Vorbemerkung
Im Jahre 2018 – 50 Jahre nach der 68er-Bewegung – gab es zahllose Rückblicke, Loblieder oder auch Verrisse der „außerparlamentarischen Opposition“ (APO). Auch ich habe aus Anlass dieses „Jubiläums“ in einem kleinen Text über meine persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen in und mit der Studentenbewegung berichtet. Mein eigener Rückblick war für mich eine interessante (Selbst-) Erfahrung, weil durch die Beschäftigung mit dieser Zeit bei mir Erinnerungen wach geworden sind, die ich längst vergessen glaubte. Das Jahr 1968 war sicherlich der Höhepunkt der Studentenbewegung und zugleich der Beginn ihres raschen Zerfalls.
Da ich diesen Niedergang im „Notvorstand“ des Verbandes Deutscher Studentenschaften (VDS) – im Wortsinne – am eigenen Leibe erfahren habe, bin ich diesen Nachhutgefechten der 68er-Bewegung über die Jahre 1969 bis 1970 nachgegangen.
Diese Schilderung ist kein im strengen Sinne historischer Rückblick, schließlich war ich selbst Akteur. Ich habe die schon für meinen 68er-Rückschau aus dem Dachboden heruntergeholten Unterlagen für die beiden Folgejahre durchgestöbert und dabei wurden mir Zeitbilder ins Gedächtnis gerufen, die ich in den landläufigen Rückschauen auf die Studentenbewegung bisher nicht angemessen dargestellt gefunden habe. Auch in der von Wolfgang Kraushaar herausgegebenen voluminösen „Illustrierten Chronik“ der 68er-Bewegung kommen die Kämpfe im und um den studentischen Dachverband, in dem alle westdeutschen und west-berliner Universitäten und Pädagogischen Hochschulen organisiert waren, nicht vor. Siehe Wolfgang Kraushaar, Die 68er Bewegung, in 4 Bänden, speziell Band 4,1969, Stuttgart 2018
Der Versuch der „Liquidierung“ des Verbandes Deutscher Studentenschaften (VDS) durch den antiautoritären Flügel des SDS
Die Mitgliederversammlung des Verbandes Deutscher Studentenschaften (VDS) am 15. November 1969 in der Aula der Hamburger Kunsthochschule am Lerchenfeld verlief chaotisch. Die Mehrzahl der stimmberechtigten Studentenvertretungen der westdeutschen Hochschulen war gar nicht erst erschienen. http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/45317926 Die bisherigen Vorstandsmitglieder des VDS, vier SDSler, Julian von Eckardt (Heidelberg), Michael Wolf, Frank Wolff (beide Frankfurt a.M.) und Hannes Heer (Bonn) erklärten gleich zu Beginn ihren Rücktritt und beschimpften die verbleibenden Genossen als „Funktionärspack“, „verselbständigte Bürokraten“ oder einfach als „Funktionäre“, die die „revolutionären Ansprüche der Studentenrevolte“ verraten hätten. SDS-Bundesvorstand – VDS-Bundesvorstand, in studentische politik 7 – 1969 S. 83
Hier Auszüge aus der Nachschrift eines Tonbandprotokolls (originalschriftlich):
Frank Wolff: „Ich eröffne die Erklärung des SDS, mit der Erklärung, daß der Vorstand des vds und der Sekretär des Zentralrates des vds hiermit zurücktreten. Habt ihr das alle verstanden…Kommilitonen wir werden auf dieser Versammlung nicht diskutieren, sondern zwei Erklärungen hier abgeben und zwar in denen wir darstellen (warum) wir auf dieser MV nicht diskutieren können und es politisch für irrelevant halten …Wir haben hier folgendes zu erklären, nämlich die Voraussetzungen, unter denen diese MV stattfinden wird, ist, daß wir nicht mehr an ihr teilnehmen werden…anschließend können die Herren und Damen, die ein Interesse daran haben, die MV durchführen, die Formalien dann selber machen…
Ich werde auf zwei Punkte eingehen: erstens einmal die Erfahrungen des letzten halben Jahres, zweitens die Konsequenzen, die wir daraus zu ziehen haben für die nächste Zeit, vor allen Dingen Konsequenzen, die außerhalb des vds liegen werden.
Wir können ausgehen davon, daß es bei der Übernahme des vds durch den SDS zu einer Reihe von Fehlern gekommen ist, genauer gesagt, daß wir unter falschen Voraussetzungen diskutiert haben und daß die verschiedenen Konzepte, die diese Übernahme begründet haben, eine Fehleinschätzung zunächst einmal..
René Herrmann: Es ist doch vollkommen sinnlos, daß du hier eine Erklärung verliest, wir wollen mit euch hier diskutieren…
U. (Udo (WL)) Knapp: Sei doch mal ruhig da. Du bist nicht dran Schluß…(Unruhe)
Was soll das denn überhaupt…
René Herrmann: Wir haben die Erklärung hier vorliegen.
SDS: Schnauze sollt ihr halten….(Unruhe)…
Frank Wolff: Herr Kommilitone, wen Sie meinen, daß sozusagen die Diskussion auf diesem Wege zustande kommt, ist das ein Irrtum, es kann auch gar nicht in eurem Interesse sein, daß ihr uns sozusagen auf diese Diskussion drängt, denn ihr seid in zehn Minuten oder in einer Viertstunde haargenau in demselben Dilemma drin. Ob ihr uns nun dazu zwingt ein Präsidium zu wählen oder nicht…(Unruhe)…
Diese Erklärung geben wir ganz einfach deshalb ab, …das wirst du gleich kapieren, wenn du die Erklärung gehört hast.
René Herrmann: Aber Reiner, hör mal zu, wir wollen doch mit euch nicht mehr diskutieren, ist doch voll…
Reiner Geulen: R. H. (René Herrmann (WL)) die IG Metall hat hier auf dieser MV nichts mehr zu sagen. Meine Zeit…(Gelächter).Geh nach Frankfurt zur IG Metall ins Zentralbüro…
R.H. (René Herrmann(WL)): Das ist doch ein literarisches Problem, jetzt seht doch ein… und benehmt euch auch entsprechend…
U. Knapp: Kommilitone, was soll das denn heißen, wir sollen uns benehmen. Wir haben erklärt, daß wir nicht bereit sind, mit bestimmten Idioten zu diskutieren, wir möchten eine Erklärung abgeben und dann ausziehen…(Unruhe)…ihr könnt uns nicht mit eurer scheißautoritären Weise hier überfahren…deswegen würde ich euch bitten, daß ihr jetzt den Mund haltet und wir diese Erklärung verlesen, daß wir dann diese Versammlung verlassen, damit ihr die Diskussion um die Zukunft des vds führen könnt… (Unruhe)…
Frank Wolff: Also mein lieber Kommilitone, wir müssen euch ein weiteres Mal wieder darüber belehren, daß ihr noch nicht einmal im Entferntesten eure eigenen Interessen wahrnehmt… Ihr könnt eines in keinem Fall erreichen, daß ihr sozusagen verhindert, daß wir diesen Auszug machen und daß wir hier in eine Diskussion eintreten. Ihr könnt froh darüber sein, daß wir (diese) Erklärung in dieser öffentlichen Situation abgeben (Gelächter) und diese Erklärung ist die Basis dafür, was praktisch hier bei uns geschehen wird. Und das, was ihr jetzt macht, könnt ihr nachher genauso gut sagen und machen und danach könnt ihr hier verfahren, wie ihr wollt und danach interessiert uns hier die Sache nicht mehr hier in Hamburg, sondern interessiert uns die Sache in den einzelnen Städten, wie der Kampf gegen euch ganz klar geführt wird….
Jedes Chaos, das ihr hier produziert, kann nicht im geringsten in dem Interesse sein, daß ihr diese MV überhaupt zu einem Gremium macht, in dem quasi
(Zwischenruf: Macht, daß ihr rauskommt)
eine SHB-Linie oder überhaupt eine reformistische Linie sich durchsetzen kann
(Zwischenruf: Das ist doch verschwendete Luft)
,…das heißt, jede Chaotisierung schlägt ganz klar gegen euch zurück und was ihr macht zeigt, daß ihre die eigenen Interessen nicht erkennt…
(Zwischenruf: Junge geil dich doch nicht selbst auf)
R.G. (Reiner Geulen (WL)): Halt doch die Schnauze Mensch…
Wolfgang Roth (falsch: es muss Karl-Heinz Roth heißen (WL)): Es muß dir doch klar sein, daß ihr hier selber das Chaos produziert. Ich frage den Genossen Frank Wolff als SDS-Mitglied aus Hamburg, ob er, der vds-Bundesvorstand, bereit ist, seine Erklärung hier zu diskutieren oder nicht und wenn er das nicht tut , dann muß festgestellt werden und das sage ich als SDS-Mitglied, daß die Organisatoren des Chaos hier der vds-Bundvorstand sind (Beifall)…
Udo Knapp: Ich glaube, Kommilitonen, man sollte zu dem Beitrag des SDS-Mitgliedes Karl-Heinz Roth eine kurze Stellungnahme abgeben …Das Problem, das sich für uns hier stellt, ist ganz klar zu formulieren: der SDS hat einen Fehler gemacht, daß er in diese Institution hinein gegangen ist, und das gilt es zu berichtigen. Und wenn hier irgendjemand meint, daß er dadurch, daß er diesen vds übernehmen könne, irgendeinen Beitrag dazu leistet zu den Fragen, die zu erarbeiten sind an der Basis in den Universitäten, der hat sich getäuscht. Und ich würde euch empfehlen, diese Beiträge von Frank Wolff und Volker Müller anzuhören, um deutlich zu machen, in welcher Misere ihr seid. Ihr habt nur eine Chance: entweder zu Knechten der Kapitalisten zu werden (Heiterkeit) oder tatsächlich zusammen mit dem vds zu arbeiten…(Unruhe)
Frank Wolff: Kurz ein Wort zu Karl-Heinz nochmal: Wir haben klar erklärt…daß diese vds-Versammlung für uns weder ein Legitimations- noch ein Entscheidungsgremium ist, noch überhaupt politische praktische Relevanz hat, daß sie sozusagen nur eine öffentliche Situation ist, in der wir kurz unsere Erklärung noch einmal darstellen, das haben wir klar erklärt, du kannst eine andere Position vertreten, daß du aber dich hier opportunistisch auf die Woge derjenigen setzt, die dir Beifall geklatscht haben…solltest du bemerkt haben….
K.-H. Roth: Genosse Wolff, das ist natürlich immer eine sehr billige Methode, seine eigenen politischen Fehler, den inneren Kritikern in einem Verband in die Schuhe zu schieben, das muß dir ganz klar sein. Ich habe eine Frage gestellt: Seid ihr bereit, das Statement hier zu diskutieren oder nicht.
Reiner Geulen: Mit Sozialdemokraten diskutieren wir halt nicht, damit der Fall hier ganz klar ist.
Frank Wolff: Wir haben klar gesagt, daß wir nach dieser Erklärung hier ausziehen werden und daß diese Diskussion nicht hier stattfinden wird…ich hab von euch kein einziges Argument dafür gehört…Genosse Roth, du hast dazu nichts Substantielles beigetragen und ich muß dir ganz klar diesen Opportunismus vorwerfen. Es ist kein billiges Argument, daß ich dich darauf hinweise, wer dich in diesem Fall unterstützt. Das ist nicht ein billiges Argument, sondern ein praktisches Argument, das sollte dir zu denken geben. Ich gehe aber jetzt zu meinen Ausführungen über:
…der Hauptfehler der Übernahme scheint mir darin zu liegen, daß eine Fehleinschätzung der Institution vorgelegen hat. Das ist zu diskutieren auf zwei Ebenen, zunächst einmal…nämlich die Fehleinschätzung als ginge es um einen Verband, der quasi der Studentenbewegung und der antiautoritären Revolte zugehört…nämlich die Fehleinschätzung zur Funktionalisierung sich niedergeschlagen hat, zunächst einmal…
(Zwischenruf: Warum sucht ihr denn die Schuld nicht bei euch selbst)
Wirst gleich was dazu hören, vielleicht merkst du das – nämlich die eine Einschätzung, die sozusagen relativ direkt von einer Funktionalisierung und einer Instrumentalisierung dieses Verbandes für die Studentenrevolte ausgegangen war, durchaus in dieser abstrakten Form und die andere, die der Meinung war, die Organisationsprobleme , die im Augenblick in der Bewegung bestehen, bei dem Rückgang der spontanen Bewegung und den Einzelfortschritten in den verschiedenen arbeitsteiligen Bereichen könnten durch den vds quasi pragmatisch und, wie wir nachher gesehen haben, pragmatistisch gelöst werden oder jedenfalls ein Stück vorankommen. Der allgemeine Charakter dieser Institution ist überhaupt nie im Einzelnen diskutiert worden. Wir sollten kurz noch einmal reflektieren auf zwei Ebenen, zunächst einmal diese Institutionen sind wie alle relativ unwichtigen…..
usw. usf.
(VDS press 2, v. 26.01.70; privates Archiv)
In der vorgelegten dreiseitigen schriftlichen Erklärung der zurückgetretenen SDS-Vorstandsmitglieder hieß es u.a.:
„Im Juni dieses Jahres (1969 (WL)) hat der SDS den VDS übernommen, um den Versuch zu machen, die fachspezifischen und dezentralisierten Arbeitsbereiche, die die verschiedenen Mobilisierungsphasen der Studentenrevolte relativ naturwüchsig hervorgebracht hatten, und die dann als einigermaßen fest strukturierte erkennbar waren, pragmatisch zusammenzufassen und überregional zu organisieren.
Die Vorstellung, man könnte so die inhaltliche Bestimmung revolutionärer Perspektiven sozialistischer Politik und den diesen Inhalten entsprechenden Prozeß der Organisation des Kampfes mit Hilfe einer übernommenen und dazu aufbereiteten Institution vorantreiben, ist eine bürokratische Fiktion.
Der VDS – und jede der existierenden ähnlichen Institutionen – ist für den gegenwärtig notwendigen Prozeß der Organisation der sozialistischen Studenten in Bezug auf die sich entwickelnden Klassenkämpfe nicht zu gebrauchen…“
Eine richtige Zentralisierung der studentischen Bewegung könne nur in den dezentralisierten Kämpfen durch die Studenten selbst vorangetrieben werden. Und weiter hieß es:
„Alle diejenigen, die zwischen der technokratischen und der revolutionären Konsequenz der Hochschulrevolte schwanken, haben hier eine prinzipielle Entscheidung zu fällen zwischen der Mitarbeit am praktischen und theoretischen, am lokalen und überregionalen Prozeß der Organisation des Kampfes gegen den Kapitalismus in der Bundesrepublik und dem endgültigen Verkommen zu Knechten kapitalistischer Unterdrückung!…“
Die Erklärung schloss:
- „Der VDS-Vorstand tritt hiermit aus seinem Amt zurück.
- Der VDS ist – wie immer auch strukturiert – für die revolutionäre Arbeit in der BRD bedeutungslos. Der SDS zieht sich daher aus der Arbeit im VDS zurück.
- Der SDS empfiehlt den anwesenden Funktionären, sich in die inhaltliche Auseinandersetzung der Revolte zu begeben, anstelle im VDS zu Kapitalistenknechten zu verkommen.
- Die SDS-Asten erklären hiermit ihren Austritt aus dem VDS und verlassen die MV.“
(studentische politik 7-1969, Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, S. 82ff. (84))
Selbstkritisch räumte der SDS-VDS-Vorstand ein: „Es ist so, daß ein Fehler, der zugleich etwas richtiges in sich barg, der antiautoritären und emanzipatorischen Bewegung der war, daß man angenommen hat, man könne auf einen Schlag im emanzipatorischen Akt, sowohl sein eigenes Bewußtsein als auch seine Klassenlage, als auch seine ganze Vergangenheit verleugnen und mit einem Schlag zum revolutionären Individuum werden. Und das hat sich ganz klar gezeigt, das war ne Illusion.“ (Privates Archiv)
Zu dieser schriftlichen Erklärung des „SDS-VDS-Bundesvorstandes“ gab es Stellungnahmen des AStA Heidelberg.
Die Heidelberger vertraten zwar eine „Konzeption der Instrumentalisierung“, indem der VDS „seine Mittel zum Schutz der durch Ordnungsrecht und verschärfte Kriminalisierung bedrohten Studenten und zur materiellen Unterstützung der notwendigen, zentral zu führenden strategischen Diskussion, also z.B. zur Unterstützung schon bestehender lokaler, aber überregional intendierter Blätter bewusst hätte einsetzen müssen“. Die studentische Linke sei jedoch organisatorisch nicht in der Lage gewesen, „den Apparat vds in diesem Sinne auszunutzen und zu handhaben“. Sie habe sich stattdessen auf eine „ellenlange Strukturdebatte“ eingelassen und „zu guter Letzt sollte einer solcherart falsch konzipierter Politik dann durch die Parole von einer „offensiven Liquidierung“ doch noch der Schein des Erfolgs verliehen werden…“ (studentische Politik 7 – 1969, Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, S. 85f.)
Der Verband sei nicht vom „SDS-VDS-Bundesvorstand“, sondern schon vorher durch die Bundesregierung liquidiert worden und könne, wenn überhaupt, lediglich als ihr Anhängsel erhalten bleiben, meinten die Heidelberger und verließen ebenfalls die Hamburger Mitgliederversammlung und erklärten gleichzeitig ihren Austritt aus dem VDS. Mit einer teilweise gleichlautenden Erklärung trat auch der AStA der TH Darmstadt aus dem Verband aus.
Dagegen veröffentlichte der „Spartakus – Assoziation Marxistischer Studenten“ nach der Hamburger MV eine Presseerklärung mit einer heftigen Attacke gegen den SDS-Bundesvorstand:
„Die versuchte Zerschlagung des vds durch den selbsternannten SDS-BV bildet den bisherigen Höhepunkt der Destruktionspolitik dieser Führungsclique gegenüber der demokratischen und sozialistischen Studentenbewegung und gegenüber ihrem einstmals führenden Verband, dem SDS. Durch den Auszug aus der vds-MV sollte die politisch-inhaltliche Diskussion verhindert und jede Kritik an dieser Politik unmöglich gemacht werden. Dies zeigt den Grad der Verselbständigung dieser Gruppe nicht nur gegenüber den SDS-Genossen, sondern gegenüber der gesamten demokratischen und sozialistischen Studentenbewegung, die durch diese Politik der abenteuerlichen und unverantwortlichen Phraseologie in Resignation und Apathie geführt wurde. Die BV-Gruppe machte sich damit zum Handlanger derer, die zur Durchsetzung ihrer Formierungspläne für Wissenschaft und Hochschule die Zerschlagung und Integration der oppositionellen Studentenbewegung betreiben…“
Die Delegierten der „Spartakus“-Gruppe vertraten auf der MV die Meinung, dass der VDS erhalten und im Sinne einer „demokratischen Selbsthilfeorganisation und eines Initiativ- und Koordinierungsorgan für den Kampf gegen die Formierungspläne der Herrschenden weiterentwickelt“ werden müsse.
In einem Antrag der „Spartakus“-Delegation und des AStA der Universität Hamburg hieß es: „Zum augenblicklichen Zeitpunkt würde eine VDS-Liquidierung bedeuten, daß wir vor der organisierten Reaktion im überregionalen Bereich das Feld räumen.“
(VDS press 1)
Im „Notvorstand“ des VDS
Nach der Rücktrittserklärung des „SDS-VDS Bundesvorstands“ verließen die Allgemeinen Studentenausschüsse von Berlin, Frankfurt, Heidelberg, Mannheim, Darmstadt, Kiel und der Uni München mit Triumphgebärden und unter Protest der Verbliebenen den Versammlungsaal. Zurück blieben 22 Asten meist kleinerer Hochschulen mit gerade noch 79 von 244 Stimmen. Es waren überwiegend Studentenvertretungen, in denen der Sozialdemokratische Hochschulbund (SHB) den AStA stellte, dann blieben noch einige wenige AStA-Vertreter, die sich vom SDS abgespalten hatten und einige Vertreter des sich in Gründung befindlichen „Marxistischen Studentenbund Spartakus“ (etwa aus Köln und Bonn), darüber hinaus harrten noch einige Vertreter aus, die dem marxistischen Flügel des SDS (z.B. von Marburg) angehörten und eine Hand voll „Unabhängige“, die jedoch den verbliebenen politischen Gruppierungen nahestanden.
Volker Malin (vom AStA-Kollektiv Hamburg) übernahm die Verhandlungsleitung und stellte fest, dass die Versammlung nicht mehr beschlussfähig und dass sie nicht mehr in der Lage sei, verbindliche Beschlüsse zu fassen. Dennoch diskutierten der verbliebenen Rest der Studentenvertreter über künftige Aufgaben des VDS und wählten vorsorglich Jürgen Kegler (Uni Bonn), Manfred Protze (Uni Göttingen), Eckart-Michael Muschol (RWTH Aachen) und mich (Uni Köln) in den neuen Vorstand.
Ich hatte mit 53 Ja- gegen 26 Neinstimmen das schlechteste Ergebnis, Eckart Muschol mit 67 Ja- gegen 12 Neinstimmen fand die meiste Zustimmung, Jürgen Kegler erhielt 64 Stimmen und 15 gegen sich, Manfred Protze erzielte 62 zu 17 Stimmen; nicht gewählt wurde der Kommilitone Müller mit 35 Ja- bei 44 Gegenstimmen.
Ein Bonner Amtsgericht setzte uns vier Gewählte als „Notvorstand“ nach § 29 des Bürgerglichen Gesetzbuches ein. Als wir nach unserer gerichtlichen Einsetzung nach Bonn kamen, standen wir in der Georgstraße 25 – 27, wo der VDS damals in einem Bürogebäude drei Etagen gemietet hatte, vor einer mit Büromöbeln verrammelten Eingangstür. Auf unser mehrfaches klingeln, rief eine Frauenstimme: „Hier kommt keiner rein!“ Es war die Stimme der damaligen Hausmeisterin und „guten Mutter“ des VDS. Praktisch hatte sie vom VDS gerettet, was überhaupt noch zu retten war. Nach gutem Zureden und viel Überzeugungsarbeit ließ uns Frau Markmann ins Haus.
