Die britischen Wähler machen es spannend. Die Meinungsforscher sind wie so oft mit ihrem Latein am Ende. Buchmacher und allerlei Orakel wissen die Stimmung auf der Insel nicht zu deuten. Für das Referendum über den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union gilt die Devise, abwarten und Tee trinken. Unabhängig von seinem Ausgang wird es die Europäische Union verändern. Bleiben die Briten, oder gehen sie: Vertiefung ist die einzig richtige Richtung für die Zeit danach.
Margaret Thatcher: I want my Money back
Wirklich warm geworden mit Europa sind die britischen Regierungen in den zurückliegenden gut vier Jahrzehnten nicht. Ob konservative Torys oder sozialdemokratische Labourpolitiker in Number 10 Downing Street saßen: feurige Europafreunde waren nicht darunter. Auch wenn zwischen Tony Blair, John Major und Margaret Thatcher weltanschaulich Welten liegen, haben sie die Europapolitik stets nach dem gleichen Credo geführt. Britain first. Sonderwünsche, Ausnahmen, Privilegien kennzeichnen die Rolle der Briten in Europa.
„I want my money back“, wetterte Margaret Thatcher, schlug mit ihrer Handtasche auf den Tisch und erwirkte 1984 den Britenrabatt. Weil aus dem Agrartopf, dem weitaus größten Etat der Gemeinschaft, naturgemäß nur wenig Geld nach Großbritannien floss, ließ sich die „Eiserne Lady“ einen Nachlass auf die Nettozahlungen an Brüssel einräumen. Wohlwollen gegen Bares. Das Prinzip fand Nachahmer und hat die Erosion des europäischen Solidargedankens befeuert.
London interessiert nur die Wirtschaftsgemeinschaft
Mehr als die europäische Wirtschaftsgemeinschaft hat die Regierungen in London von Anfang an nicht interessiert. Bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl blieben die Briten skeptisch im Abseits, und als sie sich 1963 angesichts der wirtschaftlichen Erfolge anders besannen, legte der damalige französische Staatspräsident Charles de Gaulle gegen einen Beitritt der „Sonderlinge“ sein Veto ein. Weitere zehn Jahre vergingen, bis Großbritannien 1973 Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurde, mit dem Status einer Diva von Anfang an. Sozialunion, Schengen, Gemeinschaftswährung, Verfassung: Wann immer die Union ihre Einigung vertiefen wollte, blockierten die Briten oder hielten sich heraus.
Auch der „Brexit“ selbst geht auf die britische Vorliebe für europäische Extrawürste zurück. Ein Ausscheiden aus der Gemeinschaft hatten die Gründerväter nicht vorgesehen, und erst mit dem Vertrag von Lissabon ist ein solches Szenario geregelt – vage allerdings, weil es noch immer undenkbar war und nur als Zückerchen für den britischen Premierminister David Cameron diente.
Der suchte, wie es eine verbreitete Unsitte ist, innenpolitische Stärkung auf Kosten des Europagedankens, und erhielt dafür die Vertragspassage: „Jeder Mitgliedstaat kann… beschließen, aus der Union auszutreten.“ Das seinem Wahlvolk versprochene Referendum wurde möglich und für Cameron zu einem Klotz am Bein. Er handelte erneut Zugeständnisse der EU aus und stemmt sich nun gegen den Brexit.
Es geht vor allem um die Flüchtlingspolitik
Doch das Spiel mit den Ängsten der Menschen entfaltet seine eigene Dynamik. In der Kampagne zur Volksabstimmung spielen die Flüchtlings- und Einwanderungsthematik eine erhebliche und sehr emotionale Rolle. Die Ermordung der europafreundlichen Labour-Abgeordneten Jo Cox eine Woche vor der Abstimmung zeigte, wie aufgeheizt die Stimmung ist. Das Land ist gespalten, auch durch die konservative Regierung geht ein Riss. Wer letztlich in London, falls es dazu käme, den Brexit über die vorgesehene zweijährige Austrittsperiode abwickeln würde, ist ebenso ungewiss, wie der nie dagewesene Vorgang und seine Folgen selbst.
Die Europäische Union allerdings kennt die Lektion, die ihr diese britische Zerreißprobe auferlegt: Sie muss, um Nachahmer abzuschrecken und nicht immer neue nationalistische Begehrlichkeiten aufkommen zu lassen, das ewige Feilschen um Sonderkonditionen beenden, überzeugender für den historischen Auftrag von Frieden und Gerechtigkeit eintreten und auch mutiger selbst in die politische Willensbildung des gemeinsamen Europas eingreifen. Wo die in vielen Ländern erstarkenden nationalistischen und extrem rechten Kräfte das Einigungswerk als Ganzes bedrohen, wird das Prinzip der Nichteinmischung zum Gewährenlassen.