten ihr Glück im kapitalistischen Hamsterrad. Einige haben es geschafft: Spreewälder Gurken, Bautzener Senf und das Russischbrot. Sie werden noch immer gern im Osten der Republik gegessen.“ Fein gewirkt, diese Worte Kaminers.
Wir im Westen rätseln seit Jahren über die Unzufriedenheit nicht weniger Bürgerinnen und Bürger in der ehemaligen DDR, darüber, warum so viele von ihnen die AfD gewählt haben. Wenn ich Zeitungen aufschlage in diesen Tagen, finde ich folgende Schlagzeilen: im „Bonner Generalanzeiger“ . „Die dunkle Seite der Einheit“ heißt der Aufmacher der Seite 2 des Blattes, wirklich Lesenswertes zur Gemengelage hüben wie drüben, wenn dieser alte Vergleich erlaubt ist. Keine Sorge, ich erhebe mich nicht über den Osten, weil ich mein Leben lang im Westen gelebt habe, was ich als Glück bezeichnen möchte, als Zufall. Wie wäre mein Leben abgelaufen, wenn ich in Chemnitz geboren wäre oder in Ostberlin? Ob ich dann den Mut gehabt hätte, mit Kerzen gegen Panzer zu demonstrieren, für mehr Freiheit, wie das die Bürgerinnen und Bürger der DDR damals getan haben? Die Wiedervereinigung fiel ja nicht vom Himmel, sie wurde von den Menschen auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs erkämpft. Mit friedlichem Mitteln, es fiel kein Schuß, weil Michail Gorbatschow, der Kreml-Herrscher es so wollte.
Dunkle Seite der Einheit, einer Einheit, von der wir im Westen mehr profitierten, für die wir kaum zahlten, andere aber, die Brüder und Schwestern im Osten verloren ihre Jobs, manches Leben ging in die Brüche, Millionen wanderten aus in den goldenen Westen. Ja, diese Brüche, vergessen wir oft, wenn wir über die Einheit jubeln. Bei der Einheitsfeier in Halle war davon die Rede, von den Biografien sprach die Kanzlerin Angela Merkel, ihrer eigenen. Und sie erzählte davon, wie man gelegentlich abschätzig mit solchen Lebensläufen sprachlich umgehe. Ja, sie bekannte sich zu ihrer Biografie, was denn sonst!? Die Jahrzehnte in der DDR gab es ja, es war kein minderwertiges Leben. Oder andersherum: Wir im Westen sind nicht die besseren Deutschen. Ich habe es erlebt Anfang der 2000er Jahre, als ich in Berlin war und mich anfreundete mit einer Familie im Osten der Stadt, der längst Teil der neuen Mitte geworden war. Das Anerkennen des eigenen Lebens in der DDR, dass man dort genauso viel geleistet habe wie unser einer, der im Ruhrgebiet aufgewachsen, in München studiert hatte und bei der WAZ in Essen beschäftigt war. Respekt voreinander, das habe ich dort gelernt, das Zuhören, wenn der andere aus seinem Leben in der DDR erzählte.
Geteiltes Deutschland
Dunkle Seite der Einheit. Der Zeitungs-Kollege, den ich oben zitiert habe, vergleicht Niedersachsen mit Thüringen, Nachbarn auf der Karte Bundesdeutschlands. Im Landkreis Göttingen (Niedersachsen) bekam die AfD 6,1 Prozent im Nachbarkreis Nordhausen-Eichsfeld stimmten viermal so viele für die Rechtsaußen im deutschen Parteienspektrum: 22,5 Prozent. Auch die Vergleiche in anderen Regionen zeigten, so das Blatt, „wie geteilt Deutschland am Tag der deutschen Einheit in der Einstellung zum Rechtsextremismus und Rechtspopulismus ist.“ Was auch heißt, wer sich die Karte unter diesem Gesichtspunkt anschaut, stößt wieder auf die innerdeutsche Grenze, wenn auch ohne Stacheldraht und bewaffnete Soldaten. Also auf der einen, der westlichen Seite liegen Bayern, Hessen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Hier kam die AfD im Schnitt auf Zustimmungswerte von 6,8 bis 9 Prozent. Schlimm genug, dass die braunen Nachfahren im Westen der Republik sich als inzwischen etabliert betrachten können. Wer jedoch den Blick über die alte Grenze wirft, erschrickt: die AfD-Erfolge in Brandenburg, Sachsen, Thüringen, Sachsen- Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern sind mehr als doppelt so hoch: nämlich zwischen 18 und 24,6 Prozent.
