Nach meiner Besprechung des Romans „Machandel“ von Regina Scheer soll in einem zweiten Schritt die Figur der Natalja, eine der Protagonistinnen, im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Geboren und aufgewachsen in Smolensk (Belarus/Weißrussland), ist sie als Sechzehnjährige 1941 als Ostarbeiterin zwangsrekrutiert und zusammen mit 150 Mädchen wie eine „Viehherde“ im Güterwagen nach Deutschland verschleppt worden. Im Roman wird ihr Schicksal in vier Erzählabschnitten (alle in der Ich-Form gehalten) bis in die Nachkriegszeit beleuchtet; jedes Kapitel umfasst eine bestimmte biografische Phase Nataljas mit entsprechendem Erfahrungshorizont der beteiligten Figuren und steckt so auch den Kriegsverlauf von den Eroberungen der Hitler-Armee an der Ostfront bis zu deren Zurückschlagung durch die Rote Armee der Sowjetunion ab.
Natalja, das spürt man gleich, ist eine Besondere: sie zeichnet sich bereits in jungen Jahren durch Willensstärke und Klugheit aus, Eigenschaften, die dazu beitragen, dass sie unter schwierigsten Bedingungen nicht nur überlebt, sondern auch viel lernt und an Menschenkenntnis hinzugewinnt. Noch bevor sie selbst abtransportiert wird, muss sie erleben, wie ihre Eltern 1939 als „Sowjetfeinde“ verhaftet werden. Die Botschaft, die ihre Mutter ihr mitgegeben hat, lautet: „Sei stark!“ Und diese flehentlich ausgesprochene Bitte oder Verpflichtung stärkt und stützt Natalja dann auf ihrem schweren Lebensweg als junge Frau in der Fremde tatsächlich: das Starksein und –bleiben wird zur Maxime ihres Handelns.
Hinzu kommt noch ein Kleidungsstück, nämlich eine Seidenbluse, die ihre Tante ihr aus Altsachen genäht hat, die sie stets bei sich trägt und von der sie fest annimmt, ihr das Leben gerettet zu haben. So, als wäre diese Bluse ein Symbol für ihre Würde und Unversehrtheit als Mensch. Und vielleicht hat die Bluse auch die Baronin beeindruckt, die Natalja als Arbeitskraft auf ihrem Gutshof in Mecklenburg ausgesucht hat – es waren aber vor allem wohl Nataljas in der Schule erworbenen Sprachkenntnisse in Deutsch und ihr Schummeln bei der Altersangabe (statt 16 behauptete sie, schon 18 zu sein), dass die Wahl auf sie fiel. So kommt die junge „Russin“ (wie sie genannt wird) nach Machandel aufs „Schloss“!
Im Dorf die „Fremde“, auf dem Gutshof in der Hierarchie ganz unten; als Schlafplatz dient ihr eine fensterlose Kammer neben der „Leuteküche“, und es gelten strikte Verbote speziell für die Ostarbeiter:innen, denen jeglicher Kontakt zu Deutschen untersagt ist. Jede:r kann ihr Befehle und Anweisungen erteilen, die sie zu befolgen hat, was einschüchtert und mit der Angst, Fehler zu machen, einhergeht. Über ihre Eingewöhnung heißt es:
Doch langsam verstand ich die Zeichen der fremden Landschaft, und ich lernte, die Menschen zu unterscheiden. Machandel hatte nicht viele Einwohner und alle gehörten irgendwie zum Schloss. Die Gutsherrin stand über ihnen allen, doch sie war mit ihrer Tochter oft auf Reisen, und auch wenn sie da war, kümmerte sie sich kaum um die Wirtschaft. Es war der Inspektor, mein Betriebsführer, vor dem alle Angst hatten. Mir schien, sogar Wilhelm Stüwe in seiner Uniform krümmte sich, wenn er ihn sah. Alle Gespräche verstummten, und jeder arbeitete schneller, wenn er in die Nähe kam. Nur die große Haushälterin stritt oft mit ihm, sie hatte auch das Recht, mir eine andere Arbeit zu geben, als er angeordnet hatte.
