Sieben Parteien, sechs Fraktionen, gut und (un-)gerne 30 Nazis im Bundestag, eine Schrumpf-SPD und die Grünen auf dem Weg zu Merkels Koalitions-Schlachtbank. Wenn das kein Umsturz des deutschen Parteiensystems ist, was sonst wäre Umsturz zu nennen? Sicher, es kann noch schlimmer kommen; Die NSDAP hat auch klein angefangen, um in wenigen Jahren zur stärksten Fraktion zu werden. Der Reichstagspräsident Göring hatte alsbald ganz darauf verzichtet, das Parlament überhaupt noch einzuberufen – soweit sind wir noch nicht. Stimmt, aber weit ist es nicht, nur noch einige wenige Fehler der demokratischen Parteien nah.
Die Fehler der Parteien sind es nicht allein, die die Erosion des Parteiensystems zu verantworten haben. Eine Hauptrolle spielen die Medien. Zwar hat Giovanni di Lorenzo Recht damit, dass nicht das Reden und Schreiben über die nach Europa fliehenden Menschen, sondern die Verunsicherung durch deren bloße Zahl Ursache für die Ablehnung der Flüchtlingspolitik sei. Muss man aber jeden Reizhusten und jede Provokation von rechts medial multiplizieren, jedes Extrem in den allabendlichen Talkshows präsentieren? Andersherum betrachtet: muss alles mit einem moralischen Zeigefinger, einem selbstgerechten Unterton so beschrieben werden, dass tatsächlich der Eindruck entsteht, den Rezipient*innen solle gleich das Urteil vor-geschrieben werden?
Zweifellos ist es so gut wie unmöglich, eine neutrale Nachricht über politische Vorgänge zu verfassen und nichts wäre langweiliger als ein Medium, in dem pointierte Meinungen und scharfe Kommentierungen fehlten. Aber eine Empörung, die nicht hinterfragt wird, eine Forderung, deren Folgen, würde sie erfüllt, nicht mit bedacht werden, wirken wie das altbackene „das-gehört-sich-nicht“. Der „Zögling“ erfährt nicht mehr, warum etwas sich nicht gehört, sondern nur dass Zuwiderhandlung mindestens unerwünscht ist. Wenn Medien einander wenigstens intelligent kritisieren würden, wie es eine längst vergangene, recht kurze Zeitspanne möglich war, wäre schon viel gewonnen.
Verheerender die sozialen Medien
Verheerender noch als unzureichende Journalistenleistungen wirken jene Medien, die wir schönfärberisch die sozialen nennen. Algorithmen senden Daten ins Haus, die von der Maschine als den jeweiligen Nutzer*innen wohlgefällig ausgerechnet wurden. Wie für Heimwerkerbedarf, Kreuzfahrten oder etwa Damenunterwäsche gilt das auch für politische Meinungen und die Empfehlung neuer „Freunde“. So schmoren die Teilnehmer*innen solcher Medien eigentlich nur im eigenen Saft. Umso empfindlicher werden sie, wenn ihnen von Medien, die noch von richtigen Menschen produziert werden, von jenem eigenen Saft Abweichendes präsentiert werden. Am verheerendsten ist vermutlich dieses Spannungsfeld, aus dem der Hass auf vermeintliche „Lügenpresse“ und der Glaube an Verschwörungstheorien hervorgehen. So kommt es, dass die am besten ausgebildeten Generationen der Menschheitsgeschichte – nicht nur in Deutschland – sich auf Verhaltensweisen und Denkschablonen hin zurückentwickeln, wie es sie seit der Implosion der Weimarer Republik nicht mehr gegeben hat.
Zurück zum Bundestag. Nun beginnt erst einmal das große Koalitionspoker. Nachdem die FDP schon schäumte, weil die Entscheidung der SPD für die Oppositionsrolle sie zur Mitregierung drängt, führt Merkel Gesprächsbereitschaft mit der SPD wieder ein, weil es ihr sehr nützlich wäre, eine Alternative zu der vertrackten Viererkoalition zu haben, die sie nun aushandeln muss. Die Lieblingsfragen am Tag nach der Wahl sind, ob und wie sich CDU, CSU, FDP und Grüne wohl als Regierungskoalition vertragen werden und wie der Bundestag insgesamt mit den Rechtsextremisten umgehen wird.
Jamaika-Messe noch nicht gelesen
Die Jamaika-Messe ist jedoch noch gar nicht gelesen und die Aussicht, dass die SPD doch noch – und zwar unter Druck – über eine Koalitionsoption entscheiden muss, ist keineswegs vom Tisch. Der Jubel im Willy-Brandt-Haus über die Oppositionsentscheidung am Wahlabend ist einerseits befremdlich. Sozialdemokraten sollten gestalten wollen und die Rekonvalenz durch Opposition ist ein Märchen – das zuletzt einmal gut 16 Jahre dauerte. Wenn die Zeit nicht genutzt wird für eine überzeugende Idee von der zukünftigen Gesellschaft, kann es noch länger dauern oder auch gar nie mehr klappen.Für die Demokratie allerdings könnte eine oppositionelle SPD ein Segen sein. Kaum vorstellbar, die Rechtsextremen hätten stets das erste Wort nach der Regierung und dann auch in den Medien. Eine humanistische, realistischere und gerechtere Alternative aus der Mitte der Gesellschaft wird für die Stabilität der Demokratie dringend benötigt.