Wir fanden verwüstete Büroräume, aufgeschlitzte Sitzmöbel, mit Parolen beschmierte Wände, kaputte Telefone und ein Aktenchaos, das Archiv war (wie wir später erfuhren für 14.000 DM) an das Bundesarchiv in Koblenz verkauft.
Der SDS-VDS-Vorstand hatte den Umzug der Geschäftsstelle vom „blöden Bonn“ (So z.B. im Rundschreiben des Vorstandes vom 25.9.1969; privates Archiv) nach Frankfurt geplant. Er entließ einen Großteil der einstmals 25 Mitarbeiter/innen, schaffte Dienstwagen an, genehmigte sich teure Dienstreisen, löste Konten auf, tätigte Ausgaben ohne Buchungen. Auch die Anwaltshonorare u.a. an Horst Mahler wurden immer höher.
Daseinsbedingend für den „Notvorstand“ war, dass schon am 13. September 1969 die Asten aus Aachen, Freiburg und Würzburg in Zusammenarbeit mit den Bundesvorständen des Sozialdemokratischen Hochschulbunds (SHB) und des Liberalen Studentenbund Deutschlands (LSD) gerichtlich einen teilweisen „Arrest“ der Bankkonten erwirkt hatten. (studentische politik 7-1969, S. 53f.)
„Indem die Sozialdemokraten jedoch mit der Justiz gegen andre politische Richtungen vorgehen, entlarven sie, daß sie ihre politischen Möglichkeiten noch nicht einmal erkennen und schon ebenso bürokratisch handeln, wie die offiziellen Machtapparate. Die LSD- und SHB-Funktionäre haben sich damit endgültig von der sozialistischen Studentenrevolte getrennt“, erklärte zu diesem Vorgehen der SDS-VDS-Vorstand in einer Presserklärung vom 14. 9. 1969. (Privates Archiv).
Seit April 1969 gab es keine geordneten Buchungen mehr. Es gab keine Klarheit über die Auflösung von Konten. Von den noch verbliebenen 6 Angestellten, waren 4 schon ausgeschieden als wir unser Amt antraten. Der Bundeszuschuss – einstmals rd. 800.000 DM – war gestrichen. Mitgliedsbeitragszahlungen der Studentenschaften blieben aus. Nur die neben der Hausmeisterin einzig verbliebene Angestellte, die Buchhalterin Frau Grawe, hatte einen groben Überblick über die Finanzlage – und die war desaströs. Die Buchhalterin hatte zum 3.11.1969 einen Nachtragshaushalt erstellt. Danach ergab sich gegenüber dem Jahresansatz bei den Mitgliedsbeiträgen von 621.829,15 DM eine Beitragslücke in Höhe von 467.996,15 DM. Eingegangen waren bis dato nur 89.833 DM an Mitgliedsbeiträgen. Einnahmen in Höhe von insgesamt 107.229 DM standen Ausgaben von 389.804 DM gegenüber. Das Kassendefizit lag bei knapp 300.000 DM. Rücklagen von 592.000 DM waren aufgelöst.
Ein gutes Dutzend Gerichtsprozesse war anhängig.
Ein liberal-konservativer Gegenverband, die „Arbeitsgemeinschaft Deutscher Studentenschaften“ (ADS) war schon gegründet und wartete auf die Übernahme des VDS. Christoph Ehmann, Gesamtvertretung ohne Ideologie, studentische poliltik 7 – 1969 Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert Stiftung, S. 15 ff. Die ADS versuchte sich bei der Bundesregierung und bei der SPD als neuer Repräsentant der Studentenschaften anzudienen. Der Studentenverband der Ingenieurschulen (VDI) neigte zum Anschluss an die ADS. Die ADS hatte in Rundschreiben versucht, die Asten zur Beitragsverweigerung an den VDS zu bewegen. (Presserklärung v. 18.1.1970 Privates Archiv).
Es waren aber nicht nur die der ADS zuneigenden Asten, sondern auch dem SDS oder anderen linken Gruppierungen zuzurechnenden Studentenschaften die keine Beiträge mehr an den VDS überwiesen. So hieß es etwa in einem Einschreiben des „Präsidenten der Studentenschaft“ der Universität Saarbrücken vom 19.1.1970 an den „Notvorstand“:
„Sehr geehrte Herren!
Die Prognose der SDS-Genossen über die die Zukunft (des vds (WL)) hochhaltenden Funktionäre haben sich bewahrheitet: der neue Vorstand betreibt „Politik“ mit den Mitteln der Klassenjustiz und der Ministerialbürokratie.
Wenn Sie für den Verband keine andere Funktion sehen, als Geld einzutreiben zur eigenen bürokratischen Selbsterhaltung, wenn Sie sich sogar bei Gremien wie der HRK wieder fashionable zu machen suchen, um die Bundeszuschüsse zurückzugewinnen, dann hat sich
- die Liquidationspolitik der Genossen im alten Vorstand und der Mehrheit der Hamburger MV noch nachträglich als die einzig richtige erwiesen. Wir haben uns auf den verschiedenen ZR-Sitzungen (Zentralrat-Sitzungen (WL)) mit den Genossen solidarisiert.
- Ihre Forderung nach Mitgliedsbeiträgen vom AStA Saarbrücken als Seifenblase geldraffender Schreibtisch-Opportunisten erwiesen, die trotz revoluzzerhafter Phrasen Ihre Arrangements mit der herrschenden Klasse treffen und nicht einmal im eigenen Bewußtsein mehr sind als kleine konterrevolutionäre Scheißer.
Unser Geld ist für die Genossen da, die im Kampf gegen den Klassenfeind stehen und nicht für einen anachronistisch-bürokratischen Wasserkopf wie den vds.
ROT FRONT!
Gez. Gez.
Elke Mattenklott Christoph Klein“
Wie sehr der Vorstand sparen musste, mag man schon daran ablesen, dass die Vorstandsmitglieder Eckart-Michael Muschol und Manfred Protze in der Geschäftsstelle auf Luftmatratzen übernachteten. Jürgen Kegler hatte noch seine Studentenbude in Bonn und ich meine in Köln.
Dass ich mich bei einem Scheitern womöglich einer Insolvenzverschleppung haft- oder gar strafbar hätte machen können, daran hatte ich – fahrlässiger Weise – vor Amtsantritt nicht gedacht.
Was war der Antrieb den Verband Deutscher Studentenschaften zu retten?
Was hat mich angetrieben in dieses „Himmelfahrtskommando“ einzusteigen? Was hat mich veranlasst, mir diesen Tort anzutun, mich als persönlich Haftender in den Vorstand eines nahezu insolventen studentischen Dachverbandes wählen und gerichtlich einsetzen zu lassen? Warum habe ich mich als „konterrevolutionärer Scheißer“, „Schreibtisch-Opportunist“, als „Büttel der Klassenjustiz“, als „Funktionärspack“ und was sonst noch Schönes beschimpfen lassen? (Merkwürdigerweise, ohne dass mich solche Vorwürfe damals besonders betroffen gemacht hätten.)
Vielleicht wollte ich nach meinem Examen etwas Abstand von der Jura-Paukerei gewinnen, vielleicht wollte ich nur vermeiden, darüber nachzudenken, ob ich nun ins Referendariat gehen sollte, vielleicht war es einfach nur Abenteuerlust. Naheliegend war, dass ich – wie zuvor zwischen 1966 bis 1968 – noch einmal studentische Politik machen wollte. Mutmaßlich war es aber auch die politische Überzeugung, dass die Studierenden eine überregionale Interessenvertretung brauchten.
Dass Studierende als eine gesellschaftliche Gruppe aus ihren Lebens- und Arbeitsumständen resultierende spezifische politische, sozialpolitische oder kulturelle Interessen haben, war für mich ein unbestreitbares Faktum. Wenn es also solche studentische Interessen gibt – so meine damalige Sicht der Dinge -, dann können diese wirksam nur vertreten werden, wenn es dafür auch eine organisierte Vertretung gibt.
Notvorstandsmitglied Jürgen Kegler, der dem VDS-Vorstand von 1968 bis Ende Mai 1969 schon einmal angehörte, schrieb in einem Brief an seinen ehemaligen Vorstandskollegen Volker Gerhardt: „Diejenigen, die sich in Hamburg für ein Weiterbestehen des vds eingesetzt haben, sind von der Voraussetzung ausgegangen, daß ein Aufgeben bestehender organisatorischer Möglichkeiten ohne die Schaffung von Alternativen politischem Selbstmord gleichkommt“. (Privates Archiv).
Ohne eigene Interessenvertretung würden die Studierenden sich anderen Interessen an der Hochschule von vorneherein kampflos preisgeben, das war auch meine Auffassung.
Wie kam es zu meinem Engagement für den VDS?
Im September 1969 habe ich im 9. Semester die Erste Juristische Staatsprüfung – zu meiner eigenen Überraschung, mit Prädikat – bestanden. Nach meiner früheren „Karriere“ als „Studentenfunktionär“ – zunächst als stellvertretender Vorsitzender der SHB-Gruppe an der Freien Universität Berlin, dann als Geschäftsführer des Bundesverbandes des Sozialdemokratischen Hochschulbundes und danach als stellvertretender Bundesvorsitzender in Bonn, und schließlich als Mitglied des Studentenparlaments an der Uni Köln und als studentischer Vertreter in der Juristischen Fakultätsversammlung – war die Juristerei das Studium, das damals noch die geringsten Vorleistungen abverlangte. 7 Scheine – egal in welchem Semester erlangt – jeweils einen „Kleinen Schein“ und einen „Großen Schein“ als Leistungsnachweis in den Hauptrechtsgebieten Bürgerliches Recht, Strafrecht und Öffentliches Recht und dazu noch ein Wahlschein, dann konnte man sich fürs Staatsexamen melden.
Nach der Prüfung wusste ich nicht, was ich mit Jura anfangen sollte. Ich hatte jedenfalls keine Lust auf ein Referendariat. Das vor allem deshalb, weil mich der Albtraum plagte, ich müsste dann in meiner früheren schwäbischen Heimat, in Waiblingen, von wo ich bewusst „geflüchtet“ war, in ein Rechtsanwaltsbüro einsteigen, das meine Eltern schon für mich ausgesucht hatten. Diese Rückkehr „in die Provinz“ – wie ich das damals gesehen hatte – wollte ich als Berufs- und Lebensperspektive ausschließen. Also strebte ich – mangels Alternative – eine Promotion an….
Ich war durch meine „Staatsarbeit“ für die Erste Juristische Staatsprüfung mit dem Rundfunkrecht in Berührung gekommen. Das Medienrecht hatte mein Interesse geweckt und ich hatte den ziemlich größenwahnsinnigen Plan für die gesamte Medienlandschaft eine „demokratische Medienordnung“ zu entwerfen. Ich wandte mich mit diesem Promotionsvorhaben zunächst an den renommierten Staatsrechtler Porfessor Klaus Stern. Doch der bedeutete mir, dass ich vor einer Promotionszusage erst noch ein Seminar absolvieren und dann noch einige Zeit als Korrekturassistent dienen sollte. Das war mir zu viel Umweg und ich besann mich darauf, dass der Öffentlichrechtler Professor Martin Kriele – damals noch SPD-Mitglied und neben dem Strafrechtler Ulrich Klug zu dieser Zeit einer der wenigen linksliberalen Juristen an der Kölner Fakultät – einmal bei einer Vollversammlung in der Kölner Aula vor dem Rednerpult saß und auf einen Redebeitrag von mir Applaus spendete. Ich fragte also ihn, ob er meine Dissertation betreuen würde. Er willigte ein und irgendwie kam ich auch als „Hiwi“ (also als wissenschaftliche Hilfskraft) ins Gespräch. Ich sollte die Bibliothek des „Seminars für Staatsphilosophie und Rechtspolitik“ betreuen.
Meine Arbeit an einer Dissertation und die Tätigkeit als „Hiwi“ wurden jedoch jäh abgebrochen. Steffen Lehndorff, den ich früher einmal für den Sozialdemokratischen Hochschulbund geworben hatte, und andere SHBler traten im Herbst 1969 an mich heran und bedrängten mich geradezu, dass ich zu einer Mitgliederversammlung des VDS nach Hamburg mitreisen sollte. Ich willigte ein, ohne zu ahnen, was da auf mich zukommen sollte. Ich wusste auch nichts davon, dass die Vorstände des SHB und des LSD (in einer „Heusenstammer Erklärung“) (Steffen Lehndorff, Thesen zur Beurteilung des VDS-Bundesvorstandes und seiner Fraktionen, studentische politik 7 – 1969, Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, S. 22 ff.) schon im September 1969 – nach der Liquidationserklärung des SDS – verabredet hatten, den VDS zu retten. Mir war nicht bewusst, dass ich als einer der Exekutoren der politischen Programmatiken des linken (eher marxistischen) SHB-Flügels, des LSD und der sich Anfang 1969 vom SDS trennenden Gruppe, der „Assoziation Marxistischer Studenten – Spartakus“ (AMS), zur Rettung des VDS ausgeguckt war.
Während der Examensvorbereitung war ich nicht mehr am Puls der Entwicklungen innerhalb der Studentenbewegung. Die „Rote-Punkt“-Aktionen in Hannover und Heidelberg gegen Fahrpreiserhöhungen der öffentlichen Verkehrsmittel und die Bereitschaft der Autofahrer – gekennzeichnet durch einen roten Punkt in der Windschutzscheibe – (studentische) Passanten mitzunehmen, habe ich nur aus der Ferne beobachtet. Die „Septemberstreiks“ von hundertsechzigtausend Stahl- und Bergarbeitern, hatte ich ebenfalls nur aus der Presse mitbekommen. Dass diese Arbeitskämpfe Anstoß für die Gründung zahlreicher neo-kommunistischer Gruppen waren, hatte ich auf Flugblättern beim mittäglichen Mensabesuch gelesen. Die heftigen Streitigkeiten und Feindseligkeiten auf der VDS-Mitgliederversammlung im März 1969 in Köln hatte ich durch sporadische (meist abendliche) Besuche in der alten Mensa am Rande noch verfolgt. Über die Positionen der sich bekämpfenden Gruppen und über deren politische Ausrichtungen war ich aber nur noch oberflächlich informiert. Im Einzelnen beschäftigte ich mich mit den Hintergründen dieser Auseinandersetzungen eigentlich erst so richtig, als ich im „Notvorstand“ des VDS gelandet war. Als ich in Bonn die Arbeit aufnahm, ist mir allmählich auch nachvollziehbarer geworden, wie es zu diesem Versuch der „Liquidierung“ des Verbandes Deutscher Studentenschaften durch den SDS gekommen war.
Wie konnte es zu diesem Versuch der Selbstzerstörung des studentischen Dachverbandes kommen?
Warum sollte gegen Ende des Jahres 1969 ein zwanzig Jahre zuvor gegründeter studentischer Dachverband einfach „liquidiert“ werden? Ein Verband mit zu diesem Zeitpunkt über 100 Mitgliedshochschulen, bis dahin mit einem Jahresetat von beachtlichen eineinhalb Millionen D-Mark (davon 800.000 DM Bundeszuschüsse und etwa 700.000 DM Mitgliedsbeiträge der örtlichen Studentenschaften); eine Organisation mit einstmals 25 Angestellten, einem angemieteten dreigeschossigen Bürotrakt mitten in Bonn; ein Interessensverband, der in allen einschlägigen Bildungsgremien vertreten war, dessen Mitgliederversammlungen dereinst noch Bundeskanzler Ludwig Erhard persönlich besuchte und für dessen Broschüren Bundespräsident Heinrich Lübke Grußworte geschrieben hat. Auf den Mitgliederversammlungen waren Journalisten aller renommierten Medien und Repräsentanten von Parteien und Ministerien vertreten.
Um das einigermaßen nachvollziehbar zu machen, muss man ein Streiflicht auf die Geschichte des VDS und parallel dazu einen Blick auf die Entwicklung der Studentenbewegung werfen.
Der 1949 als Dachverband der (damals nur Universitäts-)Studentenschaften in den Westzonen und in West-Berlin gegründete „Verband Deutscher Studentenschaften“ (VDS) war bis in die Mitte der sechziger Jahre, ähnlich wie die Repräsentanz der Rektoren in der Westdeutsche Hochschulrektorenkonferenz, ein an die Tradition der Weimarer Zeit anknüpfender studentischer Interessenverband. Er nahm satzungsgemäß studentische Interessen in der Hochschul- und Bildungspolitik wahr, organisierte „wirtschaftliche Selbsthilfe“ für Studierende, pflegte „gesamtdeutsche“ und internationale Beziehungen, er vertrat die „sozialen und kulturellen Interessen“ von Studierenden, unterstützte den „Studentensport“ und förderte das „staatspolitische Bewusstsein“ der – wie der Bielefelder Soziologe Helmut Schelsky sie damals nannte – „skeptischen Generation“ der Nachkriegszeit. Helmut Schelsky, Die skeptische Generation, Düsseldorf/Köln 1957
Der Studentenverband hatte zweifellos Verdienste um die Verbesserung der sozialen Lage der Studierenden, also beim Krankenversicherungsschutz, beim studentischen Wohnen, bei der Einführung und Ausgestaltung des Honnefer-Stipendienmodells (dem Vorläufer des BAföG) oder beim Aufbau des Studentenwerks – dem studentischen Sozialwerk.
Der VDS betrieb Lobbypolitik und nahm – durchaus nicht ohne Erfolg – Einfluss auf die Hochschul- und Bildungspolitik, auf Studien- und Prüfungsordnungen. Er pflegte Kontakte zu Parteien und Verbänden, von der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände – mit der sogar gemeinsame Seminare durchgeführt wurden – bis hin zum Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS).
Die zahlreichen Broschüren des VDS waren nicht nur gute Handreichungen für die ständig fluktuierenden Mitglieder der ASten, sondern auch Werbemittel für die Anliegen der Studierenden mit einer breiten öffentlichen Ausstrahlung. Lobby, Publicity, Service, so könnte man die Funktionen des VDS noch bis 1968 neudeutsch zusammenfassen.
Die Verbandstätigkeit auf allen Ebenen und Gremien war ein mit staatlichem Wohlwollen und Zuschüssen begleiteter Trainingsplatz für die Einübung parlamentarischer Spielregeln und war – wie die Ahnengalerie der meist männlichen Vorstände Tissy Bruns, später Journalistin u.a. beim Stern und beim Tagesspiegel, war die einzige Frau ausweist – für viele seiner Spitzenfunktionäre durchaus ein Sprungbrett für eine weitere Karriere in Politik, Wirtschaft oder in Verbänden.
Wie überall damals im studentischen Bereich ging kaum etwas ohne die Verbindungsstudenten, vor allem vom katholischen Cartellverband (CV). Die Mehrheit der Studierenden war eben bis Mitte sechziger Jahre eher deutsch-national, konservativ oder unpolitisch, staatstragend – allenfalls moderat kritisch oder liberal, wie etwa die studentischen Proteste anlässlich der SPIEGEL-Affäre 1962 zeigten.
Ich erinnere mich noch gut an ein Treffen mit dem Vorstand des VDS, an dem ich 1966 als Bundesvorstandsmitglied des Sozialdemokratischen Hochschulbundes (SHB) teilnahm: Da saßen uns im feinen Zwirn und dem obligatorischen Bier-, Wein- oder Mensurzipfel der einschlägigen Studentenverbindungen an der Weste baumelnd, Eberhard Diepgen (CDU, später Regierender Bürgermeister von Berlin) und Uwe Janssen (SPD, später Fraktionsgeschäftsführer im bayerischen Landtag) gegenüber. Und irgendwie hatte ich – obwohl selbst Studentenfunktionär – schon damals das bedrückende Gefühl, mit diesen Kommilitonen nicht mehr sehr viel gemeinsam zu haben – weder kulturell, geschweige denn politisch. Bei dieser Begegnung war mir schon damals klar geworden, wie weit die Verbandsspitze des VDS entfernt war, von dem was sich politisch etwa an meiner damaligen Uni, der FU Berlin, tat.
Die Struktur, das Personal und die Politik des VDS blieb ab Mitte der sechziger Jahre immer weiter hinter der Entwicklung der Politisierung der Studierenden jedenfalls an den größeren Unis zurück.
Noch 1968, als die Studentenbewegung schon ihren Höhepunkt erreicht hatte, war der VDS eine mehr oder weniger angepasste studentische Interessensvertretung. Der Verband gab zwar durchaus auch politische Erklärungen ab, etwa gegen Kolonialismus, Rassismus und auch gegen die Notstandsgesetze oder gegen den den Vietnamkrieg, aber das war – jedenfalls für damalige Verhältnisse – noch alles ziemlich „staatstragend“. Das mag man allein daran ablesen, dass sich der VDS-Vorsitzende Christoph Ehmann nach den Springerblockaden 1968, ausgelöst durch das Attentat auf Rudi Dutschke, noch zum Gespräch mit Bundeskanzler Kiesinger traf.
Wie kam es zur dieser Politisierung eines Teils der Studierenden?
Um die Politisierung eines beachtlichen Teils der Studentenschaft nachvollziehen zu können, bedarf es eines Blicks auf die allgemeinpolitische Situation der Bundesrepublik Deutschland in den sechziger Jahren aus Sicht der politisch engagierten Studierenden. Siehe dazu ausführlich Wolfgang Lieb, 50 Jahre danach – Erfahrungen in und mit der 68er-Bewegung, Blog der Republik vor allem in Teil 1 und Teil 2 .
Die Adenauer-Ära war zu Ende. Die politische und militärische Westbindung und damit die staatliche Abgrenzung zu Ostdeutschland und zum „Ostblock“ waren abgeschlossen, ein rigider Antikommunismus und eine miefige Restauration hatten sich in der Bundesrepublik breit gemacht. Personen mit prominenter NS-Vergangenheit fanden sich in höchsten Staatsämtern wieder. Das Wirtschafts-„Wunder“ wurde allmählich entzaubert – zum ersten Mal gab es in der Bundesrepublik einen Rückgang des Wirtschaftswachstums. Die neonazistische NPD zog in sechs Länderparlamente ein.
