Trotz ihres schwanengleichen Höhenflugs bei den Europawahlen (vgl. https://www.blog-der-republik.de/von-schwaenen-und-erpeln-nach-den-europwahlen-in-italien/) steht Georgia Meloni in Brüssel zu Anfang der neuen Legislaturperiode des EU-Parlaments und der neuformierten EU-Führung mit leeren Händen und ohne machtvolle Fraktion da. Der Schwan, um im Bild zu bleiben, wurde von dem vereinigten Schwarm anderer Wasservögel nicht angenommen, von manchen sogar weggebissen. Meloni hat sich verzockt in der Annahme, dass Ursula von der Leyen sie und ihre Fraktions-Gruppe zur Mehrheitsfindung benötigen würde. Stattdessen hat es für von der Leyen und die Besetzung der anderen Schlüsselposten in der bisherigen Konstellation gereicht, gesteuert von der starken Europäischen Volkspartei (EVP) in Koalition mit teils wenig teils stark geschwächten Partnern Sozialdemokraten (S&D) und Liberalen (Renew), mit Unterstützung der Grünen. Italienische Abgeordnete aus Parteien in Opposition zu Meloni sind sogar zu Ausschussvorsitzenden im EU-Parlament gewählt worden. Melonis Gruppe Europäische Konservative und Reformer (EKR) ist geschrumpft, da nunmehr die Rechte in weitere kleinere EU-Fraktionsgruppen zersplittert ist. Melonis verbliebene Hoffnung ist, dass der von ihr zu nominierender Kommissar eine starke Position in der Kommission erhält.
Nach Umfragen zu urteilen, hat ihr das Fiasco in Brüssel daheim in Italien nicht geschadet, wo sie stabil knapp 30% der Wahlabsichten bei den aktuellen „Sonntagsfragen“ erhält. Gemeinsam mit den Koalitionspartnern Forza Italia (FI) und Lega plus der Minipartei Noi Moderati (NM) bleibt sie damit zwar unter 50%, aber ein paar Prozentpunkte vor der Summe der Wahlabsichten zugunsten des linken „Campo Largo“ (Breites Lager) von Partito Democratico (PD), Movimento 5 Stelle (M5S) und Verdi e Sinistra (Linksgrün). Die sich als liberale Mitte verstehenden Parteien haben sich von der Niederlage bei den Europawahlen noch nicht wieder aufgerappelt und bleiben zusammen unter 10%.
Auch sonst gibt es zwei Jahre nach Antritt der Mitte-Rechts Koalition keine Anzeichen ihres Endes. Die getrennten Strategien der Partner bei der Europawahl und die Zugehörigkeit zu bei dieser Wahl konkurrierenden Gruppen, – die FI gehört sogar zu den Unterstützern von der Leyens – stört die Koalitionspraxis in Rom wenig. Auch nationale Positionskämpfe – wie die um die Spitzenkandidaturen in den kommenden Regionalwahlen – stellen den Zusammenhalt nicht in Frage. Das liegt im Wesentlichen daran, dass die kleineren Koalitionspartner einige Sitze in beiden Häusern des Parlaments von Melonis FdI nur „entliehen“ haben. Bei den Wahlen 2022 haben sie wegen der Vorwahlabsprachen weit mehr Sitze erhalten als Stimmanteile für sie ergeben hätten. Wenn eine der beiden kleineren Partner die Koalition platzen ließe und kurzfristig Neuwahlen ohne Absprachen stattfänden, würden beide voraussichtlich die Hälfte der Sitze verlieren. Daher wird der aktuelle Zustand trotz Divergenzen stabil bleiben.
Dennoch ist eine Regierungsumbildung erwartbar, da einige Amtsinhaber in den ersten zwei Jahre die Erwartungen nicht erfüllt haben. Ein Anlass könnte sein, dass ein Minister Kommissar in Brüssel wird. Es gibt aber auch eine Reihe von schwachen Ministern, etwa solche, die unauffällig arbeiten, oder andere, deren politische Initiativen nicht gut vorbereitet sind. Einige fallen durch Fehltritte auf oder durch törichte Aussagen. Champion in diesen Disziplinen ist Landwirtschaftsminister Francesco Lollobrigida, Schwager und seit der Parteijugend Mitstreiter von Meloni, mit ungeschickten Aktionen, z.B. den Hochgeschwindigkeitszug anhalten zu lassen, um schneller zu einem Band-Durchschneide Termin zu kommen, oder mit Äußerungen wie die, dass Arme in Italien oft besser essen als Reiche, oder der Warnung vor Überfremdung durch zu wenig italienische Geburten. Ausgerechnet der für Kultur zuständige Minister Gennaro Sangiulano bringt historisch-wissenschaftliche Zusammenhänge sachlich und zeitlich durcheinander, so z.B. dass der später Geborene Galileo Galilei Christoph Columbus dazu inspiriert hätte, nach Westen zu segeln, um nach Indien zu gelangen. Die Tourismus-Ministern Daniela Santanche ist bei einer großen Italien-Tourismus-Kampagne das Missgeschick unterlaufen, dass die Agentur ein Video mit reizenden jungen Leuten beim Aperitif in Slowenien drehen und nicht einmal italienischer Wein servieren ließ. In der deutschsprachigen Online-Version wurden zudem italienische Ortsnamen zwanghaft wörtlich übersetzt und damit der Lächerlichkeit preisgegeben, unter anderem Prato als „Rasen“. Die teure Kampagne wurde abgeblasen und in den sozialen Medien zum Schweigen gebracht. Kleinere und größere Fehlleistungen auch von anderen Amtsträgern kommen zur Freude der Journalisten und der Opposition immer wieder vor. Meloni äußert sich möglichst gar nicht dazu. Sie schweigt auch zu den wiederkehrenden Anklagen gegen die Tourismusministerin Daniela Santanchè aus ihrer Unternehmertätigkeit.
