Der Titel der Biographie klingt auf den ersten Blick mirakelhaft. „Johannes Rau: Der Besondere“. Er beansprucht ein Alleinstellungsmerkmal des langjährigen NRW-Ministerpräsidenten, des SPD-Landesvorsitzenden und späteren Bundespräsidenten in der Geschichte der Bonner und der beginnenden Berliner Republik – nach dem Motto: Er war anders als viele andere. Am Ende der Lektüre des Buchs von Ulrich Heinemann, das am 26. April von einem der Rau-Nachfolger als Ministerpräsident, Armin Laschet, in Düsseldorf vorgestellt wird, identifiziert sich der Leser gern mit dem Titel. Ja, Johannes Rau, 1931 im Bergischen geboren, gelernter Buchhändler, war etwas Besonderes im Politikbetrieb. „Ein Genie der Menschlichkeit“, wie der renommierte Spiegel-Autor Jürgen Leinemann einmal über ihn geschrieben hat.
Die Biographie ist ein Gewinn. Nicht nur, weil sie viele bis dahin unbekannte Details über das Leben und Wirken Raus, über sein Politikverständnis und seiner den Menschen zugewandten Art beschreibt. Sie ist auch deshalb ein Gewinn, weil sie auf üppigen 602 Seiten die Geschichte des Landes NRW und der Bundesrepublik kenntnisreich nachzeichnet und beim Leser manche fast vergessenen oder verdeckten Erinnerungen lebendig werden lässt. Interessant, dass viele Minister aus den Kabinetten Raus präsent geblieben sind, in der Folgezeit ist das kaum noch der Fall.
Mit dem Landesvater Rau sind die Bürgerinnen und Bürger zu „Wir in NRW“ geworden. Eine so große und starke Identifikation hat es weder vorher noch nachher gegeben. Er war für die Menschen an Rhein und Ruhr „Bruder Johannes“, aber keineswegs ein harmloser oder naiver Bruder. Dass es der fröhliche Pietist aus Wuppertal schaffte, sich gegen die oft selbsternannten Arbeiterführer aus den „Herzkammern“ der Sozialdemokratie als Landesvorsitzender und Ministerpräsidenten durchzusetzen, sagt viel über sein Stehvermögen. Dreimal (1980, 1985 und 1990) gewann er die Landtagswahlen mit absoluter Mehrheit.
Diese Traumergebnisse waren für die SPD so verlockend, dass sie ihn 1985 als Gegenkandidat Helmut Kohls für die Bundestagswahl 1987 kürte. Mit dem traumhaften NRW-Bonus hoffte Rau als „Bürgerkanzler“ auch im Bund zu gewinnen. „Bürgerkanzler“ – in Anlehnung an sein großes Vorbild Gustav Heinemann als „Bürgerpräsident“ Anfang der siebziger Jahre. Altkanzler Helmut Schmidt riet ihm von dem Vorhaben ab. „Schnörkellos“, so erinnert Autor Ulrich Heinemann, vermisste Schmidt bei ihm mangelnde Erfahrung in internationalen und sicherheitspolitischen Fragen. Statt ums Kanzleramt solle er sich um die Nachfolge von Richard von Weizsäcker als Bundespräsident bewerben.
Was bei Schmidt ein gutgemeinter Rat war, geriet bei seinem Gegner und Wahlsieger Kohl später zu einer Finte. Er spekulierte offensichtlich Anfang der 90er Jahre kurzfristig darauf, die SPD-Dominanz in NRW durch Rau als Nachfolger von Weizsäcker brechen zu können. Nicht auszuschließen, dass dieses machtpolitische Spielchen Kohls das Liebäugeln Raus mit dem höchsten Staatsamt und der späten Nachfolge des verehrten Gustav Heinemann beflügelte. Das Ergebnis ist bekannt. Kohl entschied sich auf Drängen der CDU für den Kandidaten Roman Herzog, der 1994 das Rennen um „Schloss Bellevue“ gewann.
Das war bundespolitisch die zweite Niederlage des erfolgsverwöhnten Landespolitikers. Schlimmer noch für ihn, dass der Machtvorsprung auch im Land erodierte und Rau 1995 nach dem Verlust der absoluten Mehrheit eine Koalition mit den Grünen eingehen musste. Ulrich Heinemann beschreibt eindrucksvoll, wie sehr der Landesvater mit der Politik und den Umgangsformen seiner neuen Partner fremdelte, dennoch den Erfolg des Bündnisses gegen Widerstände in den eigenen Reihen garantieren wollte.
Es folgten Jahre des Missvergnügens. Die eigene Partei verstand er nicht mehr, als sie auf dem Parteitag 1996 in Mannheim gegen Rudolf Scharping putschte, Oskar Lafontaine zum Parteivorsitzenden wählte, aber gleichzeitig ihn, den immer unumstrittenen Stellvertreter im Ergebnis abstrafte.
Im Land wurden Vorwürfe lauter, Rau habe den Strukturwandel nicht energisch genug angepackt. Die Blicke richteten sich immer mehr auf Wolfgang Clement, den langjährigen Freund von Rau und zu dieser Zeit Wirtschaftsminister, von dessen Macherqualitäten andere, aber vor allem auch Clement selbst, sehr überzeugt waren.
Die Nominierung seiner Partei zum Präsidentschaftskandidaten musste er sich – ein böses Wort – erkaufen, indem er 1998 die MP-Staffel an Clement übergab. Der sensible Rau wird es als Demütigung empfunden haben. Noch schlimmer aber war der mediale Gegenwind, den er vor und nach seiner Präsidentschaftswahl 1999 ertragen musste. Rau wurde als „Zumutung“ in den Medien empfunden: Zu alt, wieder ein Mann und keine Frau, kein Ostdeutscher. Gehässigkeit und Bösartigkeit in vielen Medien überdeckten den ersten Teil seiner Präsidentschaft. Johannes Rau, der „Besondere“ hielt es aus, wurde zu einem bei den Menschen beliebtem Präsidenten, so wie er es zwanzig Jahre als Landesvater gewesen war. Es muss ihn viel Kraft, Disziplin und auch gesundheitliche Überforderung gekostet haben. 2006, ein Jahr nach dem Ende seiner Amtszeit ist er gestorben.
Dass der Historiker Ulrich Heinemann fast zwanzig Jahre nach Raus Tod den Mut und die Energie aufbrachte, das Leben und die Zeit des Politikers noch einmal so opulent aufzuarbeiten, verdient Respekt. Dass die Biographie als 94. Band in den „Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens“ herausgegeben wird, ist mehr als ein Beleg, wie sehr NRW mit der Person von Johannes Rau verbunden ist.
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