In Europa herrschte eine Militär-Junta in Griechenland und auch in Spanien, Portugal und Persien waren Diktatoren mit Unterstützung der Armee an der Macht. Der erste künstliche Erdsatellit – der russischen Sputnik Ende der fünfziger Jahre – löste in der westlichen Welt einen Schock aus. Eine technologische Lücke wurde ausgemacht und der von einem unverdächtigen Konservativen wie dem Philosophen und Theologen Georg Picht 1964 ausgerufene „Bildungsnotstand“ in der BRD wurde zum bildungspolitischen Allgemeinplatz.
Um die wirtschaftliche Zukunft zu sichern, sollte die Wissenschaft aus dem „Reich der Einsamkeit und Freiheit“ (so noch der Soziologe Helmut Schelsky und Leiter des Gründungsausschusses der Uni Bielefeld) in die Gesellschaft oder genauer in die Wirtschaft eingemeindet werden. Aus einer vermeintlich unpolitischen Wissenschaft wurde mit ihrer zunehmenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedeutung die “Produktivkraft Wissenschaft“ – wie das die linken Studenten nannten.
Bundeskanzler Erhard propagierte 1965 eine die Interessengegensätze überformende, technokratische Variante einer „Formierten Gesellschaft“ (Reinhard Opitz, in Blätter für deutsche und internationale Politik), die auch die Hochschulen mit dem Ziel einer effizienzorientierten Neuordnung in den Blick nahm. Die parteiübergreifende „Formierung“ fand für eine Minderheit politisch engagierter Studenten (und es waren zunächst ganz überwiegend männliche Studenten) ihren Ausdruck in der Bildung der Großen Koalition im Jahre 1966 und vor allem in deren innenpolitischem Projekt einer „Notstandsverfassung“.
Die hochschulpolitische Parallele zu diesem Prozess der „Formierung“ sahen politisch aktive Studierende etwa
- im Vorhaben eines Bildungsgesamtplans,
- in der Einführung eines Wissenschaftsrates,
- in der („technokratischen“) Neuordnung der Hochschulen durch Landeshochschulgesetze und
- im Beginn der Debatte um ein Hochschulrahmengesetz (in der sozial-liberalen Koalition zusammengefasst in den 10 Thesen des parteilosen Wissenschaftsminister Hans Leussink) oder
- in der Begründung von Zuständigkeiten des Bundes bei der Hochschulbaufinanzierung bis hin zu Gründung einer Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung, der BLK,
- in Studienzeitbeschränkungen und Zwangsexmatrikulationen und in der
- Einführung eines „numerus clausus“, mit dem die Überfüllung der Hochschulen beherrscht und die Studienreform voran getrieben und
- im Ordnungs- und Disziplinarrecht, mit dem die um sich greifenden studentischen Rebellionen bekämpft werden sollte,
- in der Auflösung der Studentenschaften als Gliedkörperschaften der Universitäten (so damals in Berlin und geplant in Bayern und Baden-Württemberg (WL)) oder
- in Eingriffsrechten der Kultusbehörden in den Lehr- und Forschungsbetrieb.
Die studentische Kritik galt einer „technokratischen Hochschulreform“, dem einseitigen Abstellen auf Effizienzkriterien im betriebswirtschaftlichen Sinne, dem staatlichen Bemühen um eine „Verschulung“ des Studiums, der Verschärfung der Leistungsanforderungen oder den dirigistischen Tendenzen des Staats im Bereich der Forschung. So vds-Vorstandsmitglied Jürgen Kegler in seinem Bericht über die 21. o. Mitgliederversammlung des VDS, privates Archiv
Ganz wichtige Anstöße für die Politisierung, vor allem für die Protestformen der Studenten kamen aber auch von außen, vor allem durch die Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg und der „free-speech“- Bewegung in den USA.
In einer Gegenreaktion auf die zusammengeschrumpfte innerparlamentarische Opposition (49 Abgeordnete der oppositionellen FDP standen 450 Abgeordnete von Union und SPD gegenüber) mit Bildung der Großen Koalition 1966 entwickelte sich eine „außerparlamentarische Opposition“ (APO), eine breite Sammelbewegung, die von innerparteilichen Oppositionsgruppen, über Überbleibsel der alten Arbeiterbewegung und der KPD, über Linksintellektuelle, Pazifisten bis hin zur „Studentenbewegung“ – oder wie sie später genannt wurde – zur „studentischen Protestbewegung“ mit all ihren unterschiedlichen politischen Ausrichtungen reichte und die sich gegen das „Establishment“ – heute würde man vielleicht von „Mainstream“ sprechen – stellte.
Die studentische Politisierung war zunächst vor allem durch zwei Motive gespeist,
- vom Drang nach mehr Demokratie – wie das z.B. in der damaligen studentischen „Fibel“ zur Studienreform, der „sds-Denkschrift“ von Wolfgang Nitsch, Uta Gerhardt, Claus Offe, Ulrich Preuß „Hochschule in der Demokratie“ schon 1960 begründet wurde und
- von einer aufklärerischen Rückbesinnung auf eine Wissenschaft im Dienste der Emanzipation (der Selbstbefreiung) und eben nicht im Dienste herrschender ökonomischer Interessen – wie das etwa von Stephan Leibfried in seinem unter linken Studenten damaligen Bestseller „Wider die Untertanenfabrik“ Köln 1967 kritisiert wurde.
Wie die APO insgesamt war auch die „studentische Protestbewegung“ als aktiver und größer werdender Teil der außerparlamentarischen Gegenmacht, keine politisch homogene Bewegung. Es gab dort ganz unterschiedlich ausgerichtete Gruppierungen.
So etwa den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), den Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) bzw. die Jungsozialisten (Jusos) oder später auch den Marxistische Studentenbund Spartakus (MSB Spartakus), den Liberalen Studentenbund Deutschlands (LSD) bzw. die Jungliberalen (Julis), die kirchlichen Studentengemeinden, und weit über dieses politische Spektrum hinaus z.B. die sich der bürgerlichen Gesellschaft verweigernden Hippies oder Kommunarden. Selbst der SDS splitterte sich in mehreren Zentren auf, so etwa in die von Wolfgang Abendroth oder Werner Hofmann geprägten marxistischen Flügel in Marburg und Köln gegen die eher von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Jürgen Habermas und später vor allem auch von Herbert Marcuse beeinflusste Richtung in Frankfurt, teilweise in Berlin oder in Heidelberg.
Alle diese Gruppierungen lieferten sich untereinander teilweise geradezu erbitterten politischen Streit auf Flugblättern und in Redeschlachten auf Versammlungen. Gemeinsam standen sie meist nur in Opposition zu den „Herrschenden“ und in der protestierenden Aktion, also in einer Anti-Haltung, so z.B.
- Anti-Ordinarienuniversität, („Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“),
- Anti-technokratisch eingestufte Hochschulreform,
- Anti-Ordnungs- und Disziplinarrecht,
– Anti-Pressekonzentration und Anti-Springer-Zeitungen und natürlich
- Anti-Notstandsgesetze und
- Anti-Große Koalition,
- Anti Vietnamkrieg
In jedem Falle „anti-autoritär“ – und als autoritär galt so ziemlich alles, was aus dem Establishment geboten wurde. In vielerlei Hinsicht wurde Autorität mit Nazitum und Faschismus assoziiert (Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt, 2011, S. 479).
Diese außerparlamentarische Opposition äußerte sich in vielfältigsten und bis dato unbekannten Formen und im Gefolge des Aufschaukelns von Protest und Repression zunehmend massenhaft. Es entwickelte sich eine zunehmende Provokanz und Militanz der studentischen Demonstrationen und Aktionen bei gleichzeitig zunehmenden Konfrontationen mit der repressiv vorgehenden Polizei. An den Unis wurden aus Protest Institute wurden besetzt, Gremiensitzungen „gesprengt“, Barrikaden errichtet. Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke kam es 1968 zu den Osterunruhen in ganz Deutschland und zu den bis dahin heftigsten Protestaktionen. Weil die Springer-Presse für die Aufhetzung des Attentäters Bachmann verantwortlich gemacht wurde, kam es in Berlin zu massiven Attacken auf das Gebäude des Axel-Springer-Verlags in der Koch-Straße, dabei wurden auch Auslieferungsfahrzeuge für die Zeitungen angezündet. (Dabei lieferte ein V-Mann des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz, Peter Urbach, die Molotowcocktails.) Jochen Staadt, Teilnehmende Beobachter (in der FAZ v. 8. Juli 2019, S.6), in einer Darstellung der linken Bewegung aus der Sicht der Geheimdienste in Ost und West, die belegt, wie neben der Wirklichkeit die Berichte der V-Leute oft lagen, so z.B. dass Rudi Dutschke „aus München“ bzw. „aus der VR Polen“ käme.
Die Demonstrationen quer durch die Republik vermittelten den Oppositionellen den Eindruck, sie seien in der politischen Offensive. Was den Aktivisten Mut und Elan gab und einen die Bewegung selbstverstärkenden Effekt
Während die Studentenschaft in Ihrer Mehrheit konservativ, allenfalls liberal an der Erhaltung des eigenen akademischen Status festhielt, wurde von einer politisierten Minderheit ein Studium nicht mehr als „Bildung für Höhergestellte und Bürgersöhnchen“, sondern als „gesellschaftlich notwenige Arbeit“ eingestuft. Der mit der Bildungsexpansion ab Mitte der 60er Jahre Wandel zur „Massenuni“ und eine zunehmende Zahl an Studenten aus unteren Schichten, die ihr Studium selbst finanzieren mussten, galten als Anzeichen einer „Proletarisierung“ der Studierenden. Noch 1970 waren allerdings nur gut 6 % der Studenten Arbeiterkinder
Durch ein neues Verständnis von Wissenschaft, nämlich nicht mehr als Forschung im „Elfenbeinturm“ in „Einsamkeit und Freiheit“, sondern als eine „gesellschaftliche Produktivkraft“, rückten in der Studentenbewegung immer stärker Fragen nach den Voraussetzungen und Folgen des wissenschaftlichen Arbeitens ins Zentrum der Diskussion. „Wissenschaft wurde erkannt als emanzipatorische Kraft, die im Dienste der Befreiung von Menschen aus der Herrschaft von Natur und Gesellschaft steht. Ihre Macht entfaltet sie nicht mehr nur als kritische Reflexion der bestehenden Verhältnisse, sondern sie ist zur Produktivkraft geworden, die unmittelbar materielle Werte schafft.“ (Volker Gerhardt, Jens Jordan und Albrecht Moser „Zur Organisation studentischer Interessenvertretung – Vorschläge zur Neustrukturierung der Studentenschaften und ihrer überregionalen Vertretung“ vom 31. Januar 1969, S.19)
Studentische Politik bekam neben der traditionellen Hochschul- und Bildungspolitik ein zweites – aus- und übergreifendes – Aktionsfeld. Es kam zu einer Dualität einerseits zwischen der Hochschulpolitik als politische Interessenvertretung und zum anderen als Hinterfragung des wissenschaftlichen Tuns. Von der nach links driftenden Studentenschaft wurde ein emanzipatorisches Wissenschaftsverständnis propagiert, das nicht mehr nur der vom deutschen Idealismus geprägten aufklärerischen Befreiung aus „selbstverschuldeter Unmündigkeit“, sondern der Befreiung von (ökonomischer) Ausbeutung und (kapitalistischer) Unterdrückung verpflichtet sein sollte. Es kam zur Gründung von „Kritischen Universitäten“ in Berlin, Hamburg und München.
Hochschulpolitik wurde damit umfassender verstanden als Triebkraft zur Veränderung, zur Reformierung, ja mehr und mehr zur „Revolutionierung“ der Gesellschaft.
Rückwirkungen der Politisierung der Studentenschaft auf den VDS
Die Struktur und das Leitungspersonal des VDS blieben hinter der Entwicklung dieser Politisierung eines beachtlichen Teils der Studentenschaft und damit der ASten jedenfalls an den größeren Unis zurück.
Das erste Aktionsfeld, also die Demokratisierung der Hochschule, konnte noch durch die klassische Interessenspolitik eines Dachverbandes abgedeckt werden. Auf der 20. Ordentlichen Mitgliederversammlung 1968 in München hat sich der Verband beim Thema Mitsprache und Mitbestimmung sowohl politisch als auch personell in etwa auf die Linie des Mainstreams der damaligen politischen Entwicklungen vor Ort gebracht. Vorsitzender wurde Christoph Ehmann (Asta-Vorsitzender in Marburg, von der Humanistischen Studentenunion (HSU)), Volker Gerhardt (Münster, nicht gruppengebunden) wurde Referent für Studienfragen, Jürgen Kegler (AStA-Heidelberg, nicht gruppengebunden) übernahm das Sozialreferent und Björn Pätzold (AStA-Hamburg, SHB) wurde Referent für internationale Fragen. Der VDS bekannte sich zum „politischen Mandat“ und damit zur Gesellschaftskritik über die Hochschule hinaus.
Auf der zweiten Ebene, fälschlich oft als „Politisierung der Wissenschaft“ angeprangert, recht eigentlich aber zu verstehen als die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft, hier fehlten dem Dachverband die angemessenen Organisationsstrukturen.
Schon anfangs 1969 (am 15. Januar) traten die drei bisherigen stellvertretenden VDS-Vorstandsmitglieder Volker Gerhardt, Jürgen Kegler und Björn Pätzoldt geschlossen zurück. (Das vierte Vorstandsmitglied Christoph Ehmann, war schon davor zurückgetreten, weil dieser bei seiner Kandidatur verschwiegen hatte, dass er in Unehren aus der Bundeswehr entlassen und in einem Strafverfahren zu einem Monat Gefängnis verurteilt worden war.)
In der Rücktrittserklärung der Vorstands-Stellvertreter heißt u.a.:
„Studentenpolitik ist mittlerweile zu selbstmörderischem Handeln geworden: Entweder man riskiert in der Universität das Stipendium, den Studienplatz oder die Freiheit oder man korrumpiert sich im Kontakt mit den offiziellen Institutionen, den Verbänden und Partien, die sich gesprächsbereit geben, hinterrücks jedoch mit Polizeigewalt zuschlagen. Die bisherige Studentenpolitik ist tot.
Die stellvertretenden vds-Vorsitzenden erkennen, daß eine progressive Politik mit dem Anspruch auf Demokratisierung der Gesellschaft langfristig scheitern muß, wenn nicht neue Formen der direkten Konfrontation mit den etablierten Kräften gefunden werden.
Eine solche Politik zu praktizieren, ermöglicht uns nicht die derzeitige Struktur des Verbandes, die ausgerichtet ist nach einem Repräsentativsystem, das die aktiven Basisgruppen zu repräsentieren nicht ermöglicht.
Ständige Kontrolle und Willensbildung durch die Basis muß an die Stelle reinen Funktionärstums treten, das die bisherige vds-Politik trotz ihres neuen Selbstverständnisses ausmacht.
Der vds muß seine politische Legitimation und die Bestimmung seines politischen Selbstverständnisses durch die Studenten erhalten, die den Kampf an der Basis führen….“ (Rücktrittserklärung im Anhang an den Vorstandsbericht für die 21. o.MV S. 71ff., privates Archiv).
Der Rücktritt erfolgte, wie die Zurückgetretenen selbst schrieben, aus „Einsicht in die zunehmende Ohnmacht der demokratischen Studentenbewegung gegenüber den Machthabern und in die Notwendigkeit einer an den Bedürfnissen und Erkenntnissen der arbeitenden Studenten orientierten und folglich entsprechend
umstrukturierten Verbandsorganisation“. Mit ihrem Rücktritt beabsichtigten die Vorstandsmitglieder, „die Diskussion über eine Strukturveränderung des vds innerhalb der Studentenschaften und der Öffentlichkeit zu initiieren und dadurch die Bedingungen für eine Intensivierung der studentischen Oppositionsbewegung zu schaffen.“ (Anträge und Beschlüsse, 21. O.MV Köln März 1969, Vorwort; Verlag Studentenschaft Bonn 1969).
Der schon zuvor zurückgetretene VDS-Vorsitzende Christoph Ehmann gab eine eigene Rücktrittserklärung ab. Darin erklärt er, dass er zwar die Analyse der politischen Situation seiner Stellvertreter teile und dass er ebenfalls der Ansicht ist, dass reine Lobby-Politik für Studentenvertreter in dieser politischen Situation nur Verschleierungsfunktion haben könne. „Die Behauptung jedoch, der vds-Vorstand habe in diesem Jahr sich in den Apparat der Herrschenden integrieren lassen oder sich nicht dagegen gewehrt, ist weitgehend falsch. Entweder ist die Aufforderung zur „Direkten Aktion“ Verbalradikalismus, oder aber im Falle der Realisierung macht sie auch punktuelle Kontakte zur Erreichung bestimmter Ziele (Ausbildungsförderungsgesetz etc.) unmöglich“. (Rücktrittserklärung im Anhang an den Vorstandsbericht für die 21. o.MV S. 72ff., privates Archiv).
Politisches Chaos auf der Kölner Mitgliederversammlung des VDS
Das Vorstandsmitglied Volker Gerhardt (später Professor für praktische Philosophie an der Humboldt Universität Berlin) hat zusammen mit Jens Jordan und Albrecht Moser Vorstellungen „Zur Organisation studentischer Interessenvertretung – Vorschläge zur Neustrukturierung der Studentenschaften und ihrer überregionalen Vertretung“ vorgelegt. Mit diesem „Strukturpapier“ wurde versucht, eine Brücke zwischen den kleinen und den großen ASten, genauer zwischen den sich als „revolutionäre Avantgarde“ begreifenden SDS-lern aus Frankfurt, teilweise Berlin und Heidelberg, den eher reformorientierten (aber sich gleichfalls als „sozialistisch“ verstehenden) Asten und zu Studentenschaften zu schlagen, die von sog. „Unabhängigen“ repräsentiert wurden. Man sprach von einer „Ungleichzeitigkeit der Politisierung“.
Das Vorstandsmitglied Jürgen Kegler (später Kirchenrat und Honorarprofessor an der Heidelberger Uni) entwickelte das Konzept eines „flexiblen und sich am konkreten Fall spontan bildenden Organisationsnetzes“. (Siehe Eckart Muschol, Perspektiven für einen studentischen Dachverband nach einer Liquidierung des VDS, in: studentische politik 7 – 1969 S. 3ff. (10)). Politische Aktivitäten von Basisgruppen am jeweiligen Ort sollten vom VDS unterstützt werden und das dort erarbeitete Material auf überregionaler Eben ausgewertet werden.
Nicht nur innerhalb des VDS, sondern – daraus entpsringend – auch innerhalb des SDS fand eine sog. „Organisationsdebatte“ statt, es ging dabei vor allem um eine Verlagerung der politischen Aktivitäten auf sich spontan bildende „ad hoc“ – bzw. „arbeitende Basisgruppen“. Der politische „Kampf“ habe einen Grad erreicht, in dem eine überkommene Verbandsorganisation des VDS zum Hemmnis für eine konsequente Unterstützung des Kampfes an den Hochschulen geworden sei.( Zitiert nach Norbert Trautwein, in studentische politik 3 – 1969, S. 75ff.).
Die Vorstellungen vor allem der Frankfurter SDS-Fraktion auf der Kölner VDS Mitgliederversammlung vom 3. – 11. März 1969 gingen in Richtung zur „Gründung einer revolutionären Massenorganisation“, die über die Hochschule hinaus, in die Produktionssphäre, also die Betriebe vordringen sollte. Auf der Mitgliederversammlung in Köln erklärten die Frankfurter, Berliner und Heidelberger Gruppen um den SDS- Bundesvorstand den VDS zum „politischen sozialistischen Kampfverband“. Diese Ausrufung wurde zwar offiziell wieder zurückgenommen, aber eine Mehrheit setzte als Ziele des Verbandes etwa die „Hochschulrevolte“, die „Revolutionierung der Gesellschaft“ oder die Erziehung zu „sozialistischer Berufspraxis“ durch. Der SDS-Bundesvorstand erklärte ganz offen, dass es ihm nur darauf ankomme, den Apparat (VDS) zu übernehmen, um dessen finanzielle und organisatorische Möglichkeiten für die Basisarbeit „auszupowern“ (wie es in einem Flugblatt hieß). (Bericht Jürgen Kegler über die 21. o.MV, privates Archiv).
Als Reaktion auf diese politische Wende verließen 26 der 97 Mitgliedshochschulen den VDS u.a. Köln, Bonn, Stuttgart, Mainz, Karlsruhe und Clausthal-Zellerfeld, einige andere zahlten keine Beiträge mehr. Sechs der ausgetretenen Asten gründeten noch während dieser Mitgliederversammlung am 10. März rheinaufwärts in Bonn einen „Initiativausschuß Deutscher Studenten“ (IDS), dessen Geschäftsführer der zurückgetretene vormalige VDS-Vorsitzende Christoph Ehmann wurde. Der angeblich vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) finanziell unterstützte IDS erklärte, mit der Billigung der neuen Struktur, habe der VDS die Grundlage demokratisch verfasster Studentenschaften verlassen, diese Abspaltung hielt sich deshalb für „politisch legitimiert, die Arbeit des VDS verantwortlich fortzusetzen“. Treibende Kraft war die sich vom „Ring Christlich Demokratischer Studenten“ (RCDS) als „demokratische Mitte“ loslösende „Deutsche Studenten Union“ (DSU), die sich finanziell unterstützt von der Katholischen Studentenverbindung „Rheinstein“ um die Kölner AStA-Chefs Klaus Laepple und später Thomas Köster schon das Jahr zuvor als lockeres Wahlbündnis zusammengetan hatte. Als Gegenverband zum VDS, der immerhin noch 210.000 Studierende vertrat, wurde am 5./6. Juli 1969 in Bonn die IDS in „Aktionsgemeinschaft Deutscher Studentenschaften“ (ADS) umbenannt. Dieser neue Verband beanspruchte für 60.000 Studierende zu sprechen.
