1. Die Form und überraschende Botschaften
Die deutsch-amerikanische Stationierungs-Vereinbarung vom 10. Juli 2024 hat viele überrascht. Die Beiziehung der relevanten Kontexte ist nicht-trivial und hat viele Kommentatoren überfordert. Die Bundeswehr hat sich nun in einem bemerkenswert offenen Erklärvideo (Reihe „Nachgefragt“), in Form eines Interviews, erneut um Erläuterung und Einordnung dieser weitreichenden Entscheidung bemüht. Das Interview ist sehenswert.
Gesprächspartner ist Brigadegeneral Maik Keller, Unterabteilungsleiter für euro-atlantische Sicherheitspolitik im BMVg. Maxime des Gesprächs scheint maximale Offenheit zu sein. Nichts Problematisches soll verschwiegen werden.
Das Ergebnis hat mich in drei Punkten überrascht.
- In der Einordnung der treibenden Kräfte. Man gewinnt den Eindruck, dass es dominant die Europäer sind, die landgestützte LRF selbständig produzieren und dann auch stationieren wollen, dass die US-Systeme somit tatsächlich nur eine Unterstützung für eine Übergangszeit sind. Auf diesem Felde, so der Eindruck, will Europa sich autonom machen.
- Zur Begründung der Aufrüstung mit landgestützten LRF wird seitens der Politik viel von „Fähigkeitslücken“ geredet. Das entpuppt sich als Gerede nur. Die Bundeswehr räumt ein, dass es, was die Stationierung von US-Systemen angeht, lediglich um einen Gewinn an Flexibilität geht, d.h. es ginge auch ohne, es ist so nur komfortabler. Das langfristige Konzept der Europäer, welches im Segment LRF-Waffen Autonomie gegenüber den USA erreichen will, hat man vielleicht anders einzuschätzen.
- Dass mit der (geplanten) massiven Aufrüstung mit LRF-Waffen in Europa auf Präemption, auf Angriff, bevor der Gegner schießt, gesetzt wird, könnte man für ein strategisches Geheimnis bzw. Tabu halten. Der politische Direktor im BMVg, Jasper Wieck, hat dies im Kontext der deutsch-amerikanischen Vereinbarung vom 10. Juli 2024 explizit gemacht. Wer geglaubt hat, wie der Verfasser, der politische Direktor habe sich aus Versehen so problematisch geäußert, wird eines Besseren belehrt. Das Interview mit Brigadegeneral Keller macht deutlich: Man steht zu dem Konzept der Präemption. Angriff gilt als die beste Verteidigung. Das ist politisch klug, denn nur die Offenheit an diesem prekären Punkt erlaubt eine substantielle öffentliche Debatte. Da geht das Militär zudem deutlich weiter ins Offene als die Politik. Bestätigt wird damit gleichsam, dass die jüngste Studie der (linken) Informationsstelle Militarisierung (IMI) mit ihrem Titel „Frieden schaffen mit Angriffswaffen?“ die zur Klärung anstehende Frage kongenial formuliert hat.
2. Angriff gleich Verteidigung – Art. 51 UN Charta wird begrifflich ausgehebelt
Auf die Frage, wer den Einsatz dieser US-Systeme befehlen kann, teilt Keller zunächst mit:
Die Systeme würden ausschließlich für defensive Zwecke und nur aufgrund einer gemeinsamen Entscheidung der NATO-Partner eingesetzt. Weder könnten die Waffen von den USA im Alleingang eingesetzt werden, noch seien sie für eine Bestückung mit nuklearen Sprengköpfen geeignet.
„Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis. Das heißt einen Angriff, der von der NATO ausgeht, können wir aufgrund der Entscheidungsprozesse und der Grundausrichtung als Verteidigungsbündnis grundsätzlich ausschließen.“
Das ist ein starker Satz. Er gilt allerdings nur solange, wie „Angriff“ und „Verteidigung“ klar distinkte Begriffe sind. Das setzt auch Art. 51 UN Charta voraus. Was Keller jedoch leistet, ist eine Destruktion der Differenz von „Angriff“ und „Verteidigung“. Im Wortlaut:
„Die Waffen … würden dann eingesetzt werden, wenn wir im NATO-Rahmen aufgrund der … russischen Aggression, eines möglichen russischen Angriffs dazu gezwungen wären.“
Keller macht also klar, dass der Einsatz durch einen „möglichen“ russischen Angriff erzwungen werden könne – der „mögliche“ russische Angriff wird dann mit „russische Aggression“ gleichgesetzt.