Wer im Bundestag den Rechtsextremen beikommen will, sollte sich kurz an den Umgang mit der ersten Grünen-Fraktion erinnern. Damals wurden die Neuen mit Empörung, Verachtung, Verhöhnung und der ganzen Härte der Geschäftsordnung behandelt. Das hat ihr Überleben und ihre Etablierung nicht wesentlich behindert – eher im Gegenteil. Die Rechtsextremen sollten sich also nicht über eine ihren offenbar instabilen Zusammenhalt stärkende Opferrolle freuen können! Stattdessen sollten sie (und damit auch das große Publikum) sich wieder und wieder anhören müssen, warum Nationalismus verheerend, Rassismus verfassungswidrig und jeder Mensch für sich wertvoll ist. Man muss erklären, dass ein Staat keine Wohnung und kein Vorgarten ist. Was zum Schutz der Privatsphäre gut ist, ist für die Gesellschaft insgesamt nicht nur unmöglich, sondern obendrein auch unklug. Schwieriger wird die Abgrenzung natürlich, wo die Nähe der rechtsextremen Programmatik zum unsozialen Wirtschaftsliberalismus mindestens einer der eventuellen Koalitionsparteien offen zu Tage tritt. In NRW kann beobachtet werden, was Schwarzgelb für Mieter, Verbraucher und Langzeitarbeitslose bedeutet, nämlich weniger Schutz und weniger Hilfe. Aber dem Kapital auf Kosten der Allgemeinheit den roten Teppich auszurollen, ist ja in Deutschland und Europa nicht verfassungswidrig, sondern eher schon Staatsräson…
Politik vor der Wirtschaft
Hier dürfte der Hauptansatzpunkt für eine neue SPD-Opposition zu finden sein. Wie, sollte die älteste demokratische Partei sich fragen, sind dem Kapital wieder Grenzen zu ziehen? Wie kann der Primat der Politik über die Wirtschaft wieder hergestellt und sichtbar gemacht werden, dass die Wirtschaft für die Menschen da ist und nicht umgekehrt? Ab wann wird aus dem Spruch von der Kümmererpartei eine als Kümmererpartei handelnde, der die Leute wieder vertrauen? Niemand liest Parteiprogramme, heißt es, die der SPD (Wahl- und auch das Grundsatzprogramm) machen es den gewillten Leser*innen aber auch sehr schwer. Die Übersetzung der vielen glatt geschliffenen (und nicht selten widersprüchlichen) Formeln in eine alltagstaugliche Sprache scheint kaum möglich. Das größte Hindernis dafür – und damit für eine verständliche Zukunftsidee – ist aber, dass sprachliche Eingriffe in diese Formeln sogleich die Balance der Parteiflügel gefährden würde. Zwar hat die SPD fast schon seit der Gründung vor über 150 Jahren stets mit den Flügeln geschlagen, aber die Labilität der Balance ist eindeutig eine Folge der Schröder/Müntefering-Jahre.
Nachdem die Unionsparteien der SPD genüßlich vorgeworfen haben, dass es ja zwei linke Parteien gebe und sich daran delektiert haben, wie sehr das Mobilisierungspotential der SPD darunter litt, stehen diese nun vor demselben Problem – und vor einer Zerreissprobe zwischen den Schwesterparteien. Es wird noch viel Wasser den Rhein – und sogar die Spree – hinunter fließen, ehe die nächste Regierungskoalition steht.
Nie wieder. Nie wieder?
Die Ausdifferenzierung des Parteiensystems, die sich abzeichnenden Schwierigkeiten, Kompromisse zu finden, die Schwäche der ehedem Volksparteien genannten Union und SPD sind natürlich nur Symptome für den schwindenden Zusammenhalt der Gesellschaft. „Was hält die Gesellschaft zusammen?“ ist oft gefragt worden seit Westdeutschland Ostdeutschland geschluckt hat. Beantwortet wurde sie nie – weder theoretisch noch durch praktisches, politisches Handeln. Auf diese Unklarheit trifft nun die massive Globalisierung. So unvermeidlich sie ist – man kann sie ja nicht wie einen Film zurückspulen – so herausfordernd ist sie für eine ohnehin verunsicherte Gesellschaft. Der erscheint sie als wirtschaftliche, politische und kulturelle Grenzöffnung und sie reagiert wie eine gereizte Auster und macht erst einmal zu. Dafür steht nicht nur die neue rechtsextreme AfD; auch die egoistische Position der ehedem Europapartei FDP ist so ein „Austernreflex“. Die Flüchtenden, die ja derzeit in nur sehr geringer Zahl bei uns in Deutschland eintreffen, machen diese Öffnungen und Verunsicherungen überhaupt erst spürbar – und bekommen ihn schmerzhaft zu spüren.
Vor uns liegt also womöglich tatsächlich ein neues Deutschland: demokratisch instabil, narionalegoistisch, nur so europäisch, wie es gerade noch unvermeidlich ist, finanz- und wirtschaftspolitisch intransigent, in Konfliktsituationen eher eskalierend als ausgleichend. Mir kommen die Bilder und Berichte von den Attentaten und den Straßenschlachten am Ende der Weimarer Republik in den Sinn. Damals gab es allerdings eine ökonomisch-soziale Notlage, von der wir heute meilenweit entfernt sind. Ähnlich dürfte aber schon die Globalisierungserfahrung gewesen sein, der zerstörerische Börsencrash am „Schwarzen Freitag“ in New York und Berlin schien dem hilflos ausgeliefert; von den Rechten wurden flugs die Kriegsreparationen verantwortlich gemacht. Es gab eine Auseinandersetzung, ob ein Kurs internationaler Zusammenarbeit und europäischer – insbesondere deutsch-französischer Freundschaft oder nationalistischer Abschottung und Ausgrenzung eingeschlagen werden solle. Wie wir wissen, haben damals in Deutschland Nationalismus und Rassismus gesiegt. Nie wieder! Nie wieder?
Bildquelle: pixabay, User schokovanille, CC0 Creative Commons