Diese Ergebnisse muss man sich dann noch im Einzelnen anschauen, wie das in der „Süddeutschen Zeitung“ zu lesen ist: in der sächsischen Gemeinde Dorfchemnitz grenzte sich Sachsens Ministerpräsident Kretschmer klar gegen die AfD im Lande ab, stellte sich den Bürgerinnen und Bürgern, wie ein Kümmerer zog er duchs Land, hörte den Menschen zu, „ließ sich anbrüllen“, ging zum Unternehmerstammtisch, zeigte sich auch beim Kettensägenschnitzwettbewerb, Kretschmer sorgte dafür, dass staatliche Gelder in die Kasse der Gemeinde flossen mit der Folge, dass die Turnhalle renoviert wurde. Und so weiter, und so weiter. Das Ergebnis bei der Bundestagswahl war mehr als ernüchternd, es war erschütternd: die AfD erhielt 47,9 Prozent der Stimmen, die CDU von Kretschmer lediglich deren 18,4 Prozent. Wer kann das erklären? Die SZ versucht es mit dem Dresdner Politik-Wissenschaftler Hans Vorländer. Demnach habe die AfD, um es in der Sprache des früheren SPD-Generalsekretärs Peter Glotz zu sagen, den vorpolitischen Raum erobert, sie sitzt am Stammtisch, im Heimatverein, in den Betrieben, beim Skatspiel mit den Bürgerinnen und Bürgern zusammen. Die CDU spiele da keine Rolle. Vorländer zufolge komme ein Malermeister Tino Chrupalla oder ein Kfz-Mechaniker Mike Moncsek besser an. (Man darf hinzufügen, dass es der SPD im Osten ebenfalls an Frauen und Männern mangelt, die den Kontakt zu normalen Menschen im Osten haben). Anderes kommt nach Vorländer noch hinzu: die DDR-Diktatur habe Spuren hinterlassen und zwar in den Köpfen der Bewohner, die einen stärkeren Hang zum Autoritären hätten, ja eine gewisse Demokratieferne.
Bleiben wir noch etwas bei der Wahl-Nachlese vom letzten Sonntag. 2017 gewann die AfD in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt drei Direktmandate, jetzt haben sie dort insgesamt 16 Wahlkreise für sich einnehmen können. Allein in Sachsen gewann sie 13 Direktmandate, alle von der CDU. Bundesweit kamen die Rechtsaußen auf 10,3 Prozent, vier Jahre zuvor waren es noch 12,6 Prozent. Wer dies als Erfolg der Demokraten gegen eine demokratiefeindliche Partei sieht, der sollte sich die anderen Ergebnisse genauer anschauen. Die AfD wurde in Sachsen und in Thüringen stärkste Partei mit rund einem Viertel der Zweitstimmen. Wie hatte noch der vor kurzem gestorbene Kurt Biedenkopf, langjähriger Ministerpräsident Sachsens, seine Sachsen gegen Kritik in Schutz genommen. Sie seien immun gegen Rechtsextremismus. Ja, von wegen. So einfach ist das nicht. Und in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern sollten sie sich besser auch nicht beruhigt zurücklehnen ob der Wahl-Ergebnisse. Dort kam die AfD als zwéitstärkste Partei ins Ziel.