Rhetorisch gesehen bedient sich Keller der bekannten Methodik der Herbeiführung von Zweideutigkeit mittels des Verfahrens contradictio in adjectu. „Agression“ ist ja nur die lateinische Fassung von „Angriff“. Keller aber setzt „russische Aggression“ mit „möglicher russischer Angriff“ gleich. Die von der NATO „erzwungene“ -Reaktion (eines massiven präemptiven Schlages) auf einen „möglichen russischer Angriff“ ist dann „Verteidigung“. Damit sind die zentralen Distinktionen in Art. 51 UN-Charta auf dem Müllhaufen der Geschichte deponiert; und das nicht etwa deshalb, weil Keller ein geschickter Rhetoriker ist, der viele Taschenspielertricks im Umgang mit Begriffen beherrscht. Nein, die Sache selbst, das Konzept der Kriegsführung mit diesen besonderen Waffen, erzwingt das so.
Sechs Minuten später spitzt Keller seine Aussage zum Wesen der Verteidigung im neuen durch die LRF-Waffen befeuerten Denken durch einen bildhaften Vergleich noch zu:
„Man kann versuchen, … den Bogenschützen auszuschalten, bevor er uns bedroht, das heißt einem Angriff … zu begegnen, bevor auf uns geschossen wird, um es ganz platt zu sagen.“
Formal sind das zwei unterschiedliche Aussagen, die Keller da macht. Ich halte es aber der mündlichen Äußerungsform zugute, dass Keller das Zugespitzte „ausschalten, bevor er uns bedroht“ nicht hat sagen wollen. Bleibt seine Formel „einem Angriff … begegnen, bevor auf uns geschossen wird“.
Es fragt sich: Was kann man sich unter einem „Angriff“ vorstellen, der diesem Kriterium genügt, bei dem (noch nicht) geschossen wird? Es könnte damit gemeint sein, dass die westlichen Geheimdienste aufgrund vertraulicher Erkenntnisse ihren Führungen mitteilen: Russlands Führung hat den Befehl zum Angriff bereits erteilt, es dauert aber rund drei Tage, bis die russischen Streitkräfte beginnen, das sichtbar umzusetzen. Ich kann mir aber schwer nur vorstellen, dass jemand ernstlich meinen kann, dass ein solches Zeitfenster angesichts der LRF-Waffen des Westens und der erklärten Konzeption zum präemptiven Schlag besteht.
3. Ein Präemptions-Schlag wird im NATO-Rat vorher abgestimmt – wirklich?
Keller beteuert, eine allfällige Entscheidung für einen Präemptions-Einsatz der so besonderen Waffen werde vorher einstimmig im NATO-Rat (oder seinen Untergliederungen) gefällt werden. Wie das gehen können soll, ist mir unerfindlich. Da gälte es zu erläutern, was da an geeigneten Entscheidungsstrukturen besteht. Bei 32 Mitgliedstaaten, von denen eine jede über ein Veto-Recht verfügt, bei all der Beteiligung: Wie soll das als Überraschung Geplante geheim bleiben können? Für praktikabel halte ich allein, dass mit Vorab-Freigaben hantiert wird.
4. Nicht die LRF-Waffen bringen die Instabilität, es ist das neue Kriegsführungskonzept höchstselbst, welches die UN-Sicherheitsordnung aushebelt
Wahrzunehmen gilt es somit, was das Kriegsführungskonzept von USA/NATO insgesamt ist, von der das Konzept der Stationierung von LRF der U.S. Army, also der Landstreitkräfte, ein kleines Detail nur ist.
Hinter der (geplanten) massiven Aufrüstung mit LRF-Waffen in Europa steht ein Konzept der Kriegsführung. Dessen Besonderheit ist, dass es auf Präemption setzt. Die Maxime ist: Wer zuerst schießt, gewinnt. Es wiederholt sich also heute bei diesem nicht-nuklearen Waffentyp exakt dieselbe Konstellation wie bei den Nuklearwaffen in den frühen 1950er Jahren, die als instabil erkannt wurde. Dagegen wurde dann, zur Stabilisierung und in Kooperation der beiden verfeindeten Mächte, das MAD-Konzept erfunden und eingerichtet. Das äquivalente Konzept für LRF-Waffen steht aus, dass es erfunden wird.
[1] https://www.whitehouse.gov/briefing-room/statements-releases/2024/07/10/joint-statement-from-united-states-and-germany-on-long-range-fires-deployment-in-germany/
[2] https://www.youtube.com/watch?v=pfyH1p9hsOY
[3] https://www.youtube.com/watch?v=DKdJncyyxYY
[4] https://www.imi-online.de/download/Mittelstreckenraketen-Web.pdf