Ganz unten, wenn auch als Deutsche, ist mit Natalja eine junge Frau namens Marlene, die als Vollwaise für ihre sieben kleinen Geschwister sorgt, in bitterer Armut lebt und in einem Katen haust, ohne Wasseranschluss und Ofen. Als Essen werden ihr die Abfälle aus der „Leuteküche“ in Eimern gebracht. Immerhin versorgt die Haushälterin des Gutshofs beide Mädchen mit Kleidung, und darüber kommt es zu einer Annäherung zwischen ihnen, die sich – trotz des Kontaktverbots – auf Schleichwegen zu einer Freundschaft entwickeln soll. Sie gehen zusammen „in die Pilze“, sammeln Kräuter und erzählen sich aus ihrem jungen Leben. Auch für das Erlernen der deutschen Sprache ist dieser Kontakt im Verborgenen wichtig. Dazu heißt es:
Ich merkte selbst, wie das Deutsche mir allmählich zuwuchs wie etwas Eigenes, wie die Sprache selbst mein Freund wurde. Die Worte waren wie Lebewesen, die auf verborgene Weise zusammengehörten, erst wenn man diese geheimen Zusammenhänge entschlüsselt hatte, verstand man ihre Bedeutung.
Dieses Zitat steht auch für das Gewicht, welches die Autorin dieser Figur in ihrem Roman verleiht: sprachlich brillant, feinfühlig formuliert, sensibel für Lernprozesse und unglaublich schön gesagt.
Die Freundschaft und ihr tragisches Ende sind Gegenstand des dritten Abschnitts. Zwischen Natalja und Marlene entwickelt sich eine Vertrautheit, ja ein Vertrauensverhältnis, auf der Grundlage dessen, was sie einander erzählten und von einander lernten. Marlene war am Hof und im Dorf die einzige, die sich für Nataljas Herkunft, die Landschaft ihrer Heimat, ihre Eltern interessierte; ihre Sprache kam der Deutschen zwar seltsam vor, doch das Fremde daran wurde nicht als kränkend ausgesprochen und empfunden. Marlene wusste etwa alles über die Zugvögel, ihr Verhalten und ihre Reisen, oder auch über die bunt-glasierten Steine, die sie manchmal am Wegesrand fanden und für sie kostbar wie Schmuck waren, obwohl es sich nur um ein Abfallprodukt der Glasöfen in der Nähe handelte. Und Marlene kannte sich auch etwas in der Geschichte der Gegend über alte Ortsbezeichnungen aus: Sie …kannte die uralten Namen der Wiesen und Hügel um Machandel und konnte sie mir erklären. Galgenberg und Gillandsmoor, Klinkenberge und Rospalke, Lutken Wokerde und Kretstein. An den Namen, sagte sie mir, könne man erkennen, dass lange vor den Germanen die Slawen hier gelebt hatten. Ihr Vater hatte ihr das alles erzählt und auch, dass Kuhelmies nicht Mist von Kühen bedeutete, wie die Gutsköchin behauptete, sondern Nachtigallenort.
Und umgekehrt lernte Marlene auch manches von Natalja. Sie kannte Heinrich Heine nicht. Ich sagte ihr das Gedicht auf, das ich schon als kleines Kind auswendig gewusst hatte, von dem Fichtenbaum, der ‚träumt von einer Palme, / die, fern im Morgenland, einsam und schweigend trauert / auf brennender Felsenwand.‘ Das gefiel ihr, und ich war traurig, dass ich nicht noch mehr deutsche Gedichte kannte.
Die Freundinnen verständigen sich zudem über den Sinn des „Märchens vom Machandelboom“, von dem ja auch das Dorf seinen Namen hat – ein Thema, das den gesamten Roman durchzieht und mystisch/mytisch anmutet; denn Machandel ist erst einmal nur die alte Bezeichnung für Wacholder, doch in diesem Märchen geht es um Leben und Sterben und die Knochen eines kleinen Jungen, die für das Weiterleben stehen. Um dem Mythos auf die Spur zu kommen, hat Clara, die Hauptfigur des Romans, darüber sogar ihre Dissertation geschrieben.
Das Vertrauensverhältnis zwischen den Freundinnen geht so weit, dass Marlene von den nächtlichen Heimsuchungen und sexuellen Übergriffen bzw. Vergewaltigungen des Wilhelm Stüwe erzählt. In ihrer Not habe sie sich an die Schlossdame gewandt – was letztlich dazu geführt hat, dass Marlene „abgeholt“ wird, d.h. sie wird für „verrückt“ erklärt, und jemand, der den Verstand verloren hat, kommt wegen Gemeingefährlichkeit in Verwahrung, also in eine sogenannte Irrenanstalt. Es stellt sich heraus, dass diese Anordnung und Marlenes Abtransport zurückgehen auf ein Schreiben des Täters Stüwe, der dafür verantwortlich ist, das Marlene erst zwangssterilisiert und schließlich getötet wird. Unwertes Leben hieß das unter den Nazis.