Einiges falsch gelaufen
Warum wählen die Menschen in den neuen Ländern so? Dass sie die Linke abstrafen, kann ich nachvollziehen. Die hat nur vom Protest gegen die angeblich unsozialen Auswirkungen der Einheit gelebt, davon, dass sie dagegen waren. Ja, einiges ist falsch gelaufen. Ich finde es auch nicht richtig, dass die Löhne und Renten im Osten immer noch teils niedriger sind als im Westen, dass sich sehr viele als Verlierer fühlen. Davon hatte lange die Linke profitiert, das ist vorbei. Schon 2017 waren 400000 Wähler von ganz links nach ganz rechts gewandert. Weitere 160000 kamen jetzt hinzu. Unterm Strich, zitiere ich erneut den Bonner Generalanzeiger, verlor aber die AfD, die nicht nur vielen im Osten als faschistisch gilt, bundesweit 1 Million Wählerinnen und Wähler. Wie kommt es, dass die AfD, die vielfach von West-Importen lebt, wie Alexander Gauland, der früher bei Walter Wallmann in der hessischen Staatskanzlei in Wiesbaden diente, oder Björn Höcke, einem Geschichslehrer aus dem rheinland-pfälzischen Neuwied, den man gerichtsfest einen Faschisten nennen darf. Der Chef der AfD aus Sachsen-Anhalt stammt aus Niedersachsen, Andreas Kalbitz aus Bayern.
Nicht nur die dunkle Seite der Einheit gibt es zu erzählen. Da wäre Angela Merkel, wenn man so will in der DDR aufgewachsene Bürgerin, die mit der Wende in die Politik einstieg und wohl eher zufällig bei der CDU landete. Sie kam aus der Bewegung Demokratischer Aufbruch. Sie lebt in der Uckermark und sie bekannte sich während ihrer Rede bei der Einheitsfeier in Halle ausdrücklich zu ihrem Lebenslauf und regte dazu an, West- und Ostdeutsche sollten sich gegenseitig ihre Leben erzählen, um Missverständnisse auszuräumen, um sich besser zu verstehen. So ähnlich hatte es vor Jahren schon der damalige Bundespräsident Johannes Rau gesagt. Es gilt, Vorbehalte zu überwinden. Wir brauchen die Zivilcourage vieler Zeitgenosssen gegen die Tendenz zur Verrohung unserer Gesellschaft, gegen jene rabiaten Kräfte, die die Zivilgesellschaft zerstören wollen und deshalb den freiwilligen Helfern zum Beispiel im Sanitätsdienst und bei der Feuerwehr das Leben erschweren und deren verdienstvolle Arbeit sogar mit Gewalt verhindern wollen. Die Gesellschaft braucht die Demokraten, die sich täglich für die Demokratie einsetzen, sie schützen gegen jene radikalen Kräfte, die sie beseitigen wollen.
Ja, es gibt die andere Geschichte der Einheit, die „Auferstehung Ost“, wie das der „Tagesspiegel“ auf seiner Brandenburg-Seite nennt. Eine Story der Stadt Frankfurt/Oder, die darunter gelitten hatte, dass der Aufschwung Ost zu Ende war, als 1200 Arbeitsplätze verloren gingen und wo man jetzt davon träumt, dass dort an der polnischen Grenze “ das „Zukunftszentrum für Europäische Transformation und Deutsche Einheit“ entsteht. 200 Millionen will der Bund investieren, 200 Jobs sollen geschaffen werden, eine Million Besucher soll das Zentrum jährlich anlocken, es soll eine Forschungsstätte werden und ein „Begegnungs- und Kulturort“. Frankfurt/Oder eine Stadt, die am Rande liegt. „Hier fängt Europa an“, ist der neue Slogan, der Weg nach vorn. Das gelebte Europa, wer über die Brücke geht in Frankfurt/Oder ist in Slubice, Polen. Die beiden Bürgermeister sind befreundet. Frankfurt/Oder sei heute nicht mehr die Stadt der Baseballschläger, lese ich im Tagesspiegel, nicht mehr die Stadt der rechtsextremen und rassistischen Gewalt der 90er Jahre. Früher wurden linke Jugendliche von den Neonazis durch die Straßen gejagt, heute ist die Mauer an der Oder mit Graffiti besprüht: „Antifa Area“, steht dort zu lesen. Und: „Ossis gegen Rechts“- ein Spruch an der Konzerthalle.
Und wer will, mag den Traum von Frankfurter/Oder mitträumen. Neben dem Riesenrad am Oderufer hat die Reporterin des „Tagesspiegel“ eine Imbissbude gesehen. Die Aufschrift lautet: „Little Berlin“. Frankfurt/Oder hat heute- statt früher 88000- nur noch 57000 Bewohner.
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