Hart gerungen auch innerhalb der linken Gruppierungen wurde auf der MV in Köln um ein neues „Statut“, dessen wesentliche Elemente die Abschaffung der Fachverbände zugunsten von 10 Projektbereichen (Technik, Naturwissenschaften, Medizin, Produktionssphäre, Ausbildungsbereich I und II, Soziales, Ausländerfragen, Kommunikation) war. Unter Projektbereichen wurden „Arbeitende Gruppen, die an relevanten politischen Projekten theoretisch und praktisch arbeiten“ verstanden (Ziff. 4.2.4. des Statuts). Darüber hinaus sollte der alte „Delegiertenrat“ (aus Vertretern der Landesverbände) durch einen dreißigköpfigen „Zentralrat“ mit imperativem Mandat gegenüber dem Vorstand ersetzt werden. Diesem Zentralrat sollten 20 Vertreter der von der Mitgliederversammlung zu benennenden Studentenschaften und 10 Vertreter der Projektbereichssekretariate angehören (Ziff. 3.2.1 des Statuts). Mit dieser neuen Struktur sollte der VDS für die Arbeit, der Basis- und Projektgruppen geöffnet werden. Dieses neue Strukturmodell mit rätedemokratischen Elementen wurde zunächst mit 233 Ja- gegen 45 Nein-Stimmen und 12 Enthaltungen mit der erforderlichen Zweidrittel-Mehrheit angenommen. Nachdem jedoch ein daraufhin vom SDS-Bundesvorstand vorgeschicktes Vorstandskollektiv mit zwei Heidelbergern und einem Tübinger SDSler bei den Vorstandswahlen durchfiel, wurde dieses neue Statut nach einer turbulenten Nachtsitzung an einem Montagmorgen wieder mehrheitlich vom Tisch geräumt. Vor allem die sog. kleinen Hochschulen, bei denen die Politisierung gegenüber den großen Hochschulen nachhinkte und bei denen sich noch keine Basis- und Projektgruppen gebildet hatten, fürchteten in den neuen Entscheidungsgremien zu kurz zu kommen.
Zuvor war schon ein als Provokation eingebrachter Antrag des eher „rechten“ Kölner AStA mit einem Bekenntnis „zu der in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland enthaltenen Garantie einer freien, demokratischen und pluralistischen Gesellschaftsordnung“ nach einstündiger Geschäftsordnungsdebatte nicht befasst worden. Die nur taktisch vorgebrachte Begründung der Gegner dafür war, dass dieser Antrag eine Verengung der 1962 beschlossenen VDS-Charta darstelle. Daraufhin stellte der vormalige Kölner AStA-Vorsitzende Klaus Laepple den Antrag diese alte Charta zu bestätigen, was bei einer Gegenstimme und 9 Enthaltungen auch geschah – eine lammfromme Charta, die allem anderen als der Programmatik eines „sozialistischen Kampfverbandes“ entsprach.
Diese alte Charta sah die Verwirklichung
- der Freiheit von Forschung, Lehre und Studium“ und damit die Autonomie der Hochschule,
- der „freien Meinungsbildung“….
- der „freien Auseinandersetzung in Anerkennung des Andersdenkenden als Partner“,
- des „freien Hochschulzugangs“ und der „Garantie gleicher Ausbildungschancen“,
- der Sicherung der „Möglichkeit der Ausbildung ohne Unterschiede der Geburt, des Geschlechts, der Farbe, der Rasse, der Sprache,… des sozialen Status, des religiösen Bekenntnisses und der politischen Überzeugung“ und „der Möglichkeit der freien Wahl des Ausbildungsweges „entsprechend den Fähigkeiten“ (II. 1. Und 2.)
vor.
Diese Charta wendete sich auch gegen Faschismus, Totalitarismus, gegen die Unterdrückung der Völker, gegen Ausbeutung, gegen Rassendiskriminierung und gegen Militarismus. (Privates Archiv Jürgen Kegler).
Wie chaotisch es bei der Debatte um diese Abstimmung zugegangen ist, belegen danach gestellte ironisch gemeinte Anträge etwa von der Qualität, dass die „heilige Jungfrau durch das Ohr geschwängert, wie mittelalterliche Theologen lehren“ bzw. dass „der Samen… im Rückenmark produziert wird, wie Platon lehrt (Timaios)“…
Der Streit, der nicht nur durch den Austritt der ADS-ASten, sondern auch von der Rivalität zwischen dem SDS und dem SHB bzw. linken unabhängigen ASten genährt wurde, musste auf eine außerordentliche Mitgliederversammlung im Mai vertagt werden. Der bisherige geschäftsführende Vorstand mit Volker Gerhardt, Jürgen Kegler und Björn Pätzold (später in verschiedenen Funktionen an der FU Berlin und schließlich selbständiger Berater) blieb weiter im Amt. Er plädierte dafür, dass der VDS eine Sammelbewegung aller fortschrittlichen Kräfte an den Hochschulen sein sollte.
Die Versuche zur Zerschlagung des VDS von oben und unten
Was den unter der Parole „Zerschlagt die Apparate“ antretenden „Dezentralisten“ des SDS nicht gelang, wurde dann vom Staat in Angriff genommen, nämlich den VDS zu zerschlagen. Wenige Tage nach der Kölner MV, am 26. März 1969, hat die Bundesregierung auf Vorschlag von Innenminister Ernst Benda den Beschluss bekräftigt, dem VDS die jährlichen Zuschüsse von rund 800.000 Mark zu sperren und darüber hinaus die für das laufende Geschäftsjahr schon ausgezahlten Gelder zurückzufordern. Der Studentenreferent des Innenministeriums, Erwin Lunke, begründete diesen Beschluss am 16. April in einem Brief damit, dass der Verband „nicht mehr die Gewähr für eine im Sinne des Grundgesetzes förderliche Arbeit“ biete. (Spiegel Online v. 09.06,.1969)
In der Begründung wurde dem VDS u.a. vorgeworfen
- er beschränke sich nicht auf die in den Hochschulgesetzen bzw. Hochschulsatzungen festgelegten Aufgaben seiner Mitglieder,
- er bekenne sich nicht zur freiheitlich-demokratischen Ordnung des Grundgesetzes,
- er garantiere keine ordnungsgemäße Haushaltsführung.
Regierungssprecher Conrad Ahlers, war da noch deutlicher: „Der VDS liefere täglich Beweise für seine Untergrundtätigkeit“. (Privates Archiv Jürgen Kegler) Bezeichnend für die damalige Haltung der Regierenden gegenüber den Studentenverbänden war, dass nahezu zeitgleich mit dem Beschluss der Bundesregierung, dem VDS die Zuschüsse zu streichen, die SPD beschlossen hat, dem SHB die finanzielle Unterstützung zu entziehen.
Zwar reichte der immer noch amtierende Vorstand, vertreten durch Rechtsanwalt Josef Augstein, Klage gegen diese Entscheidung des Bundesinnenministeriums beim Kölner Verwaltungsgericht ein, um – wie es von Seiten des VDS hieß – die Bundesregierung zu zwingen die „Unterstellungen“ zu beweisen, doch das Abdrehen des staatlichen Geldhahns bot der sich als revolutionäre Avantgarde fühlenden Gruppe um den SDS-Bundesvorstand die nötige Munition ihren Kampf gegen das „System“ erst recht voran zu betreiben.
Zug um Zug mit der Sperrung der staatlichen Zuschüsse wurden auf der Ebene der Hochschulen die Mitgliedsbeiträge der ASten an den VDS gesperrt (einstmals in Höhe von 700.000 DM), so etwa in Frankfurt, Hamburg oder Heidelberg durch die Rektorate oder die Landesministerien oder aber es wurden die Studentenschaften (ASten) per Hochschulgesetz gleich ganz aufgelöst – wie zuerst in Berlin.
Auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung vom 28. bis 31. Mai 1969 in Göttingen „übernahmen“ – „Übernahme“, so hieß das ganz offiziell – die beiden „antiautoritären“ Frankfurter SDSler Frank Wolff und Michael Wolf, der Heidelberger Julian von Eckardt und der – eher dem traditionalistischen Flügel zugerechnete – Bonner Hannes Heer den Dachverband. Nina Grunenberg schrieb dazu in der „Zeit“: „Nach der Mitgliederversammlung in Köln repräsentierte er (der vds (WL)) die Konservativen nicht mehr, nach Göttingen kann gesagt werden, daß der VDS nun auch die Pluralität der Linken nicht mehr vertritt.“ (Zeit Nr. 23, v. 6. Juni 1969, S. 16)
In Göttingen wurde u.a. beschlossen, die schon auf der Kölner MV diskutierte rätedemokratische Strukturreform umzusetzen, die Verbands-Zeitschrift „Input“ und die Mitarbeit am Bundesstudentenring (https://de.wikipedia.org/wiki/Bundesstudentenring) einzustellen sowie die Klage gegen die Bundesregierung auf Weiterzahlung der Zuschüsse zurückzunehmen.
Radikalisierung als Ausdruck des Scheiterns
Es ist erklärungsbedürftig, warum gerade der antibürokratische, gegen die bürgerlichen Apparate kämpfende Flügel der Studentenbewegung einen Dachverband wie den vds übernehmen konnte.
Dass eine solche Vorstandswahl zustande kam, hatte zwei scheinbar gegenläufige, sich aber tatsächlich gegenseitig verstärkenden Ursachen: Nämlich ein 1968/69 verbreitet aufkommendes Gefühl des Scheiterns der Studentenbewegung auf der einen und einem aus diesem Empfinden der Ohnmacht resultierenden, eher verzweifelten Radikalisierungsschub der aktivsten Gruppen.
Mit den ursprünglichen studentischen Forderungen nach Mitbestimmung, nach einer Demokratisierung der Hochschulen, nach Brechung der Ordinarienherrschaft, nach einem politischen Mandat der Studentenschaften oder nach einer emanzipatorischen Wissenschaftspraxis war man bis auf einige kleinere Zugeständnisse weitgehend gescheitert.
Im Gegenteil: Die als technokratisch beklagte Hochschulplanung nahm eher an Beschleunigung zu. An den Hochschulen formierten sich professorale Gegenoffensiven, die 1970 in die Gründung des „Bundes Freiheit der Wissenschaft“ mündeten. Selbst frühere Mentoren der Studentenbewegung, wie Adorno oder Habermas wandten sich, nachdem auch sie mit verhöhnenden, sexistischen (barbusigen), teilweise sogar mit gewalttätigen Provokationen attackiert worden sind, mehr und mehr von Inhalten und Formen des Protestes ab.
Auf dem allgemeinpolitischen Feld, konnte man die Notstandsgesetzgebung nicht verhindern, der Völkermord in Vietnam nahm an Grausamkeit zu. Der Staatsapparat duldete die begrenzten Regelverletzungen nicht mehr und schlug noch härter zurück. Zu einem „Pariser Mai 68“ wollte man es in Deutschland nicht kommen lassen. Es kam zu zahlreichen politischen Prozessen gegen studentische Aktionen, zur Einführung und Androhung von Ordnungs- und Disziplinarrecht, zu Hausverboten (etwa für den Doktoranden Hans-Jürgen Krahl), zu Zwangsexmatrikulationen, zu Überwachungen durch den Verfassungsschutz und auch zu Haftstrafen. Die Medienkampagne gegen die Protestbewegung nahm immer bösartigere Züge an, kulminierend mit dem Anschlag auf Rudi Dutschke 1968 und den dadurch ausgelösten gewaltsamen Osteraktionen gegen den Springer Verlag in Berlin.
Kurzum: Studentische Provokationen und Gegenreaktionen schaukelten sich gegenseitig hoch. Es kam immer häufiger zu aktiven, oft auch gewaltsamen Widerstandsaktionen. Die „spontane Aktion“ als „alles vermittelnder Lernprozess“, mit der auf einen Schlag die eigene Klassenlage überwunden werden können und wodurch das bürgerliche sich zum revolutionären Individuum läutern sollte, war zu einer Art Erweckungs-Strategie geworden. Diesem Aktionismus konnten die weniger spontaneistischen, eher strategisch planenden linken politischen Gruppierungen zunächst nur hinterher hetzen, sei es um zu retten, was zu retten war, sei es weil man sich einfach nicht links überholen lassen wollte – schließlich galt es immer noch als chic möglichst weit „links“ zu stehen. Die Aktionisten der sog. Basis oder – wie sie auch genannt wurden – die „Spontis“ haben so an vielen Hochschulen und später eben auch im VDS das Gesetz des Handelns übernommen.
Wenn bis 1968 Personal und Struktur des VDS der Politisierung unter den Studenten hinterherhinkten, so schossen die politischen Vorstellungen jedenfalls der Frankfurter Mitglieder des VDS-Vorstandskollektivs ein Jahr später weit über den Grad der Radikalisierung der allermeisten Studentenschaften vor Ort weit hinaus.
Die antiautoritäre „Notschlachtung“ des VDS
Dass eine Strategie der „spontanen Aktion“ und der „Selbstorganisation“ der Basis nicht zu einer Dachorganisation passten, wurde von den SDS-VDS-Vorstandsmitgliedern schon nach wenigen Wochen als Irrtum erkannt. Mitte September 1969 veröffentlichten der Bundesvorstand des SDS gemeinsam mit dem VDS-Vorstand ein umfängliches Papier mit der Überschrift „Die Liquidierung des VDS“ (studentische politik 7 – 1969 S. 44ff). Mit Fortschreiten der antiautoritären Studentenbewegung sei der VDS in Konflikt mit seinen eigenen autoritären und reaktionären Strukturen geraten, wurde beklagt. Als unmittelbarer Anlass wurde die Rückzahlungsforderung der Bundesregierung von 160.000 DM genannt. Nachdem die Bundesregierung im August, die schon für das laufende Jahr gewährten Zuschüsse in Höhe von 160.000 Mark „binnen Wochenfrist“ zurückforderte, erklärte Julian von Eckardt großspurig: „Noch in dieser Woche kriegt Herr Lunke sein Geld“. (Spiegel v. 25.08.1969)
In dem Papier hieß es weiter, die „irreversibel reaktionäre Struktur der vds-Bürokratie“ habe sich als „tatsächliches Hindernis“ für die Umwandlung in einen „sozialistischen Kampfverband“ dargestellt. Bemerkenswerterweise wurde dies vor allem an der „Haltung der Angestellten im VDS“ festgemacht, sie seien „verstrickt in die offiziösen Unterholzgefechte der Bonner Regierungsbürokratie“ geblieben.
„Der Apparat der bürokratischen Institution vds mit seiner den Ministerialbürokratien angeglichenen hierarchischen Arbeitsorganisation (Cheftelefon, Chefsekretärin) behinderte den Vorstand permanent an der notwendigen politischen Reflexion in Bezug auf die politische Funktion des vds. Der Umzug nach Ffm., der Austritt aus dem „input“ (eine vom vds herausgegebene Zeitschrift (WL siehe oben)) und die Entlassung der Angestellten waren nicht nur finanzpolitische Entscheidungen, sondern Ausdruck des Bemühens sich dem Apparat für die politische Arbeit zu entziehen….“
Das Fazit dieser Erklärung war:
„Das was in Köln und Göttingen als Hintertreppengeflüster aus den Ministerien, als Drohung der Technokraten, als Wehgeschrei der rechten Studentenfunktionäre und als Gespenst der liberalen Asta-Vertreter kursierte, muß jetzt bewußt und offensiver als auf beiden Mitgliederversammlungen vom SDS betrieben werden: die Liquidierung des VDS.“
Statt repräsentativer Interessenvertretung, die nur revolutionäre Bewusstseinsveränderung verhindere, gehe es um die Entwicklung von selbständigen, plebiszitär legitimierten Kadern. Legitimationsinstanz für die Politik könnten nur die Gruppen sein, in denen auch tatsächlich über die Politik diskutiert würde. Studentische Politik müsse verstanden werden als integrierter Bestandteil einer auf Gesellschaftsveränderung drängenden, den Sozialismus propagierenden Politik. Hauptzweck sei nicht die Vertretung studentischer Interessen, sondern eine Einordnung in den Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen Gruppen zur Revolutionierung der Gesellschaft. „Friede den Menschen, Krieg den Institutionen“, so unterschrieb der SDS-Vorstand seine Rundbriefe.
Selbstkritisch wurde zwar für den SDS eingeräumt, dass die „Zerschlagung der sozialdemokratischen Organisationsstrukturen nicht zu neuen Formen politisch-organisatorischer Verbindlichkeit“ geführt und die plebiszitäre Basis sich in eine „ausgedehnte Subkultur“ bis hin „zum Sektierertum“ entwickelt habe. An der eigenen Avantgarde-Rolle wurde jedoch nie gezweifelt.
Zu dieser Selbstkritik schrieb das damalige Heidelberger Bundesvorstandsmitglied des SDS und spätere Mitbegründer des maoistischen Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW), Joscha Schmierer: „Selbstkritik kann nicht heißen, die Scheiße, die man angerichtet hat, mit dem Mäntelchen der historischen Notwendigkeit dieser Fehler zuzudecken“. (Joscha Schmierer, Günther Mangold, SDS-Heidelberg, Der SDS-Bundesvorstand ist durch die Liquidierung des VDS nicht zu retten, studentische politik 7 -1969 S.72ff. (73)) „Der Mangel an Realitätsbewusstsein musste notwendig zum Scheitern führen“. (So der Hamburger AStA in einer Stellungnahme zur VDS-MV v. 18. November 1969, studentische politik 7 – 1969 S. 89ff.,91)
Aufgrund der selbst zugeschriebenen Rolle eines „formellen Kaders“, der sich allerdings nur „ständig auf informelle Kader“ (so Joscha Schmierer a.a.O S. 73) bzw. auf „arbeitende Gruppen“ berufe, habe sich der VDS-Vorstand „zum „reinen Sprecher der revolutionären Bewegung“ aufspielen (Joscha Schmierer a.a.O S. 75) und deshalb auch schalten und walten können, wie er wollte. Um pseudotheoretische Erklärungen für sein Vorgehen sei er nie verlegen gewesen. Kritiker seien für den Vorstand allenfalls sozialdemokratische Handlanger der reaktionären Bourgeoisie gewesen. Joscha Schmierer schloss seine Kritik: „die so notwendig gewordene Notschlachtung des vds wird das Siechtum des SDS nicht beenden, auch wenn der BV (Bundesvorstand (WL)) die großartigen Folgen seiner Mißerfolge im Bewußtsein der Genossen noch so glänzend ausmalt.“ (a.a.O. S. 73; in einem Marburger asta info v. 4. November 1970 wurden die VDS-Vorständler „kleinbürgerliche Revolutionaristen“ genannt)
„Die Elite wird zur Sekte…Machtvollkommenheit und kriminelle Auswüchse gepaart mit Dialektik im luftleeren Raum: Der Ersatz für Studentenpolitik“, kritisierte Steffen Lehndorff (SHB) die Erklärung der Bundesvorstände von SDS und VDS und brachte erstmals die Idee einer „gewerkschaftlichen Struktur studentischer Interessenvertretung“ in die Diskussion ein. (studentische politik 7 – 1969, Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung S. 22 ff.)
Ein Wettlauf um die radikalste Position
Das Ergebnis der Dezentralisierungsideologie war die Entwicklung politischer Subkulturen, Sektierertum und Beliebigkeit. Es gab unter den selbsternannten revolutionären Kadern geradezu einen Wettlauf um die „konsequenteste“, will sagen radikalste Position. Die jeweils abweichenden Positionen wurden zumindest als „demokratiefeindlich“, wenn nicht gleich als „faschistisch“ beschimpft. (Wolf Wagner, ein Leben voller Irrtümer“, Tübingen 2017, S. 134 ff.)
Die Selbstorganisatoren konnten in ihrem Kampf gegen die „Apparate“ jedoch noch nicht einmal den eigenen Apparat, also den SDS selbst, für die eigenen Ziele umfunktionieren. Sie waren auch nicht in der Lage, die örtlichen Asten zu übernehmen, geschweige denn diese – entsprechend der antibürokratischen Programmatik – zu liquidieren.
Im Prinzip verlief der Auflösungsprozess des VDS parallel zur Auflösung der organisatorischen Strukturen des SDS. Am 21. März 1970 löste eine Frankfurter Mitgliederversammlung den letzten Bundesvorstand des SDS per Akklamation auf. (Willy Albrecht, Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), Bonn 1994, S. 469) Auslöser soll der Schock über Tod des bei einem Autounfall verunglückten Frankfurter SDS-Theoretikers Hans-Jürgen Krahl gewesen sein, die Auflösung sei schon auf der Trauerfeier am 20. Februar von den dort versammelten SDS-Mitgliedern informell beschlossen worden. (Wolfgang Kraushaar, Die 68er Bewegung, Band 4, 1969, Stuttgart 2018, S. 447, 453, 465f.)