Natalja trifft der Verlust ihrer Freundin hart, sie wird an Leib und Seele krank darüber. Und gleichzeitig sagt sie sich immer wieder, sie sei stark. Trotz der wachsenden Brutalität in der Region und im Ort – so hört sie beispielsweise davon, dass ein kleiner Junge, das Kind von Ostarbeitern, von einem Aufseher mit der Mistforke vor Zeugen erschlagen wird – hat man beim Lesen den Eindruck, diese Stärke wachse mit zunehmender Erfahrung: Nataljas Sprachvermögen in Deutsch ist so weit gediehen, dass sie alles versteht, was gesagt wird und sie nicht hören soll; ihr Selbstbewusstsein wächst, so dass sie auch dem „gierigen Blick“ eines Wilhelm Stüwe standhält, ja sogar so weit reicht, dass dieser den Blick abwendet – ein treffendes Beispiel für den Zugewinn an Stolz und Würde. Und es gibt auch heimliche Verbündete, die sie dabei unterstützen, wie etwa die Köchin vom Gutshof, die Natalja gegenüber einem wie Stüwe verteidigt und ihr dadurch den Rücken stärkt. Oder auch die Hausdame, die sie mit guter Kleidung versorgt, was auch eine Sache der Würde ist – alles jenseits der strengen Regeln und autoritären Verhaltensanweisungen von „oben“. Man hat fast den Eindruck, dass sich so etwas wie ein kleines Netzwerk von Hilfe und Unterstützung gebildet hat, was für Natalja gerade nach dem Verlust von Marlene immens wichtig ist.
Der vierte und letzte Abschnitt umfasst die Zeit vom Ende des 2. Weltkriegs, der Nachkriegszeit und dann noch historisch gerafft die Zeit in der Generationenfolge von Eltern wie Hans und Johanna Langner auf deren Kinder Jan und Clara. Von der Konstruktion des Romans her lässt Regina Scheer hier Nataljas Geschichte resümierend zu einem Abschluss kommen und mit Blick auf das Leben danach in die Hände ihrer Tochter Lena und den Kindern der Langners legen. So entstehen Kontakte wie der zwischen Natalja und Clara aufgrund eines Fotoalbums, das letztere zufällig auf dem Speicher ihres Katen gefunden und darin Fotos von Marlene entdeckt hat. Interessiert an deren Schicksal, kann ihr Natalja Auskunft geben darüber, was ihre damalige Freundin für sie bedeutet habe und was dieser widerfahren sei; zum einen die Sorge um ihre kleinen Geschwister, für die sie Mutterersatz war, zum anderen ihr tragisches Ende. Natalja behält die ganze Wahrheit jedoch für sich, denn sie will ihre Freundin auch nach deren Tod noch schützen. Doch Clara lassen die Andeutungen anscheinend keine Ruhe, sie recherchiert und findet am Ende auch Beweismaterial dafür, dass hier ein Verbrechen vorgelegen hat und wer der Schuldige gewesen ist. So liest sich dieses Kapitel – auch wenn es von vielen Gräueltaten wie Massenvergewaltigungen, Verhaftungen und Erschießungen der „Verräter“ durch die Rote Armee unter Stalin zeugt – im Fall von Marlenes Schicksal wie eine Art Abschluss mit aufklärender Wirkung. Und die Weitergabe des Wissens um dieses Verbrechen an die nächste Generation über Clara hat neben dem Schrecken auch etwas Tröstliches. Man fragt sich, wie Regina Scheer darauf gekommen ist, eine Figur wie Natalja zu konstruieren; gab es Vorlagen oder gar eine konkrete Person oder hat sie das alles wirklich „nur“ erfunden? Im Grunde ist die Fragestellung müßig, denn – wie schon bei der Figur des Hans Langner – ist der Realismus der inhaltlichen und formalen Gestaltung allemal überzeugend gelungen in diesem herausragenden Roman.