Wie hohl und zirkulär die im eigenen Jargon erstickende Phraseologie geworden war, konnte man in (SDS- (WL))INFO 26/27 nachlesen: „Der Prozess der Vereinheitlichung der Organisation des politischen Kampfes als das Herausgeben von Organisationsformen, die Ausdruck des realen Organisationsbedürfnisses der politisch arbeitenden Gruppen sind, die bestimmt sind von den Erfordernissen des Kampfes in der gegenwärtigen Phase, kann nur von den Gruppen getragen werden, die in der Einheit ihrer praktisch organisierten Arbeitskraft der theoretischen Reflexion über den Monopolkapitalismus und seiner Erscheinungsformen das Bewusstsein von der Notwendigkeit einer nationalen politischen Organisation gewinnen und die sich selbst arbeitsteilig organisieren, bereitfinden, diese Aufgabe zu übernehmen.“ (Zitiert nach Udo Knapp (letzter Bundesvorsitzender des SDS), Zur Auflösung des SDS-Bundesvorstandes, Frankfurt d. 8. März 1970, privates Archiv)
Spötter lästerten damals über solche aneinander gereihten Worthülsen mit dem Pleonasmus: „Die Basis ist die Grundlage des Fundaments.“ „Pseudologia phantastica“ nennt das Gerd Koenen. (a.a.O S. 55)
Am 24. Juni 1970 wurde dann auch noch eine der wenigen noch übrig gebliebenen SDS-Gruppen in Heidelberg nach einer Straßenschlacht im Zusammenhang mit dem Besuch des ehemaligen US-Verteidigungsministers Robert McNamara durch den sozialdemokratischen Innenminister in Baden-Württemberg, Walter Krause, als „Vereinigung, deren Zwecke und Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen und die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richten, nach Art. 9 Abs. 2 des Grundgesetzes verboten.“ Immerhin demonstrierten danach annähernd 10.000 Studenten, Schüler und auch einige Arbeiter gegen das SDS-Verbot, auch in anderen Universitätsstädten kam es zu Solidaritätsdemonstrationen. (Wolfgang Kraushaar, Die 68er Bewegung, Band 4, 1969, Stuttgart 2018, S. 475)
Die versprengten Mitglieder der Heidelberger SDS bildeten später den Nukleus des Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW))
Der Rettungsversuch des „Notvorstandes“
Der „Notvorstand“ veröffentlichte nach Amtsantritt am 8. Dezember im „vds press 1“ eine Bestandsaufnahme: „Die Tätigkeit des Übergangsvorstandes wird bestimmt durch die Umbruchsituation innerhalb der politischen Studierenden. Diese Umbruchsituation ist dadurch gekennzeichnet, daß bei dem politisch aktiven Teil der Studierenden sich nach der anfänglich erlittenen Frustration in der argumentatorischen Auseinandersetzung mit den Institutionen und der dadurch provozierten Aggressivität und Militanz, sich nunmehr Abwehrmechanismen zeigten, die sich in Isolations- und Abkapselungstendenzen, in der Flucht in die Theorie, in Verdrängungen oder gar – wie der Liquidierungsversuch am vds zeigt – in selbstzerstörerischen Affekten niederschlagen.
Die Aggression richtet sich nun nach innen. Jeder der vom sprachlosen Konsens der in-group abweicht, wird mit konterrevolutionären Etiketten versehen und verteufelt.
Dadurch wird jede inhaltliche Auseinandersetzung erschwert, wie die sehr emotionell geführten Auseinandersetzungen zwischen SDS (bzw. sog. SDS), Marxisten-Leninisten („Stalinisten“), Spartakisten („Institutionsfetischisten“) oder „SHB-Funktionären“ („Funktionärspack“) zeigt. Die Aggressivität innerhalb der unterschiedlichen praktischen Ansätzen geht häufig einher mit der Unsicherheit über die eigene theoretische Position…
Der VDS kann in dieser Auseinandersetzung nicht eine weitere Fraktion darstellen, es ist aber auch unmöglich, daß er sich über die Fraktionen stellt. Dies würde nur eine verschleiernde Wirkung zeitigen und eine notwendige Klärung verhindern.
Der VDS kann sich jedoch für die verschiedenen Fraktionen dienstbar machen, in dem er seinen „Apparat“, d.h. seine Räume und die Druckmaschine als Diskussionsträger instrumentalisiert…Damit könnte gleichzeitig das Informationsmonopol einer neuen Variante von Funktionären, nämlich der wenigen Eingeweihten, denen aufgrund persönlicher Beziehungen die lokalen Arbeiten zugehen, überwunden werden…“ (vds press 1, privates Archiv)
Trotz dieser nicht sehr hoch gesteckten politischen Ziele hatte der „Notvorstand“ alle Hände voll zu tun. Der Kalender des Vorstands weist in den knapp 3 Monaten von Mitte November 1969 bis zur 22. o. MV im März 1970 allein 80 auswärtige Termine aus.
In einer ersten Presseerklärung des „Übergangsvorstandes“ hieß es u.a.:
„Der Versuch des zurückgetretenen vds-sds-Vorstandes, den vds als Sozialistischen Kampfverband zu instrumentalisieren, muß als gescheitert gelten.“ Die künftige Politik der Studierenden werde sich auf drei Ebenen artikulieren und orientieren:
- „auf der lokalen Ebene bei den kleineren Hochschulen, deren geringer Politisierungsgrad sie in eine Außenseiterrolle im Verhältnis zu den „großen“ Universitäten gedrängt hat,
- auf regionaler Ebene (Großräume Hamburg, München, Baden-Wttbg., Berlin, Ffm.) auf der sich, was den hochschulpolitischen Bereich anbetrifft, die unmittelbare politische Auseinandersetzung verlagert hat,
- auf den überregionalen Bereich, wo der vds seine Funktion neu zu bestimmen hat.“
„Der Vorstand sieht seine Aufgaben, die aus der derzeitigen Situation des Verbandes resultieren in
- einer gründlichen Bestandsaufnahme in materieller und politischer Hinsicht,
- der Entwicklung einer politischen Konzeption als Diskussionsgrundlage für eine von der MV zu bestätigende Reorganisation des Verbandes.
- Einer Wahrnehmung möglicher Schutzfunktionen für die Studierenden vor allem im sozialpolitischen Bereich, wie
- familienunabhängige Ausbildungsförderung
- repressionsfreies Wohnen
- Förderung von nicht repressiven Kindertagesstätten,
- einer Wiederaufnahme der bildungspolitischen Diskussion unter Entwicklung konkreter gesellschaftspolitischer Alternativen angesichts der Technokratisierungstendenzen im Bereich
- der Hochschulrahmengesetzgebung
- der Fernsehuniversität
- der Wissenschaftsplanung,
- der Überwindung des Partikularismus im Bildungsbereich durch eine engere Zusammenarbeit mit den Verbänden SVI (Studentenverband Deutscher Ingenieurschulen (WL)), SVS (Studentenverband Deutscher Sozialschulen (WL)), ASBH (Arbeitskreis der Studenten an berufspädagogischen Hochschulen (WL)), WKSV (Werkkunststudentenverband (WL)).“
Darüber hinaus zeichnete der Vorstandsbericht ein ziemlich beschönigendes Bild der Finanzsituation des VDS. (Privates Archiv)
„Wir waren in Hamburg nicht angetreten, um den vds um jeden Preis zu „retten“, sondern wir waren der Auffassung, daß die Organisationsdebatte nicht im organisationslosen Raum stattfinden kann. Für diese grundsätzliche Debatte innerhalb der politisch aktiven Studierenden wollten wir den Verband dienstbar machen“, so beschrieben wir unser Selbstverständnis. (Privates Archiv)
Das wichtigste „Kapital“ des Vorstands war eine Offset-Druckmaschine im Keller eines dem Bürohaus gegenüberliegenden Gebäudes. Die Maschine war jedoch in einem desolaten Zustand und mangels Finanzmittel konnten wir auch nur einen Drucker in Nebenbeschäftigung bezahlen. So konnten wir nur Druckaufträge für einen Teil der Studentenschaftswahlkämpfe in Münster, Bonn und Mainz übernehmen oder wir konnten Plakate für Demonstrationen und Publikationen verschiedener politischer Aktivistengruppen vor Ort drucken. Immerhin gab der Vorstand ein „vds-press“ heraus. Dazu hieß es im Vorstandsbericht: „Die Notwendigkeit einer überregional linken Publikation mit einer starken Auflage ist insoweit gegeben, als Publikationen, wie „facts“ (Organ des RCDS, Auflage 150.000) „Student“ (Auflage 50.000) und das Organ der DSU (Auflage 60.000) diese Lücke im überregionalen Publikationsangebot erkannt haben und versuchen, sie auszufüllen.“ Wie vorsichtig der Vorstand dabei sein musste ergibt sich aus dem einschränkenden Nachsatz: „Es kann sicherlich nicht daran gedacht sein, mit dieser Publikation vds-press ein Konkurrenzblättchen zu den mittlerweile etablierten linken Publikationen wie SDS-info, Rotes Forum, SoPo u.ä. aufzuziehen.“
Als Diskussionsorgan für die Basisgruppen, gab der Vorstand die „basispresse“ heraus. Gedruckt wurde auch eine Nummer der „Neuen Linken“.
Die Mitglieder des Notvorstandes fuhren und luden zu Gesprächen mit Asten, mit Studentenverbänden, insbesondere mit den vom SHB geführten Studentenvertretungen. Wir nahmen an einem zweitägigen Hochschulseminar des SDS am 29. und 30. November 1969 in Frankfurt teil, auf dem sich vor allem „Autoritäten“ wie Hans-Jürgen Krahl (der „Robespierre von Bockenheim“), Daniel Cohn-Bendit oder Helmut Schauer produzierten und auf nicht mehr nachvollziehbarem Abstraktionsniveau über die Rolle der Intelligenz im Klassenkampf stritten. (Wolfgang Kraushaar, Die 68er Bewegung, Band 4, 1969, Stuttgart 2018, S. 403)
Wir nahmen an Seminaren, Kontrollratssitzungen, SHB- oder LSD-Versammlungen teil, führten Gespräche mit Asten in München, Bochum, Tübingen, an der PH und an der Kunsthochschule Köln, in Bonn, München-Pasing, Heidelberg, Konstanz…
Wir ergriffen bei Demos das Wort. Wir mussten uns auf zahlreichen Teach-ins stellen. In Marburg, Hannover, Freiburg, Köln, Karlsruhe oder Würzburg stritten wir in „Schaukämpfen“ mit Vertretern der „Arbeitsgemeinschaft Deutscher Studentenschaften“. Die ADS forderte die Studentenschaften (teilweise mit juristischen Fehlinformationen) zur Verweigerung ihrer Beiträge an den VDS auf – was weitgehend erfolglos blieb, weil entgegen den Erwartungen vor allem auch in der Presse und der – wie wir sie beschimpften – „abgehalfterten Studentenfunktionäre“ viele bis dahin eher von konservativeren Studentengruppen geführten Asten, selbst in Bonn, Köln und Münster – nach links rückten.
Nach einer Übersicht der Westdeutschen Rektorenkonferenz vom 28. Februar 1970 stellten an den Unis in Aachen, Clausthal, Darmstadt, Erlangen-Nürnberg, Frankfurt, Göttingen, Hamburg, Hannover, Heidelberg, Kiel, Mainz, Mannheim, Marburg, an Uni München, in Saarbrücken, Tübingen und in Würzburg, d.h. an nahezu allen größeren Universitäten Linksgruppen, überwiegend vom SHB die ASten.
Wir wollten „zu einer politischen und organisatorischen Abstimmung“ mit dem Studentenverband an den Ingenieurschulen (SVI) kommen. Und immerhin wurden die Vorstandskollegen Manfred Protze und Jürgen Kegler in den Vorstand des Deutschen Studentenwerks (DSW) gewählt, dem allerdings auch noch das ADS-Mitglied Klaus Laepple angehörte. Dort traten wir für eine familienunabhängige Ausbildungsförderung für alle in Ausbildung befindlichen vom Kindergarten bis hin zur Erwachsenenbildung ein. Wir arbeiteten in der studentischen Krankenversicherung (DSKV) mit und nahmen (ausdrücklich nur) als „Beobachter“ an Sitzungen der Westdeutschen Hochschulrektorenkonferenz (WRK) teil. Wir stritten uns mit den Rektoren über die hierarchischen Strukturen der Hochschule und über den numerus clausus, speziell über die „Zentralstelle für Zulassungswesen“ (ZRZ), die von unserer Seite als Organisation zur reibungslosen Verwaltung des Mangels kritisiert wurde. Wir schalteten uns in die Diskussionen um die Neugründungen der Hochschulen in Bremen und Kassel ein.
Wir versuchten uns als Partner der Bundesassistentenkonferenz (BAK) anzubieten. Das scheiterte allerdings daran, dass das Selbstverständnis beider Organisationen in Bezug auf die etablierten politischen Institutionen völlig unterschiedlich war. Hinzu kam, dass die BAK mit der ADS paktierte. Wir suchten das Gespräch mit einzelnen Journalisten der „bürgerlichen Presse“ und hielten Kontakte zu linken Zeitungen wie der „Rote Presse Korrespondenz“ (RPK), der „Sozialistischen Politik“ und dem Berliner „Extra Dienst“. Wir bemühten uns, Projektbereiche in Gang zu halten, wie z.B. den „PB Kriegsforschung“ oder neue zu gründen, wie etwa die Projektbereiche Medizin, Technologie (in Darmstadt) oder „revolutionäre Kunst (an der Kunsthochschule Köln). Ein neu entstandener Projektbereich Soziales in Tübingen stieß eine Wohngeldkampagne an, versuchte Mietstreiks zu organisieren und entwickelte Konzepte für antiautoritäre Kindergärten. Der Projektbereich Kriegsforschung wollte nachgewiesen haben, dass die Bundeswehr Giftgas besaß.
(Hans-Jörg Heimbrecht, konkret, v. 26. März 1970 S. 46ff.; siehe auch „Giftgas für die Bundeswehr“ vds-Broschüre, privates Archiv)
Wir organisierten Seminare wie z.B. vom 7. bis 8. Februar in Marburg über die Themen
- Intelligenz im Klassenkampf
- Hochschulgesetzentwürfe und Bundeshochschulrahmengesetz
- Wissenschaftsplanung / Leussink-Kritik
- Funktionsbestimmung des vds
In einem Bericht des Vorstandes über dieses Seminar, hieß es u.a.:
„Die unterschiedlich organisatorisch-praktischen Ansätze der ML-Fraktionen, des Spartakus, der antiautoritären Reste des SDS und des linken Flügels des SHB gehen alle von einer unterschiedlichen Beurteilung des Stellenwerts der Intelligenz und daraus resultierend, des Stellenwerts von Hochschulpolitik und damit der Wissenschaftsplanung, der Technokratisierung und der Formierung im Ausbildungssektor aus. Sehen die einen eine zunehmende Verproletarisierung der technischen Intelligenz und damit notwendigerweise eine Klassenidentität von Intelligenz und Arbeitern und messen deshalb der Auseinandersetzung im Hochschulbereich klassenkämpferischen Charakter bei, so vertreten die anderen die Auffassung, daß nur die Arbeiter selbst in der Lage sind, das ökonomische System zu gefährden und fordern deshalb die Integration der technischen Intelligenz und der politisch-praktischen Arbeit der technischen Intelligenz in den Betrieb(en)…
Wenn auch kein allgemeiner Konsens über die Funktion der Intelligenz erreicht werden konnte, so war man doch mehrheitlich der These gefolgt, daß eine zunehmende Verproletarisierung der Intelligenz im Poduktionsprozeß ableitbar ist…“ (Privates Archiv)
Zum Thema Leussink-Kritik (Hans Leussink war von 1969 bis März 1972 der erste und zudem parteilose Bundesminister für Bildung und Wissenschaft) hieß es im gleichen Bericht:
„Emanzipatorische Wissenschaftspraxis wird durch die von zentraler Stelle aus vollzogene Lenkung und Planung der Studienordnungen unmöglich gemacht. Das Gefährliche an der technokratischen Hochschulreform ist …nicht so sehr das Ausschließen von Selbstverwaltung und Mitbestimmung, als vielmehr das Verhindern jeglicher politischer Praxis durch das Aufrichten ständiger Zwänge. Dies Zwänge werden subtil dadurch, daß sie nur in Form ständiger Prüfungen und ständiger Kontrolle der erfolgten Leistungen und der Möglichkeit des jederzeitigen Ausschlusses vom Studium bei einem Widersetzen gegen den Leistungsdruck gewährleisten…“ (Privates Archiv)
Es sollte ein „Leussink-Tribunal“ angestrebt werden.
Wir versuchten innerhalb der Gewerkschaften nach Kräften und Personen, die die studentischen Ziele nach Mitbestimmung zu unterstützen bereit waren, wie z.B. mit dem Vorstandsmitglied der IG Chemie Werner Vitt. Es gab mehrere Versuche mit Beamten der Bundesministerien über eine Wiederaufnahme von Zuschüssen ins Gespräch zu kommen – ohne Erfolg.
Wir hielten 3 (wenig besuchte) Pressekonferenzen und gaben Erklärungen ab, wie z.B. gegen „die Duldung des offenen Faschismus in Griechenland durch die derzeitige Regierung der BRD“, welche den Beweis liefere, “daß die Zeit des Nazi-Faschismus in Deutschland keinen politischen Lernprozeß in der BRD initiiert“ habe (Erklärung v. 9.12.1969)
Wir gaben eine Erklärung zum Treffen der Regierungschefs der DDR und der BRD, Willi Stoph mit Willy Brandt in Erfurt am 19. März 1970 ab.
Unsere Forderungen an die Bundesregierung waren dazu, dass
- die Oder-Neiße-Linie als endgültige Westgrenze der Volksrepublik Polen vertraglich fixiert werde,
- das Münchner Abkommen als für von Anfang an ungültig anerkannt,
(Mit diesem Abkommen musste 1938 die damalige Tschechoslowakei das Sudetenland an das Deutsche Reich abtreten (WL))
- der Alleinvertretungsanspruch (der BRD gegenüber der DDR (WL)) (Hallstein-Doktrin) aufgegeben und
- eine Politik der Gleichberechtigung und der friedlichen Koexistenz mit der DDR konsequent verfolgt werde.
Wir forderten die Regierung der Bundesrepublik Deutschland auf, mit der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR den einzigen Weg einzuschlagen, der wirkliche „menschliche Erleichterungen“ bringt.
(Bonn, den 17. 3. 1970; privates Archiv)
Wir protestierten gegen Springer und speziell gegen den Chefredakteur von Bild am Sonntag, Peter Boenisch, und deren „Kriminalisierungskampagne gegenüber einer sozialistischen Opposition“. (Presseerklärung v. 1.02.1970; privates Archiv)
Der Vorstand arbeitete an der „Initiative Internationale Vietnam-Solidarität“ mit, die von 31 Organisationen getragen und von einer Reihe bekannter Persönlichkeiten (u.a. Martin Niemöller, Erich Kästner, sowie den Professoren Abendroth, Bloch, Fetscher, Gollwitzer und Ridder u.a.) unterstützt wurde.
Nicht zuletzt planten wir Kriegsdienstverweigerer zu unterstützen.
Hochschulpolitisch waren wir engagiert bei der Konzipierung eines Fernstudiensystems und in der Kommission der KMK für das „Fernstudium im Medienverbund“. Wir waren im Kuratorium der Hochschulinformationssystem GmbH (HIS) vertreten. (Meldung an das Bundesministeriums für Familie, Jugend und Gesundheit am 17.02.1970; privates Archiv)
Natürlich besuchten Studentenparlaments- und AStA-Sitzungen. Bei diesen Gesprächen mit den Asten ging es neben viel (schein-) „revolutionärem“ Filibustern im Kern um die Frage, ob die Mitgliedsbeiträge der jeweiligen Studentenschaften an den VDS überwiesen würden. Wir versuchten ausgetretene Asten zum Wiedereintritt zu bewegen.
Seit der Hamburger MV im November bis zum Jahresende 1969 waren gerade mal 26.700 DM eingegangen. Wir verschickten über einen Anwalt Mahnbriefe für alle seit dem 31. März 1969 angefallenen Mitgliedsbeiträge. Die in die ADS eingetretenen Asten sollten damit gerichtlich gezwungen werden, die Beiträge, die sie dem VDS schuldeten, zu bezahlen. Diejenigen Asten, denen die Beiträge durch die Rektoren gesperrt wurden, sollten mit den Schreiben ein Dokument in die Hand bekommen, mit denen sie gegenüber ihrer Hochschulverwaltung unsere Beitragsforderungen geltend machen konnten. Den Asten, die den VDS weiterhin liquidieren wollten, wurde – ganz gezielt – mit dem Rechtsweg gedroht. Außerdem mussten fällige Beiträge bis zur Austrittsfrist eingetrieben werden.
In jedem Einzelfall wurde den Asten angeboten mit uns in Verhandlungen zu treten, da es nicht unsere Absicht sein konnte, örtliche Basisarbeit durch das Eintreiben von Beiträgen zu verhindern. Zum 15. März 1970 hatten immerhin 27 Hochschulen (wenigstens teilweise) ihre Beiträge abgeführt. An den drei Westberliner Hochschulen (FU, TU, PH) gab es nach dem neuen Hochschulgesetz keine verfassten Studentenschaften mehr. Gegen die Universitäten Frankfurt und Hamburg wurden im Einverständnis mit den jeweiligen Asten Zahlungsbefehle erlassen, da die Universitätsverwaltungen die Beitragskonten gesperrt hatten. Mit 4 größeren Hochschulen wurden Verhandlungen über Stundungen oder Rückführung von Geldern geführt. Unsere Vorstandszeit hat mit hohen Schulden begonnen und am Ende des Geschäftsjahrs war ein kleiner Überschuss erwirtschaftet worden. Die Finanzierung des Verbandes erfolgte bis auf kleinere Einnahmeposten, wie z.B. die Abwicklung des „Hauses Berlin des VDS“, allein aus Mitgliedsbeiträgen.
Ein Gespräch mit dem AStA der TU München ist mir nachdrücklich in Erinnerung, da wurde ich nicht nur beschimpft, sondern sogar regelrecht verprügelt.
Der Hintergrund war folgender:
Die Studentenschaften waren (öffentlich-rechtliche) Gliedkörperschaften der Hochschulen und hatten eine „kameralistische“ Haushaltsführung, d.h. die Einnahmen und Ausgaben waren nach einzelnen Titeln qualifiziert angelegt. Die meisten Asten hatten in ihren Haushalten also den Titel „Abführung an überregionale Vertretungen“ oder „Mitgliedsbeiträge“ o. Ä. stehen. „Kameralistisch“, das heißt, die Asten konnten diese Mittel nicht für andere Zwecke als dem des ausgewiesenen Haushaltstitels verwenden. Also versuchten wir die AStA-Vertreter zu überreden, uns diese Mittel zu überweisen oder uns daraus wenigstens als Darlehen zu gewähren und wir versprachen – wie uns das die a.o. MV in Hamburg per Beschluss auferlegte – dieses Geld für konkrete Projekte vor Ort – häufig ging es um Druckmaschinen – zurück zu überweisen.
Diese Versprechen konnten vielfach überhaupt nicht oder nur zum Teil eingehalten werden, weil uns Forderungen ins Haus standen, z.T. mit vollstreckbaren Titeln; also mussten wir den Vollstreckungen abhelfen und die Forderungen aus den überwiesenen Beiträgen befriedigen. Das nahmen uns verständlicherweise manche Vertreter der Asten persönlich übel und das ging dann eben auch soweit, dass ich verprügelt wurde, weil nicht das (ganze) Geld aus den Mitgliedsbeiträgen zurückfloss. Anfänglich waren wir sogar guten Willens, die Gelder zurückzuerstatten, als wir aber erkannt hatten, dass wir damit den Konkurs vermeiden konnten, haben wir diese sicherlich nicht ganz ehrliche Methode teilweise auch bewusst eingesetzt.
Wir versuchten darüber hinaus die Einstellung der Bundeszuschüsse an den Verband rückgängig zumachen. In einem Vorstandsschreiben vom 31(!).12.1969 an den Minister im Bundeskanzleramt Horst Ehmke heißt es:
„Wir sind der Auffassung, daß die neue Regierung ihrem Selbstanspruch durch den sprachlosen Verweis auf unbegründete Entscheidungen des letzten von der CDU/CSU majorisierten Kabinetts nicht gerecht wird. Das damalige Verdikt steht in eindeutigem Widerspruch zu der Regierungserklärung. Wir möchten Sie daher zu einer alsbaldigen Entscheidung über die Wiederaufnahme der Förderung des Verbandes Deutscher Studentenschaften auffordern.
Ein weiteres Schweigen in dieser Angelegenheit stellt unseres Erachtens eine politische Entscheidung gegen den Verband Deutscher Studentenschaften – und damit gegen den überwiegenden Teil der örtlichen Studentenschaften – dar. Der in München von den Jungsozialisten für den vds gefaßte Beschluß mag als Beispiel dafür gelten, daß nicht nur die Studierenden diese Entscheidung als Kriterium für die Einschätzung der von der neuen Regierung betriebenen Politik betrachten….“ (Privates Archiv)
Erst drei Monate später, am 25. 3. 1970 befasste sich das Bundeskabinett mit der Förderung „eines studentischen Dachverbandes“ und beauftragte „das BFJG federführend alle Bestrebungen in geeigneter Weise zu unterstützen und Maßnahmen zu treffen, die den Studentenschaften helfen, einen Dachverband arbeitsfähig zu machen, der die Kräfte und Strömungen in der Studentenschaft repräsentiert und eine wirksame Interessenvertretung ermöglicht.“ (Privates Archiv) Konkrete Zusagen an den VDS gab es jedoch nicht.
Schon zuvor, am 22. Januar 1970, hatte der VDS-Vorstand ein Gespräch mit Hans Matthöfer, damals Leiter der Bildungsabteilung der IG Metall. Am 19.2. 1970 gab es zusammen mit der BAK, der ADS, der WRK und dem Hochschulverband ein Gespräch mit dem Bildungspolitischen Ausschuss der SPD (u.a. mit Ulrich Lohmar, Günter Wichert). Das führte gleichfalls nicht zu einer eindeutigen Unterstützung des VDS.
Da ich der einzige „Jurist“ im Vorstand war, musste ich mich im Schwerpunkt auch um die anhängigen Gerichtsverfahren kümmern. Der SDS-VDS-Vorstand hatte zur Zeit seines Rücktritts 11 schwebende Verfahren hinterlassen.
Da ging es unter anderem um den Prozess gegen die Bundesregierung um die weitere Auszahlung der Zuschüsse. Prozessvertreter war Horst Mahler. Da die Akten im „sozialistischen Anwaltskollektiv Berlin“ verschwunden waren, konnte dieses Verfahren nicht weiter betrieben werden.
Ein Verfahren, das mich noch mich noch bis ins Frühjahr 1971 – also noch lange nach meiner Amtszeit – verfolgte, war die Klage, mit der Herbert Wehner und der Europa-Verlag die Herausgabe der vom VDS in der SDS-Vorstandszeit gedruckten Restexemplare und die entsprechenden Druckplatten eines Tagebuches des SPD-Politikers aus seiner Zeit als KPD-Mitglied im russischen und schwedischen Exils verlangten. Obwohl der Vorstand eidesstattlich versichert hatte, weder im Besitz der restlichen Exemplare, noch der Matrizen zu sein, sind die Vergleichsverhandlungen zunächst gescheitert. Julian von Eckart vom Vorgänger-Vorstand hatte die Druckplatten nicht an den gegnerischen Anwalt ausgeliefert und sich geweigert einen Offenbarungseid zu leisten.
Die „Revolutionäre“ des SDS-VDS-Vorstandes, die doch den Kampf für die Arbeiterklasse vorantreiben wollten, waren mit den Angestellten des Verbandes schlimmer als die schlimmsten Kapitalisten umgesprungen. Die Mitarbeiter wurden zunächst kaltgestellt, der Betriebsrat wurde blockiert, Betriebsversammlungen verboten und es wurden fristlose Kündigungen ausgesprochen.
Gegen die Vorwürfe und Entlassungen setzten sich einzelne Angestellte vor dem Arbeitsgericht mit Erfolg zur Wehr. So wurde dem SDS-VDS-Vorstand unter Androhung der höchstzulässigen Geld- oder Haftstrafe untersagt, über Gabriele Witt und Norbert Günter Ehrlich zu behaupten, sie „fühlten sich mehr den Bonner Ministerialbürokratien, dem CIA, dem BND und reaktionären Studentenorganisationen verpflichtet…und leisteten praktisch Spitzeldienste, betrieben Obstruktion…“ (studentische politik 7 – 1969 S. 52)
Es liefen mehrere Verfahren, bei denen es um Gehälter und fristlose Kündigungen von Angestellten oder um die Auszahlung von Überstundengelder ging. Sie wurden nach und nach eingestellt. Die Arbeitsverhältnisse mit Frau Grawe (der Buchhalterin), Frau Markmann (der Hausmeisterin) und Gaby Witt (einer Referentin) wurden wieder aufgenommen.
Der Vermieter das Bürohauses, Herr Vianden, ließ Gelder in Höhe von 70.000 DM für Miet- und Renovierungskosten arrestieren, von denen wir dann immerhin rd. 26.000 DM wieder frei bekamen. Wir mussten aus finanziellen Gründen zwei Etagen des Bürogebäudes räumen und an die Otto Benecke Stiftung abgeben, die sich damals vor allem um geflüchtete Studierende aus der DDR und Osteuropa, nach dem Bau der Mauer auch um Studenten aus Entwicklungsländern kümmerte. Aus SDS-VDS-Vorstands-Sicht tummelten sich in dieser Stiftung verschiedene „Spionageorganisationen“. (Erklärung der Bundesvorstände des SDS und VDS, Die Liquidierung des VDS, Mitte September 1969, studentische politik 7 -1969, S. 44ff.)
Außerdem wurde eine Klage des SDS-VDS-Vorstandes gegen den Bonner Generalanzeiger niedergeschlagen. Gegenstand war eine Behauptung der Zeitung, der VDS habe 224.000 DM ohne Belege ausgegeben.
Im Februar 1970 zählte der Vorstand des VDS 43 Mitgliedshochschulen, wobei bei 11 Hochschulen die Mitgliedschaft ungeklärt war. Ausgetreten waren im Haushaltsjahr 1969/70 49 Hochschulen. Es gab jedoch zu Beginn des Jahres 1970 wieder eine größere Zahl beitrittswilliger Asten.
Die gerichtlich untersagte Mitgliederversammlung
Von Donnerstag, dem 1. April, bis zum Samstag, dem 4. April 1970, sollte die 22. Ordentliche Mitgliederversammlung (OMV) in Göttingen in der Weender Festhalle (Ernst Falbusch-Str. 20-22) stattfinden. Die Einladung erfolgte fristgemäß per Post, dennoch erging am 12.3.1970 eine zweite Einladung, weil der Vorstand über Telefon erfahren hatte, dass angeblich nicht alle Anschreiben angekommen seien. In Göttingen waren insgesamt 37 der insgesamt 52 vom VDS-Vorstand als Mitglieder betrachteten Studentenschaften anwesend. Noch während der MV traten 14 Hochschulen dem VDS bei.
Der an Organisationskraft stärker gewordene „Spartakus“ hatte umfängliche Anträge zur Hochschul- und Wissenschaftspolitik mit Forderungen nach einem „Leussink-Tribunal“, nach Kampagnen gegen den Numerus Clausus, nach Aktivitäten gegen „Kriegsforschung“ etc. vorgelegt. Es sollten Appelle zur völkerrechtlichen Anerkennung der DDR, Anklagen gegen die US-Aggression in Vietnam, Forderungen nach einem Verzicht auf Atomwaffen und Proteste gegen den Springer-Verlag und gegen die Pressekonzentration verabschiedet werden. Auch die von einem „rechten“ AStA geführte Studentenschaft der Uni Freiburg stellte eine Reihe von – durchaus als Provokation gemeinten – Anträgen u.a. ein Bekenntnis zu „einer freiheitlich Staatsordnung“ und die Forderung nach „einer demokratisch pluralistischen Willensbildung“, aber auch zu so „bürgerlichen“ Fragen wie nach einem Wegfall der sog. Verheiratetenklausel im Sozialrecht, wonach z.B. Kinderzuschläge wegfallen, wenn Kinder während der Berufsausbildung heiraten (im speziellen Fall studieren). Aus Freiburg gab es aber auch einen Antrag mit der Forderung nach Abschaffung von Studien- und Prüfungsgebühren.
„Wir eröffnen die 22. Ordentliche Mitgliederversammlung des VDS (lange Pause (WL))…..nicht“, so begrüßte der Versammlungsleiter die anwesenden etwa 200 Delegierten. Denn gegen diese MV erwirkte der Freiburger AStA, der am 14. Februar in die ADS eingetreten war, ohne allerdings vom VDS auszutreten, eine einstweilige Verfügung der Zivilkammer 84 des Landgerichts Berlin mit Datum vom 25. März 1970. (In Berlin hatte der VDS seinen juristischen Sitz.) Der AStA machte u.a. geltend, dass er die per Briefdrucksache versandte Einladung zur MV nicht fristgemäß 6 Wochen vor der MV erhalten habe und dass die Teilnehmerliste manipuliert sei. Dem Vorstand des VDS wurde „bei Vermeidung einer vom Gericht für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Geldstrafe in unbegrenzter Höhe untersagt vom 1. bis 4. April eine ordentliche Mitgliederversammlung… durchzuführen.“ (Privates Archiv)
In der Not, wurde die Mitgliederversammlung in ein „Treffen von ASten“ umdefiniert, die Tagesordnung wurde „inoffiziell“ abgearbeitet und es wurde – mit einer Frist von 24 Stunden – eine außerordentliche Mitgliederversammlung für den folgenden Samstag, also dem 4. April einberufen. Auch gegen dieses Vorgehen beantragten die Freiburger eine einstweilige Verfügung. (Der Spiegel v. 06.04.1970 ) Zugleich wollten sie die Versammlung regelrecht erpressen; sie erklärten, dass der neuerliche Antrag auf eine einstweilige Verfügung von ihnen zurückgezogen würde, wenn die (oben erwähnten) Freiburger Anträge zum Selbstverständnis des VDS von der Versammlung akzeptiert würden. Das geschah nicht.
Das Gericht gab auch diesem Antrag statt. Diese Nachricht hatte ich vorab aus Berlin von einem Journalisten erhalten. Die Versammlungsleitung versuchte deshalb vorsorglich, den Zugang eines Gerichtsdieners zu verhindern, indem wir die Öffentlichkeit von der Versammlung ausschlossen. So hofften wir, die Mitgliederversammlung dennoch durchziehen und einen neuen Vorstand wählen lassen zu können. Doch am späten Abend erschien ein Gerichtsvollzieher mit der – wie sich erst später herausstellte – Androhung einer Geldstrafe in unbegrenzter Höhe gegen den „Notvorstand“, falls die MV fortgesetzt würde. Der verdatterte Beamte wurde handfest aus der ja inzwischen nicht öffentlich tagenden Versammlung gedrängt. Zwischenzeitlich telefonierte ich mit unserem Berliner Anwalt Wolfgang Büsch. Der gab mir den Tipp den Justizbeamten nach einer Nachtzustellungsverfügung gemäß der Zivilprozessordnung zu fragen. Vor 4 Uhr morgens dürften nämlich solche Anordnungen nur mit richterlicher Zustimmung zugestellt werden. Ein solches Dokument hatte der arme Mensch natürlich nicht dabei. Ich forderte alle Umstehenden lautstark auf, bloß nicht das Schreiben in die Hand zu nehmen. In seiner Not warf der Beamte die Verfügung einfach auf den Boden. Ich stellte einen Stuhl darauf und bat Gerd Köhler (Später selbst vds-Vorstandsmitglied und von 1981 bis 2006 Mitglied des geschäftsführenden Vorstands der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zuständig für den Hochschulbereich) sich auf den Stuhl zu setzen und das Schreiben zu bewachen, damit es bloß niemand „annahm“. Wir versuchten im Eilverfahren einen Vorstand zusammenzubekommen. Doch es gelang nicht, jedenfalls nicht bis 3 Uhr morgens, denn da erschien der Gerichtsvollzieher erneut und diesmal mit einer Nachtzustellungsverfügung durch einen Göttinger Amtsrichter. „Wir haben die deutsche Justiz unterschätzt. Wir haben nicht mit einem Amtsgerichtsrat gerechnet, der morgens um halb drei Uhr noch auf ist“, schreibt mir Horst Köpke von der Frankfurter Rundschau als Zitat zu (Frankfurter Rundschau v. 6.4.1970)
Die Versammlung musste abgebrochen werden.
Das anschließende gerichtliche Verfahren endete mit einem Vergleich: Der vds übernahm die Kosten des Verfahrens, der Freiburger AStA verzichtete auf gerichtliche Schritte gegen eine für den 24. und 25. April neu einzuberufende Mitgliederversammlung.
Zwischenepisode: Auf der Göttinger MV traf ich auch auf Gerhard Schröder, dem späteren Juso-Vorsitzenden und noch später, dem Bundeskanzler. Er hat mich bei einer Begegnung von sich aus auf diese Geschichte angesprochen und lachte sich immer noch kaputt über die juristischen Tricksereien, die wir damals veranstaltet hatten.
Die Delegierten waren selbstverständlich während der dreieinhalb Tage (und Nächte) nicht untätig. Weniger im Plenum, sondern eher im Hintergrund wurde heftig (und verbalradikal) um die zukünftige Linie des Verbandes „gemauschelt“.
Die sog. „Antirevisionisten“ (vom ehemaligen SDS, auch als „SDS-Schwanzisten“ beschimpft) und die „Marxisten-Leninisten“ (Anhänger der maoistisch orientierten KPD/ML), „Anarchosyndikalisten“ sowie die „Roten Zellen“ wollten ein „Minimalprogramm“ für den Verband, quasi als „Schraubenzieher“ im Dienste der Basis durchsetzen, während die „Revisionisten“ (Vertreter des SHB und des „Spartakus“) eher die Rolle einer „demokratischen Selbsthilfeorganisation“, also eine gewerkschaftsähnliche Funktion im Auge hatten.
Beide Seiten beschuldigten sich gegenseitig einer „Liquidationspolitik“. Die „Antirevisionisten“ warfen SHB und Spartakus vor, den VDS zu ihrer Plattform machen zu wollen, letztere wiederum warfen der SDS-Nachhut vor, den VDS nur „auspowern“ zu wollen.
Der noch amtierende „Notvorstand“ schlug einen Kompromiss vor. Es hieß im Vorstandsbericht zur „Funktion des vds“, dass der Verband weder eine „Avantgarde“-Funktion wahrnehmen, noch als „Kampfverband“ agieren und auch nicht die Rolle einer „weiteren Fraktion“ innerhalb der Studentenschaft einnehmen könne. Der VDS biete als überregionale Organisation die Möglichkeit Informationen vor allem zur Hochschulpolitik zu erlangen, die für die Arbeit vor Ort von wichtiger Bedeutung seien; der Verband könne so zur Fundierung der studentischen Kritik auf dem Bildungssektor beitragen. Für den VDS böten sich arbeitsteilig folgende Aufgaben an:
– Die überregionale Verbreitung der regionalen Projektbereichs- und Basisgruppen-Ergebnisse, als technische Funktion (ggf. als Verlag).
– Die inhaltliche und praktische Auseinandersetzung um das Bundeshochschulrahmengesetz und die Pläne des Fernstudiums im Medienverbund.
– Die Wahrnehmung der herkömmlichen Sozialaufgaben.
– Der Kampf für eine Verwissenschaftlichung der pädagogischen Ausbildung.
– Die Zusammenarbeit mit Ausländergruppen.
(vds press, MV-Ausgabe)
Dieses Minimalprogramm blieb nicht ohne Spott der „Anarchos“. Die Asten der Münchner Hochschulen brachten den Antrag für ein „Verbandslied des VDS“ ein:
„Rote Minimalhymne“
Es ist zu singen nach der Melodie des Liedes „Dem Morgenrot entgegen“
Dem VAU-DE ES entgegen
ihr roten Garden all!
über Moppen ohne Zahl
Herbei, Herbei und nehmt sie mit!
Die Druckmaschine sie will mit.
Wir sind die rote Garde
und woll`n den Apparat
Wir funktionalisieren
den ganzen Apparat
und mit den Moppen gründen wir
das Proletariat
Die Proletariat e.V.
Bleibt unser exclusiver Bau
Wir sind die….
Wir instrumentalisieren
die Instrumente all
Wir funktionalisieren
die Funktionen all.
Die Funktion instrumentalisiert
Das Instrument, das funktioniert.
Wir sind die….“
Machtkampf unter den linken Fraktionen
Dieser Machtkampf unter den linken Fraktionen wurde auf die außerordentliche Mitgliederversammlung vom 28. – 30. Mai 1970 in der Mensa der Münchner Technischen Universität vertagt.
Der immer noch amtierende „Notvorstand“ beschrieb in einem Bericht vor der a.o. MV das politische Spektrum der in München anzutreffenden Gruppen wie folgt:
„Es werden einmal Vertreter der der DKP nahestehenden Assoziation Marxistischer (Studenten), kurz Spartakus genannt, sein, eine argumentatorisch sehr geschlossene und taktisch äußerst diszipliniert vorgehende Gruppe. Stimmenmäßig kann sie sich allerdings nur auf die Pädagogische Hochschule Wuppertal und teilweise auf die Universität Bonn stützen, in der Diskussion wird sie aber, verstärkt durch Minderheitendelegationen aus Bochum, Köln und München eine starke Rolle spielen.
Einen größeren allerdings heterogenen Stimmblock stellen die Allgemeinen Studentenausschüsse, die vom Sozialdemokratischen Hochschulbind (SHB) getragen werden: die Universitäten Göttingen, Gießen, Marburg, Frankfurt, Bonn, Würzburg, die TU Hannover und der größte Teil der niedersächsischen Hochschulen.
Die anderen Gruppen, die sich zu einer Fraktion zusammenfinden werden, werden zwar den größten Anteil der Stimmen auf sich vereinigen, sind aber gleichzeitig politisch am uneinheitlichsten. Es sind Gruppen des ehemaligen sds, so der AStA der Universität München, zusammengeschlossen mit Basisgruppen, vertreten durch die TH München und die Universität Hamburg, sowie mit „Marxisten-Leninisten“ (ML) aus Bochum, teilweise Tübingen und Ludwigsburg.
Der Spartakus wird trotz seiner geringen Stimmrepräsentanz den Anspruch erheben, den vds auf ein verbindliches politisches Programm festzulegen, und zwar soll ihm die Rolle einer „demokratischen Selbsthilfeorganisation“ zukommen, die mit sozialistischen Gegenkonzepten die Bevölkerung mobilisiert. Diese Funktionsbestimmung des vds leitet sich ab aus einer gesellschaftlichen Analyse, die sich von dem Hineinwirken in die Institutionen eine grundlegende Veränderung dieser Institutionen erhofft….
Indem der Spartakus davon ausgeht, daß das gesellschaftliche Kräfteverhältnis durch Massenaktionen entscheidend verändert werden kann, muß es sein Ziel sein, die Aktionseinheit aller progressiven Kräfte herzustellen. Bei dieser Organisierung einer Gegenmacht soll dem vds als Dachverband aller Studierenden die Aufgabe zufallen, Presse- und Aufklärungskampagnen zu initiieren und dafür Agitationsmuster zu liefern, die exakt nach den jeweiligen Zielgruppen ausgearbeitet sind. Der ganze Katalog von Forderungen, die im Laufe der Studentenbewegung aufgetaucht waren, soll wieder in die gesellschaftliche Diskussion hineingetragen werden. Der Spartakus fordert: eine Kampagne gegen den Bildungsnotstand, eine Woche des numerus clausus, ein Leussink-Tribunal, eine Solidaritätsbewegung gegen die US-Aggression in Vietnam und eine Springer Kampagne.
Ähnlich wie der Spartakus will auch der SHB den vds auf ein politisches Konzept, allerdings mit begrenzterer Programmatik, ausrichten. Ebenso wie der Spartakus versteht er den vds als eine Art „Pendantinstitution“ zu den vorhandenen Herrschaftsapparaten, ohne ihn jedoch zu einer Parteiorganisation machen zu wollen. Die Arbeit des vds soll sich auf den Ausbildungssektor beschränken, hier wo die Anpassung von Wissenschaft an die Interessen der Großindustrie ihren bisherigen Höhepunkt in den 14 Leussink-Thesen (Siehe dazu „Thesen zum Hochschulrahmengesetz, Schriftenreihe Hochschule 2, Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft) gefunden hat, sei es die zentrale Aufgabe des vds, eine Antiformierungskampagne durchzuführen.
Der SHB sieht jedoch, daß ein Kampf, der isoliert an der Hochschule geführt wird, zum Scheitern verurteilt sein muß. Ziel einer jeden Studentenpolitik müsse es deswegen sein, studentische Interessen und Forderungen bewußt in einen gesamtgesellschaftlichen Rahmen zu stellen, d.h. für den SHB immer bloß als Teil einer antikapitalistischen Gesellschaftspolitik zu begreifen. Der Zusammenhang zwischen studentischen Interessen und den Interessen der Arbeiterklasse ergibt sich für den SHB daraus, daß durch die technokratische Ausbildung zum Fachidioten die Studierenden mehr und mehr zu „akademischen Fließbandarbeitern“ im Produktionsprozeß werden. Ihre Stellung zu den Produktionsmitteln ähnelt somit der des Proletariats. Als eine Art „Vorgewerkschaft“ für den späteren lohnabhängigen Status der Studierenden soll als Minimalperspektive für die Arbeit an der Hochschule der „Abbau von elitärem Standesdenken, sowie der Abbau von antigewerkschaftlichen Verhaltensweisen“ verwirklicht werden. Als Optimum wird eine „gewerkschaftliche Orientierung“ angestrebt.
Während der Spartakus und er SHB den vds auf ein politisches Programm ausrichten wollen, wird die dritte Gruppierung wieder für ein Minimalprogramm eintreten, in dem dem vds die Möglichkeit abgesprochen wird, eine eigene Politik von ober herab zu initiieren. Statt der von SHB und Spartakus beschworenen Initiativfunktion wird von dieser Seite die Instrumentalisierung des vds gefordert. D.h. konkret: 1. Der vds stellt den einzelnen Gruppen seinen technischen Apparat, insbesondere die Druckmaschine, zur Verfügung. 2. Er nimmt die Funktion einer Informations- und Koordinationszentrale wahr, um die analytische Arbeit der lokal arbeitenden Gruppen zu intensivieren und ihre Isolation zu überwinden. 3. Die Sozialaufgaben und die Vertretung der Interessen der ausländischen Kommilitonen werden weiterhin vom vds wahrgenommen.
Das Minimalprogramm ist der zaghafte Ausdruck der Selbstkritik gerade von Seiten jener Gruppierungen, die den vds noch genau vor einem Jahr zum „sozialistischen Kampfverband“ machen wollten und dann, als sich dieses Ziel nicht verwirklichen ließ, im November vorigen Jahres die Liquidation des vds unterstützten. Über das Minimalprogramm hinaus kann sich diese Fraktion aufgrund ihrer Zersplitterung aber nicht darüber einigen, wie die sozialistischen Gruppen vom vds unterstützt werden könnten. Insofern ist das Minimalprogramm der größte gemeinsame Nenner.“ (Bericht des VDS-Vorstandes, Privates Archiv)
In einer vom SHB verbreiteten „Plattform“ hieß es u.a.:
„Die derzeitigen Ansätze der Modernisierung von Schule, Berufsbild und Hochschule sind umfassender Ausdruck der zunehmenden Bedeutung von Wissenschaft und Ausbildung im kapitalistischen Reproduktionsprozeß. Um eine beschleunigte Profitsteigerung , die ökonomische und politische Machtkonzentration und Expansionspolitik im Interesse der Monopole weiter vorantreiben zu können, sollen Wissenschaft und Ausbildung im vollen Umfang der staatsmonopolistischen Programmierung unterworfen werden. So mußte die Wissenschaftspolitik der sozialdemokratisch-liberalen Bundesregierung, insbesondere das Hochschulreformkonzept Bundesminister Leussinks, endgültig die Illusion derjenigen zerstören, die den Regierungswechsel vom Herbst 1969 für einen Machtwechsel gehalten und sich eine demokratische Reform des Bildungswesens von oben erhofft haben“. (Privates Archiv)
Gegen diesen „Formierungsprozess“ wollte der SHB (unterstützt von der kleinen aber aktiven Gruppe der Spartakisten) eine möglichst breite Abwehrfront einer Mehrheit der Studenten aufbauen: „Kernaufgabe des vds ist es daher, den politischen Kampf gegen die Formierung des Wissenschafts- und Bildungssektors technisch und organisatorische zu fördern, zu koordinieren und öffentlich zur artikulieren.“ (Die Welt v. 1.6.1970)
Der konkrete Aufgabenkatalog lautete wie folgt:
- Informations-, Koordinations- und Initiativfunktion
- Materielle und politische Unterstützungsfunktion
- Öffentlichkeitsfunktion
- Soziale Schutzfunktion
Die Kämpfe zwischen der Mehrheit der Fraktionen des ehemaligen SDS („Rote Zellen“, marxistisch-leninistische Gruppen, „Anarchosyndikalisten“, Basisgruppen) und der Minderheit von SHB/Spartakus wurden zunächst über die Debatte um die Aufnahme von 15 Hochschulen, an vorderster Stelle um die Uni Bonn (mit einem SHB/Spartakus-AStA) ausgetragen. Als neue Mitglieder hätten diese eher den SHB-Einfluss gestärkt. Der Streit eskalierte so weit, dass die Gruppierungen abwechselnd Auszug drohten. Was beide Flügel im Saal hielt, war das Kalkül, dass die Versammlung auch nach einem Auszug eines Teils der Delegierten noch beschlussfähig gewesen wäre und damit den Verband hätte übernehmen können. Die Versammlung vertagte sich schließlich um 20 Stunden. Man „mauschelte“ außerhalb des Plenums und man suchte nach Verhandlungs-Paketen, andere spielten währenddessen Fußball oder klopften Skat. Am Ende waren 59 Hochschulen vertreten. Letztlich war es vor allem ein Kampf darum, wofür das Geld des Verbandes eingesetzt werden sollte, für einen zentralen Interessenverband für hochschul- und sozialpolitische Belange der Studenten oder für die Unterstützung dezentraler, allenfalls regionaler Zentren, der Apparat sollte bestenfalls eine „Servicefunktion“ für „arbeitende Gruppen“ haben.
Schließlich und nicht ohne eine offene Drohung des amtierenden „Notvorstandes“, bei einer weiteren Vertagung, die Liquidation des Verbandes beantragen zu wollen, schlossen SHB/Spartakus und Minimalisten auch personalpolitisch einen Kompromiss: 2 : 2 im Vorstand, 10 : 10 im Zentralrat und 4 : 4 bei den Projektbereichen. Der Vorstand wurde mit dem ohne Gegenstimmen gewählten Zentralratsmitglied Steffen Lehndorff (aus Köln, SHB), mit Bernhard von Mutius (aus Marburg, gleichfalls vom SHB, später beide Mitglieder des MSB Spartakus), Gottfried Mergner (aus München, mit Unterstützung der „Roten Zellen“ (ROTZ)) (Gottfried Mergner – Die Gruppe Internationaler Kommunisten Hollands (1971)) , Werner Büning (Hamburg, Vertreter linkskommunistischer Gruppierungen aus denen später der Kommunistische Bund (KB/Nord) entstand) besetzt.
„Gewerkschaftlichen Orientierung“
Die politische Spaltung, zwischen den Vertretern, die den VDS in Richtung eines gewerkschaftsähnlichen zentralen Interessenverbands der Studenten und denjenigen, die regionale Zentren als Ebene der Diskussion über die Perspektiven der Hochschulpolitik aufbauen und die ihre politische Arbeit von den Betrieben her orientieren wollten, (Werner Büning, Gottfried Mergner, Wulf Radtke, Erklärung zur Mitgliederversammlung, privates Archiv) konnte auch innerhalb der neu gewählten Vorstandsmitglieder nicht überbrückt werden.
Vorstandsmitglied Mergner schrieb, „der vds hat z.Z. die einzige Restmöglichkeit, die Gruppenarbeit in den einzelnen Regionen und Städten zu unterstützen“. Daraus folge „notwendigerweise eine konsequente Dezentralisierung der politischen Entscheidung und einer gerade noch die Kontinuität wahrende Funktionsfähigkeit der Zentrale“.
Um „die Zeit im vds-Vorstand doch irgendwie politisch auszufüllen“ erstellte Mergner zusammen mit Wulf Radtke eine über 300-seitige Dokumentation über die damals relevanten Arbeits- und Theorieansätze einzelner Gruppen und ließ diese vom VDS drucken. (Gottfried Mergner, Wulf Radtke, Die vds Maschine, Kritischer Bericht über die Behandlung der Hochschule durch die verschiedenen sozialistischen Gruppierungen der BRD und Westberlins, Verlag Deutscher Studentenschaften, Ende August 1970)
Die antirevisionistischen Vorstandsmitglieder Büning und Mergner verließen im Herbst 1970 den VDS-Vorstand, machten aber den Gruppierungen um den SHB und um den Spartakus den VDS „nicht streitig“, (Erklärung zur Mitgliederversammlung, a.a.O.) allerdings nicht ohne die interne Zusagen für finanzielle Unterstützung von Aktivitäten vor Ort.
Für alle Basisgruppen, die es ablehnten einen Dachverband über sich zu haben, und für alle K-Gruppen, die den VDS für eine gesamtgesellschaftliche „kommunistische Strategie“ nutzen wollten, war der Verband, der sich nicht den Forderungen einer einzelnen dieser Gruppen unterwerfen konnte, wertlos geworden. Für den Spartakus, der für eine Einheitslinie zwischen Intelligenz und Arbeiterschaft kämpfte, mit dem Ziel einer „demokratischen Massenbewegung“ im Kampf gegen die „Monopolherrschaft“ oder auch für den SHB, der für eine „gewerkschaftliche Orientierung“ (nicht Organisierung) der studentischen Organe auf „antimonopolistischer Basis“ gegen die staatliche „Formierung des Ausbildungssektors“ eintrat, hatte die „Koordinierungs-, Informations- und Initiativfunktion“ eines zentralen Apparates einen Sinn.
Auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung des VDS vom 6. bis 8. November 1970 in Marburg blieben die Vorstandsmitglieder Steffen Lehndorff und Bernhard von Mutius im Amt; neu in den Vorstand wurden Gerd Köhler (Göttingen, SHB) und Dirk Krüger (Wuppertal, Spartakus) gewählt.
Der Kurs der „gewerkschaftlichen Orientierung“ hatte sich im VDS durchgesetzt. Darunter wurde u.a. verstanden:
- Entwicklung der studentischen Organe im Sinne umfassender Interessenvertretung…
- Propagierung und Herstellung gewerkschaftlichen Bewusstseins…im Hochschulbereich…
- Die Entwicklung des VDS im Sinne einer umfassenden Interessenvertretung…
(vds-press Nr. 9 -14. November 1970, S. 3)
Die „Arbeitsgemeinschaft Deutscher Studentenschaften“ (ADS) kam nie so recht auf die Beine; Anfang Juni 1970 musste eine Mitgliederversammlung schon mit der Eröffnung wegen Beschlussunfähigkeit wieder abgebrochen werden. Der Konkurrenzverband löste sich anfangs 1971 vollends auf.
Auf der 23. Ordentlichen Mitgliederversammlung des VDS vom 18. – 21. März 1971 in Bonn wurden Matthias Albrecht (SHB, Bonn), Heiner Heseler (SHB, Frankfurt), Dirk Krüger (Spartakus, Wuppertal) Ludwig Würfl (SHB, München) in den Vorstand gewählt. In Bonn waren wieder 73 Hochschulen auf der Mitgliederliste, die 310.000 von damals 340.000 Studierende vertraten. Die eher rechte „Deutsche Studentenunion“ (DSU) stellte wieder Anträge, z.B. für eine familienunabhängige darlehensfreie kostendeckende Ausbildungsförderung.
Der Verband Deutscher Studentenschaften – ab 1975, nach teilweiser gesetzlicher Abschaffung der Studentenschaften auf Länderebene als rechtlich eigenständige Körperschaft, in die „Vereinigten Deutschen Studentenschaften „ umbenannt – brach Anfang 1990 auseinander. Die verschiedenen “Strömungen“ konnten sich weder über die künftige Arbeit des Verbandes noch über die politische Bewertung chinesischen Tian’anmen-Massakers im Sommer 1989 einigen. Nach dem Auszug von Juso-Hochschulgruppen und Basisgruppen waren die „Vereinigten Deutschen Studentenschaften“ faktisch tot; eine offizielle Auflösung erfolgte mangels Beschlussfähigkeit nie.
Seit 1993 gibt es den „freier zusammenschluss von studentinnenschaften“ (fzs).
Auch der SDS gründete sich 2007 wieder, als die „Linke.SDS“ als Studierendenverband der Partei DIE LINKE.
Rückzug aus der Hochschulverbandspolitik
Nach meiner Zeit im „Notvorstand“ zog ich mich aus der Hochschulverbandspolitik, bis auf die Teilnahme an einigen Sitzungen – zu denen ich gelegentlich hinzugezogen wurde – weitgehend zurück, blieb aber journalistischer Beobachter der Hochschulpolitik vor allem für die Sendungen „Kulturelles Wort“ und „Kritisches Tagebuch“ im III. (Hörfunk-)Programm des Westdeutschen Rundfunks (WDR), womit ich einen Teil meines Lebensunterhalts während der Arbeit an meiner Promotion bestritt.
Damals war es unter der Redaktion von Peter Laudan möglich, dass im WDR-Hörfunk sogar eine wöchentliche und halbstündige Sendung „Studentische Politik“ ausgestrahlt wurde, die von Studierenden gemacht und zu deren zehnköpfiger Redaktionsgruppe ich gehörte.
Vermutlich aufgrund meiner Mitgliedschaft im Vorstand des VDS bin ich am 17. November 1970 in einen „Sachverständigenbeirat für Fragen der Errichtung, Entwicklung und Koordinierung von Hochschuleinrichtungen auf Essener Gebiet“ berufen worden. Dort traf ich mit einem der Väter der Gesamtschulidee, dem Berliner Schulsenator Carl-Heinz Evers, dem Soziologen Helmut Schelsky, dem späteren Co-Präsidenten des Club of Rome, Ernst Ulrich von Weizsäcker, dem Schulentwicklungsforscher Hans-Günter Rolff, dem damaligen Rektor der Universität Bielefeld Karl-Peter Grotemeyer und anderen Bildungsexperten zusammen. Der Beirat hat unter fünf im Umfeld Essens in Frage kommenden Standorten das Gelände „City-Nord“ als Ort für die geplante Integrierte Gesamthochschule Essen vorgeschlagen. Noch als Doktorand hat mich im April 1971 der Rat der Stadt Essen in eine „Hochschulberatergruppe“ berufen, Carl-Heinz Evers, Wolfgang Brüggemann (MdL), der Planer Wolfgang Thomas, Peter Neumann-Mahlkau und Ernst Ulrich von Weizsäcker sollten die Stadt bis zur Errichtung der Gesamthochschule beraten.
Im August 1972 wurde ich vom Land NRW – nicht ohne dass ich vorher vom damaligen Staatssekretär im NRW-Wissenschaftsministerium, Herbert Schnoor, eingehend auf meine Verfassungstreue befragt worden wäre – als Gründungssenator dieser Hochschule ernannt. Dieses Amt war sicherlich ursächlich dafür, dass ich nach meiner Promotion im Staatsrecht an der Uni Köln 1974 in Essen eine Assistentenstelle im Fachbereich Philosophie beim Naturphilosophen Klaus-Michael Meyer-Abich bekommen habe. Ich habe mitgeholfen die „Arbeitsgruppe Umwelt, Gesellschaft und Energie“ (AUGE) aufzubauen, die federführend für eine ziemlich große angelegte BMFT-Studie „Energieeinsparung als Energiequelle – Wirtschaftspolitische Möglichkeiten und alternative Technologien“ war.
So ganz hatte mich die Hochschule danach immer noch nicht losgelassen, 1976 wechselte ich in den Fachbereich Sozialwissenschaften der Uni Bielefeld und wurde wissenschaftlicher Mitarbeiter an der vom Bundesminister für Bildung und Wissenschaft geförderten Studie „Arbeits- und Lebensbedingungen von Arbeitnehmern als Gegenstand der Hochschulforschung“. Ein Projekt unter der Leitung des 2019 verstorbenen Siegfried Katterle, Professor für Wirtschaftspolitik, und dem Industriesoziologen Karl Krahn das untersuchen sollte, wie Arbeitnehmerinteressen bei der Planung und Durchführung von Forschungsvorhaben und bei der Umsetzung von Forschungsergebnissen besser berücksichtigt werden könnten. Dort traf ich wieder mit einem alten Freund aus Kölner SHB-Zeiten, Gerhard Bosch, zusammen.
So schließen sich manchmal die Kreise.
Eine Nachbetrachtung
Aus heutiger Sicht sind die selbstzerstörerischen Entwicklungen der 68er-Bewegung, insbesondere auch des SDS, die Aufsplitterung der Studentenbewegung und auch der erbitterte Kampf untereinander sowie die Feindseligkeiten zwischen den verschiedenen, sich immer weiter aufspaltenden Fraktionen, Gruppierungen und Sekten kaum noch nachvollziehbar und es ist schwierig zu begreifen, zu welchen – im Nachhinein lässt sich das nicht anders sagen – politischen Irrwegen und ideologischen Abwegen es kommen konnte.
Eine den Kriterien der Geschichtswissenschaft genügende Analyse für diesen Niedergang kann ich als Akteur während eines begrenzten Zeitausschnitts nicht anbieten, aber ich will aus meiner (subjektiven) Sicht eine Erklärung versuchen:
Entgegen der heutzutage weit verbreiteten Meinung war die „außerparlamentarische Opposition“ (APO) – oder was man unter der Chiffre die „68er“ zusammenfasst – von Anfang an keine homogene Bewegung, nicht einmal die Studentenbewegung lässt sich auf einen einheitlichen politischen Nenner bringen. (Siehe dazu ausführlicher Wolfgang Lieb, 50 Jahre danach, Teil 4). Es gab innerparteiliche Oppositionsgruppen, wie den SHB oder den LSD, es gab eine vorparlamentarische Opposition, wie den SDS, die Evangelische Studentengemeinde oder die Republikanischen Clubs, es gab Kampagnen, wie etwa die Kampagne gegen die Notstandsgesetze oder die „Kampagne für Demokratie und Abrüstung“, es gab Parteien wie die „Deutsche Friedensunion“ (DFU) und ab 1968 die „Deutsche Kommunistische Partei“ (DKP), es gab Vereinigungen wie den „Sozialistischen Bund“ oder der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“, es gab zahlreiche Einzelpersönlichkeiten, die Ideengeber der außerparlamentarischen Opposition waren, von Wolfgang Abendroth, Werner Hofmann, über Ernst Bloch, Heinrich Böll oder die Frankfurter Sozialphilosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno oder Herbert Marcuse und nicht zuletzt Jürgen Habermas und viele andere mehr. In Berlin war vor allem auch Helmut Gollwitzer, der am 3. Januar 1980 auf dem Dahlemer Friedhof die Traueransprache bei der Beerdigung Rudi Dutschkes gehalten hat, eine moralische Stütze. Er war einer der tapfersten und schlauesten Mentoren, der sich – wie auch seine Frau – auf der persönlichen Ebene um Gretchen Dutschke und Christa Ohnesorg gekümmert hat.
So vielfältig die gesellschaftstheoretischen oder weltanschaulichen Positionen auch gewesen sein mögen und so sehr sich vor allem die „Führungspersonen“ der studentischen Revolte über Theorien gestritten und auch gegenseitig politisch bekämpft haben mögen, zwischen 1966 bis 1968 bestand Einheitlichkeit im Widerspruch oder in der Kritik gegenüber allem, was zum sog. „Establishment“ oder zu den „Autoritäten“ gerechnet wurde und ob aus marxistischer, (christlich-) existenzialistischer, linksliberaler, sozialpsychologischer (u.a. Alexander Mitscherlich, Erich Fromm, Wilhelm Reich) oder ökologischer (Club of Rome) Perspektive, man nahm eine kritische Haltung gegenüber „dem Kapitalismus“ ein.
Diese Anti-Haltung führten anfänglich spontan zu Widerstand gegen die autoritäre Ordinarienuniversität, danach gegen die „Formierung“ der Gesellschaft, gegen die erste Große Koalition, gegen die Notstandsgesetze, gegen den Krieg der USA(-„Imperialisten“) in Vietnam etc.. Mehr und mehr, bis zu ihrem Höhepunkt während der Osterunruhen 1968 nach dem Anschlag auf Rudi Dutschke, kam es zu einer kooperativen, oft sogar planmäßigen „Strategie der direkten Aktion“ (Michael Vester).
Diese Bewegung brach aus meiner Sicht an drei markanten Wendepunkten auseinander.
Da war vor allem die immer tiefer werdende Spaltung über die Frage zwischen einer gewaltlosen Umsetzung von Reformen – also dem „Marsch durch die Institutionen -, und zum anderen der Anwendung legitimer „Gewalt gegen Sachen“ (etwa bei den Springerblockaden nach dem Attentat auf Dutschke oder bei Instituts- oder Rektoratsbesetzungen) und schließlich sogar dem Einsatz von Gewalt unter Inkaufnahme, dass auch Menschen zu Schaden kommen konnten – angefangen mit den Kaufhausbränden in Frankfurt am 2./3. April 1968 (gelegt durch die Vorläufer der „Roten Armee Fraktion“ (RAF)) bis hin zu einer „Stadtguerilla“ und dem individuellen „bewaffneten Widerstand“.
Heftige Auseinandersetzungen vor allem auch mit dem (der im September 1968 gegründeten DKP nahestehenden) „Spartakus“ gab es zum Zweiten um den Militäreinsatz gegen den „Prager Frühling“ durch Truppen des Warschauer Pakts im August 1968. (Wolfgang Kraushaar, Die 68er-Bewegung, Stuttgart 2018, Band 3, 1968, S. 399)
Für mich und für viele andere war eine dritte Trennlinie die sog. „Schlacht am Tegeler Weg“ (Wolfgang Kraushaar, a.a.O. S. 500ff.) am 4. November 1968 – anlässlich eines Ehrengerichtsverfahrens gegen den damaligen APO-Anwalt Horst Mahler. Ging anfangs – etwa bei den Demonstrationen am 2. Juni 1967 bei der Erschießung Benno Ohnesorgs – Gewalt gegen Sachen und Personen vom Staatsapparat und der Polizei aus, so wurden bei der Straßenschlacht vor dem Berliner Landgericht umgekehrt im Steinhagel der Demonstranten über hundert Polizisten verletzt. Die „militante“ Anwendung von Gewalt gegen die Staatsgewalt wurde von den Demonstranten als „revolutionärer Akt“ gefeiert.
Einem Großteil der 68er sprach Helmut Gollwitzer mit dem Satz aus dem Herzen: „Ein Sozialist, für den Gewalt kein Problem sei, ist für mich kein Sozialist“. (Wolfgang Kraushaar, Die 68er-Bewegung, Stuttgart 2018, Band 3, 1968, S. 500 ff. (502))
Statt der bisherigen Einheit in der „direkten Aktion“, spalteten sich einzelne Gruppen zu „subversiven Aktionen“ ab, eine randständige kleine Minderheit ging sogar in den Untergrund. „Gegenöffentlichkeit“ wurde in Teilen der Bewegung zu symbolischer oder ganz handfester „Gegengewalt“. Sowohl Gruppierungen innerhalb des „revolutionären“ bzw. „anti-revisionistischen“ Lagers als auch Vereinigungen mit „reformerischer bzw. „revisionistischer“ Tendenz brachen auseinander oder stellten sich oft sogar gegeneinander.
Mit Beendigung der Großen Koalition nach den Bundestagswahlen 1969 und aufgrund der heftigen Attacken der politischen Rechten, vor allem auch durch Franz Josef Strauß und seiner CSU gegen die neue Ostpolitik der neuen sozial-liberalen Koalition, einhergehend mit dem integrativen Wirken des neu gewählten Bundespräsidenten Gustav Heinemann und mit dem Versprechen von Kanzler Willy Brandt „mehr Demokratie“ wagen zu wollen, schloss ein großer Teil der außerparlamentarischen Oppositionsbewegung „Frieden“ mit dem „System“ oder machte sich auf den „langen Marsch durch die Institutionen“, allerdings meist nicht durch sie hindurch und gegen sie – wie Dutschke das propagierte (Wolfgang Kraushaar, Die 68er Bewegung, Band 4, 1969, Stuttgart 2018, S. 463) – sondern oftmals in diese Institutionen hinein. Die Jungsozialisten wuchsen in kurzer Zeit auf 300.000 Mitglieder und auch die Jungdemokraten und die SPD erhielten einen nie gekannten Zulauf. Von den radikalen linken Kritikern wurde diese Abkehr vom revolutionären Umbruch als „kapitalistische Integration“ der Studentenopposition geschmäht. (SDS info 28, v. 4. Febr.1970, hrsg. vom Bundesvorstand des SDS, S. 2)
Enttäuschung und Resignation aufgrund des Scheiterns im praktischen „Kampf“ machten sich breit. Weder konnten die Notstandsgesetze, noch die teils repressiven (Zwangsexmatrikulation, Relegations- bzw. Ordnungsrecht), teils technokratischen (Prüfungsdruck, Regelstudienzeit) Hochschulreformen aufgehalten werden. Die Hoffnungen, im Verlauf der wilden „Septemberstreiks“ 1969 ein Bündnis mit dem „Proletariat“ eingehen zu können, wurden enttäuscht. Die Arbeiterschaft zeigte sich weitgehend immun gegen die revolutionären Parolen und Attitüden der selbsternannten Avantgarde. Vielerorts dämmerte die Einsicht in die Beschränktheit einer studentischen „Revolte“. (Basispresse 1/270, Bundesvorstand des Liberalen Studentenbunds, S. 4) Das Reiz-Reaktions-Schema der Radikalisierung, nämlich kleine Provokation der Rebellen als Auslöser einer Überreaktion der Herrschenden und dabei die „Entlarvung“ des autoritären Establishments, (Bode Zeuner, Kririk + Hoffnung, Berlin 2019, S. 46) nutzte sich allmählich ab. Auch die aggressivsten „Provokationen“ wie etwa Institutsbesetzungen oder Psychoterror, sogar Handgreiflichkeiten gegenüber (meist sogar eher linken) Professoren (den „Scheißliberalen“) schreckten viele der früheren Aktivisten mehr und mehr ab. Immer seltener konnten die (studentischen) „Massen“ mobilisiert werden. Den wie auch immer gearteten (theoriebasierten) Revolutionserwartungen folgte vielfach die bittere Konfrontation mit der Realität. Auf der vergeblichen Suche nach dem „revolutionären Subjekt“ verflog die Euphorie, die beim Aufbruch der Bewegung aufkam. Es kam zu „Frustrationen aufgrund der Einsicht, daß unsere Illusionen sich als papierene Phrasen entpuppten und unsere stürmischen Offensiven in klägliche Niederlagen ausliefen“. (SDS info 28, v. 4. Febr. 1970, Zur Geschichte des SDS, S. 9ff.(12)) Desillusionierung und Selbstkritik breiteten sich aus; das außerparlamentarische politische Engagement der jungen Generation verlor insgesamt an Dynamik.
War es am Beginn der Studentenbewegung die zunehmende Hoffnungslosigkeit über die Reformfähigkeit des „etablierten“ politischen Systems, die die Aktivisten radikalisierte, (Bodo Zeuner, Kritik + Hoffnung, Berlin 2019, S. 45) so war es nunmehr die Erfahrung des Scheiterns, die zu einer Extremisierung der politischen Ideologien führte. Als es darum ging die Anti-Einstellungen zu einer positiven Strategie zu wenden, entwickelten sich die Analysen und Theorien über die gesellschaftlichen Entwicklungen und die Strategien und Ziele des politischen Kampfes mehr und mehr auseinander. Die Bewegung beschäftigte sich mit sich selbst. Man schloss sich gegenseitig aus. Es entwickelte sich ein „großer Basar“ (Dany Cohn-Bendit) von Ideologien, vom Marxismus, über den Leninismus, den Trotzkismus, den Maoismus, verschiedene Strömungen des Anarchismus, des Syndikalismus, bis hin zur Anhängerschaft zu den Parteiführern Enver Hodscha in Albanien, oder gar zu Pol Pot in Kambodscha oder Kim Il Sung in Nordkorea oder dem Castrismus bzw. den Ideen der Befreiungsbewegungen der Dritten Welt folgend mit der Ikone Ernesto Che Guevara. Einige Aktivisten, wie der frühere Kommunarde Dieter Kunzelmann, gingen sogar in Ausbildungslager der Al Fatah nach Palästina, andere erklärten sich zur „Stadtguerilla“ oder zu „Tupamaros“ und die Gruppe um Andreas Baader, Gudrun Ensslin oder Ulrike Meinhof tauchten ab in den terroristischen Untergrund und endete mit der „bleiernen Zeit“. (So der Titel des Filmes von Margarethe von Trotta)
Ähnliche Formen des Linksradikalismus gab es auch in Frankreich etwa mit der UJC-ML, der Union des Jeunesses Comunistes oder mit der maoistischen Gauche Prolétarienne (GP) oder in Italien mit der Unione di Marxisti-Lenininiste, Sinistra Proletaria oder mit Lotta Continua. In Deutschland machte sich jedoch ein „eigentümlicher deutscher Theorie-Fanatismus“ breit. (Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt, 2011, S. 190) Jede Erscheinung musste aus irgendeiner Theorie „abgeleitet“ werden und es kam zum Kampf unterschiedlichster „Linien“ und zu nicht enden wollenden „Organisationsdebatten“. Ratlosigkeit wurde mit „Schulung“ und auswendig gelernten Zitaten überdeckt. Wieder andere wollten nicht mehr „Schreibtischprodukte“ studieren, sondern von Genossen lernen, die die proletarische Revolution praktiziert haben, das reichte bis zu Anhängern Stalins. Man „borgte sich Realitäten“. (Oskar Negt)
Man stritt sich über „die Rolle der Intelligenz im Klassenkampf“ (Ernest Mandel, Referat v. 29.1.70 in Bonn, in: basispresse 3-4/70, hrsg. Bundesvorstand des Liberalen Studentenbundes Deutschlands, S. 18ff.) Fragen wie etwa, ob sich die studentischen Protestformen auf die Betriebe übertragen lassen, ob Studenten nur als „Kleinbürger“ ruhig gestellt werden müssten oder ob die „Intelligenz“ eine Hilfsfunktion bei der Organisierung des Proletariats hat oder ob Studenten eine „Aktionseinheit mit allen fortschrittlichen Kräften“ suchen sollten, spalteten die Bewegung in kaum noch überschaubare Fraktionen auf. Sollte man sich als „revolutionäre Kader“, als betriebsinterne Zelle begreifen oder eine (parteiförmige oder syndikalistische) Massenorganisation anstreben oder eine breite Schichten ansprechende „antimonopolistische“ Bündnispolitik betreiben?
Einige Gruppierungen wollten Schluss machen mit den studentischen Organisationsstrukturen an den Hochschulen, sei es mit den örtlichen ASten oder mit dem Dachverband VDS, der studentische Protest sei (anarchistisch) kleinbürgerlich, man müsse vielmehr zum „Proletariat“ in die Betriebe gehen. Andere, etwa die Anhänger Herbert Marcuses, sahen in den gesellschaftlichen „Randgruppen“ das revolutionäre Potential und agitierten etwa straffällig gewordene Jugendliche (Siehe etwa Ulrike Meinhofs Film „Bambule“). Man stritt sich darüber, ob eine revolutionäre Partei zu gründen sei oder ob der alte Agitationsstil der Studentenbewegung beibehalten werden solle. Wieder andere plädierten für eine „Einheitsfront“ mit möglichst vielen gesellschaftlichen Gruppen und für eine „gewerkschaftliche Orientierung“ der Studenten.
Je mehr die Bewegung abflaute, desto mehr wurde „Radikalität zur obersten und einzigen revolutionären Tugend“ (SDS info 28 a.a.O. S. 13), desto mehr wurde der jeweils eigene Diskussionsstand aufschneiderisch verabsolutiert und desto aufgeblasener wurde die Selbstinszenierung selbsternannter Avantgardisten. Es kam zu einem Wettlauf, wer den „Kampf“ am „konsequentesten“ führte.
Je perspektivloser die überregionalen Aktionen gerieten und je deutlicher die „Ungleichzeitigkeit“ der Politisierung zwischen den Regionen und Hochschulen wurde, desto stärker flüchteten die Aktivisten in regionale oder lokale „informelle Kader“, „Rote Zellen“ oder „Basis“-Gruppen. Neben die politische Desorganisation traten regionale „Desintegrationserscheinungen“, in jeder größeren Stadt gründeten sich Basis-, universitäre Fach-, Betriebsprojekt-, Stadtteilgruppen, die ihre „Klassenanalysen“, „revolutionären Strategien“ oder „Massenlinien“ in einer unüberschaubaren Vielzahl von Druckschriften verbreiteten. Z.B. „Apo press“, „Rote Korrespondenz“, „Berliner Extradienst“ (etwa von den sog. Revisionisten), „Kommunist“, „Roter Pfeil“ „Rotes Blatt“ (etwa von den sog. Antirevisionisten), dazu kamen noch eine Menge Diskussionsorgane, wie etwa „RPK“ („Rote Presse Korrespondenz“), „links“, „Agit 883“, „ZAS“, „SoPo“, „Prokla“ etc. (Vgl. die Zusammenstellung der wichtigsten Publikationen im Jahr 1970 in Gottfried Mergner, Wulf Radtke, Die vds Maschine, Kritischer Bericht über die Behandlung der Hochschule durch die verschiedenen sozialistischen Gruppierungen der BRD und Westberlins, Verlag Deutscher Studentenschaften, Ende August 1970, S. 318ff.)
Die Theoriedebatten wurden von Organisationsdebatten überlagert. Es bildeten sich einzelnen Gruppierungen um kleinteilige Projekte, etwa in Fachgruppen an den Hochschulen (z.B. Rotzök: Rote Zelle Ökonomie, Rotz Arch: Rote Zelle Architektur, ROTZEG: Rote Zelle Germanistik etc.; „Zelle“ als Ausdruck der kleinsten und untersten Organisationsform), in Betriebsgruppen, in Schüler-, Lehrlings- oder Stadtteilinitiativen. Es gab geradezu ein Gründungsfieber von Parteien oder vorparteilichen Organisationen und ein permanentes Aufspalten („Fraktionieren“) bis hin zu Grüppchen mit oft nicht mehr als zwei oder drei Mitgliedern als selbsterwählte Chef-Ideologen. Man stritt sich um die Gründung der „kommunistischsten“ aller „Parteien“ oder stattdessen um die Bildung von „Kadern“ bzw. „Räten“ für den Kampf in den Betrieben. Der Konflikt verlief zwischen der Forderung nach „Selbstorganisation der Massen“ und nach „sozialistischen Massenorganisationen“ (SOMAO), zwischen Betriebsstrategien oder Staatsstrategien.
„Wenn Mao nicht mehr helfen wollte, dann zog man den Lenin, den Stalin, manchmal auch den Marx, aber wegen dessen kleinbürgerlichen Differenziertheit nur im äußersten Notfall, heran“. (Gottfried Mergner, Wulf Radtke, a.a.O. S. 67)
Nach der antiautoritären Phase kam der in der studentischen Revolte latent schon immer vorhandene „informelle Autoritarismus“, (Koenen, a.a.O. S. 192) zum Vorschein. Es gab geradezu einer Gegenbewegung zum Antiautoritarismus hin zu mehr Verbindlichkeit, geradezu einen (teilweise masochistischen) Kult zur Unterordnung unter straffe Organisationsformen, sei es im MSB Spartakus unter der hierarchischen Führung der neu gegründeten Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), sei es unter die einfachen Parolen der Mao-Sprüche von sich immer weiter aufspaltende marxistisch-leninistischen Kadergruppen (ML), sei es unter den Versuch einer Neugründung einer Kommunistischen Partei (KPD), sei es als (maoistische) „KPD/AO“ (KPD/Aufbauorganisation, initiiert von Christian Semler, Jürgen Horlemann; vor allem wegen ihrer kleinen Mitgliederzahl von Gegnern statt AO oft als „A Null“ verballhornt), sei es unter die „Generallinie“ einer „Proletarischen Linken/Parteiinitiative“ (PL/PI, des letzten SDS-Vorstandsmitglieds Udo Knapp), sei es unter die „korrekten“ Direktiven der Neoleninisten in der KPD/ML (Ernst Aust, Willi Dickhut) oder von diversen trotzkistischen Gruppen. Als äußeres Zeichen schnitten sich die Mitglieder einiger „revolutionärer“ Gruppen sogar wieder die Haare. Man sang die Arbeiterlieder und las proletarische Romane der zwanziger Jahre.
Die voluntaristische Überbewertung des jeweiligen politischen („revolutionären“) Potentials mündete in teils fanatischen Avantgardeansprüchen, in politische Hochstapeleien, pathetische Selbstbeschwörungen und Unfehlbarkeitsanmaßungen und dementsprechend erbitterter wurde der Streit zwischen den einzelnen Fraktionierungen nicht nur über verbale Diffamierungen ausgetragen. Die gegenseitige Beschimpfung gingen vom „kleinbürgerlichen Sektierertum“, über „opportunistische Anpasser“ bis „reaktionär“, von „Trotzkist“, „Sozialimperialist“ „Bakunist“, „Anarcho-Spießer“ bis „Haschrebell“ und natürlich immer wieder der Vorwurf „Faschist“ zu sein.
Was blieb…
Der Autor des Buches „Postkapitalismus“, Paul Mason schrieb unlängst: „Die Angehörigen meiner Generation durften noch Ender der 70er Jahre davon ausgehen, dass man Widerstand gegen den Kapitalismus leisten konnte, indem man mit einem großen Hebel einen großen Felsbrocken – die Arbeiterklasse – bewegte. Heute können wir wirksameren Widerstand leisten, indem wir viele kleine Steine zu rollen beginnen und eine Lawine auslösen.“ (Le Monde diplomatique, Mai 2019, S. 3)
Diese beiden Bilder erfassen aus meiner Sicht ziemlich treffend, die damaligen Hoffnungen und den Unterschied zu heute. Das heißt auch, dass man aus den Fehlern und Irrtümern von damals gelernt hat.
„Wir wollen alles – und zwar sofort“, war eine der Parolen. Man hat alles gewollt und hat jedenfalls unmittelbar nichts Konkretes bekommen. No, you can’t always get what you want, sangen die Rolling Stones 1969. Dieses Scheitern nach außen gegen die Realität, kehrte sich in Destruktivität nach innen. Koenen nennt das psychologisierend einen „intellektuellen Selbsthass“. Die Gruppen und Sekten hätten jedoch „bei aller ideologischen Verstiegenheit eine Menge gesellschaftlicher Veränderungsenergie und realitätshaltiger Kritik mittransportiert“. (Koenen, a.a.O. S. 470)
Die Spuren des Widerstands gegen das Bestehende und die Selbstermächtigung für eine Veränderung der Gesellschaft öffentlich zu kämpfen, finden sich später in der Friedens-, Ökologie-, der § 218- oder der AKW-Bewegung und vor allem in der Frauenbewegung und in der Alternativszene wieder.
Wenn man die Reden und die zahllosen Druckschriften von damals nachliest, so findet sich da wenig, was für die heutige politische Debatte und Praxis noch brauchbar wäre. Intelligenz schützte offenbar auch vor keiner Dummheit. (Arno Widmann, Frankfurter Rundschau, v. 19. März 2019, S. 32) Aber der Lese- und Erfahrungshunger und die Streitenergie belegen ein ungeheures Bedürfnis nach theoretischer Welterklärung und politischer Handlungsanweisung sowie nach neuen Formen der Organisation des Politischen und der Kollektivität – mit einem Interesse am Ganzen. Hochschulen wurden erstmals nach dem Krieg zu Stätten linker und fortschrittlicher Impulse. Die Annahme des marxistischen Vokabulars, der Sprachstil der Kritischen Theorie und der Sozialpsychologie waren auch Ausdruck der Abgrenzung, ja sogar des Bruchs mit der Vätergeneration und ihrer Verstrickung mit dem Nationalsozialismus.
Um das Bild Paul Masons nochmals aufzugreifen: An die Stelle abstrakter Revolutions-Phantasien traten viele „kleine Steine“, der „Kampf“ für konkrete Projekte, etwa der „Häuserkampf“, die „Anti-Atomkraft-Bewegung“, der Kampf gegen die „Nachrüstung“, bis hin zum „Kampf gegen das Artensterben“ oder zur heutigen „unteilbar“-Kampagne. Die Studentenbewegung selbst war jedenfalls in Deutschland zwar nie wirklich eine revolutionäre Kraft, aber sie war ein Katalysator für die Veränderung des politischen Bewusstseins in der Gesellschaft. Die APO wurde zur „Mutter der neuen sozialen Bewegungen“. (Bodo Zeuner, a.a.O. S. 52)
Ein Stück weit wurde die Gesellschaft neu erfunden.
So paradox es erscheinen mag, das meiste, was die Bewegung auf der praktischen Ebene bewirkte, „geschah entgegen ihren bewussten Absichten und ihren politischen Ideologemen“. (Koenen, a.a.O. S. 475)
Zu diesen Paradoxien gehört nicht zuletzt, dass bei den Bundestagswahlen 1972 die SPD den größten Erfolg ihrer Geschichte erzielte, obwohl diese Partei seit der ersten Großen Koalition 1966 und auch noch der Regierungsübernahme 1969 von den linken Gruppierungen oft aus „Hassliebe“ aufs heftigste kritisiert wurde. Es gab einen nie mehr wieder erreichten Politisierungsgrad der Gesellschaft mit einer Wahlbeteiligung von über 90 Prozent.
Viele Aktivisten der „sozialistischen“ Gruppen fanden sich in der Politikergeneration der 90er Jahre bis nach der Jahrhundertwende wieder und ein namhafter Teil der K-Grüppler oder sogar von den Frankfurter „Putzgruppe“ tauchten als Gründungsmitglieder der Partei Die Grünen bzw. der GAL in Hamburg wieder auf. So z.B. Joschka Fischer von der Frankfurter Sponti-Szene oder etwa Winfried Kretschmann, Reinhard Bütikofer, Krista Sager, Ralf Fücks (von den Grünen), Ulla Schmidt (von der SPD) vom Kommunistischen Bund Westdeutschlands (KBW) oder Jürgen Trittin und Angelika Beer (von den Grünen) vom Kommunistischen Bund (KB) oder Antja Vollmer von der KPD/AO. Auch Rudi Dutschke wurde bis zu seinem Tod am Heiligabend 1979 beim Gründungsprozess der Partei „Die Grünen“ in Bremen aktiv, „es komme jetzt darauf an, die parlamentarische Seite in die politisch strategischen Überlegungen einzubeziehen“ begründete er diesen Schritt. (Wolfgang Kraushaar, Die 68er-Bewegung, Band 4, 1969, S. 489)
Viele aus der Bewegung wurden „sozialdemokratisiert“, wenn nicht gar verbeamtet oder eroberten Regierungsämter.
Die 68er-Bewegung ist zweifellos ein Teil der linken Geschichte, aber sie ist auch Geschichte und sie hat „sich von selbst erledigt“. (Koenen, a.a.O. S. 20)
Sie war dennoch eine wichtige Sozialisationserfahrung für einen Großteil (auch der weniger politisch Aktiven) dieser Generation und sie hat das Verhalten nachfolgender Generationen beeinflusst und einen tiefgreifenden Wandel des Politischen und vor allem auch im Kulturellen angestoßen. (Siehe dazu ausführlicher Meine Erfahrungen in und mit der 68er Bewegung, vor allem Teil 5)
Bildquelle: Archiv W. Lieb