Im Kabinett hat Meloni allerdings auch einige Stützen, die mit sachgerechter Arbeit in ihrem Sinne dienen, so z.B. den Wirtschafts- und Finanzminister Giancarlo Giorgetti, der schon unter Draghi für die ständig schwierigen Haushaltsverhandlungen zuständig war. Ihn würde Meloni wohl ungern nach Brüssel ziehen lassen, eher schon den Europaminister Raffaele Fitto. Andere ihrer Stützen sind Verteidigungsminister Guido Crosetto, der ihre Waffenlieferungspolitik an Ukraine und Israel eher verhalten vertritt, Justizminister Carlo Nordio, der allerdings mit zu vielen Gesetzesvorhaben nervt, und Innenminister Matteo Piantedosi, bezeichnenderweise ein Karriere-Verwaltungsbeamter. Die Vizepremiers Matteo Salvini und Antonio Tajani sind als Parteivorsitzende der Koalitionäre unantastbar.
Meloni muss bei einer Neuordnung das Gleichgewicht im Kabinett halten. Für eine größere Umbildung müsste sie, in Absprache mit Salvini und Tajani, über Personen und Posten verfügen, unter anderem Staatssekretariate, Kandidaturen zu Regionalpräsidenten oder Bürgermeister bei den anstehenden Wahlen, vielleicht auch über Führungspositionen in Staatsunternehmen oder Behörden. Gerade wird bei der Postenbesetzung ein Streit vom Zaun gebrochen, bei dem der Chefredakteur des regierungsnahen „Giornale“ behauptet, dass Medien, Staatsanwälte und Opposition eine abgestimmte Kampagne gegen Georgias Schwester Arianna Meloni lostreten, mit dem Vorwurf, dass diese Personalentscheidungen in Staatskonzernen, wie etwa auch bei RAI, träfe, zu der sie als Parteisekretärin nicht befugt sei. Dies greifen Regierungsmitglieder und -Abgeordnete gern auf, wenn es nicht vorher ihrerseits abgesprochen war. Für einen Außenstehenden sieht es aus wie heiße Luft, die das Sommerloch füllen und von wichtigeren Themen ablenken soll.
Bei alledem treibt die Regierung Meloni innenpolitisch einen Rückbau der Institutionen zugunsten der Exekutive voran. Als Mutter aller Reformen hat Meloni selbst die direkte Wahl des Ministerpräsidenten, den „Presidentialismo“ bezeichnet, die verbunden sein soll mit einer automatischen Parlamentsmehrheit. Sie begründet diese Wahlrechts-Initiative mit der notwendigen Stabilität der Regierung. Die Argumentation fällt angesichts der vielen Regierungswechsel seit Gründung der Republik auf fruchtbaren Boden in Italien, zumal in den letzten Jahrzehnten immer wieder Wahlrechtsänderungen zu diesem Zweck durchgeführt und wieder verworfen oder in einem Referendum gescheitert sind. Die Ironie dabei ist, dass gerade derzeit Meloni selbst zeigt, wie Stabilität sogar bei dem geltenden Wahlrecht erreicht werden kann.
Die Formulierung des Kernstücks, die Direktwahl des Ministerpräsidenten und die Schwächung der Legislative, befindet sich schon im parlamentarischen Verfahren. Es wird begleitet von einer Schwächung der Judikative. Justizminister Nordio betreibt unablässig die Handlungseinschränkungen der Staatsanwaltschaften voran, etwa die Ausnahmeregelungen and Abschaffung von Straftatbeständen für Politiker, die Bestrafung von Medien für Veröffentlichungen über staatsanwaltliche Untersuchungen vor offizieller Bekanntmachung und anderes mehr. Die Regierungsmehrheit im Parlament winkt diese und andere Gesetzesentwürfe rasch durch, derartig viele, dass selbst der (Lega-) Präsident der Abgeordnetenkammer die Flut dieser Art von Gesetzgebung rügt. Präsident Sergio Mattarella muss ein ums andere Mal Dekrete unterschreiben, auch wenn ihm daran etwas nicht behagt, wie er es bei seinen Reden verklausuliert und verallgemeinert formuliert. Zuletzt hat er einen vom Parlament beschlossenes Dekret mehr als vier Wochen vor seiner Unterschrift liegen lassen, nämlich das Gesetz zur Abschaffung der Strafbarkeit von Amtsmissbrauch, das im Übrigen auch von der EU als nicht mit europäischem Recht vereinbar betrachtet wird. Ein Gesetz nach parlamentarischem Beschluss nicht zu unterschreiben, würde einen heftigen demokratierechtlichen Eklat nach sich ziehen.
Gegen die zunehmende politische Beeinflussung der Medien schlagen Journalisten-Gewerkschaften immer wieder Alarm. Beim staatlichen Rundfunk und Fernsehen RAI greifen offenbar Vorgesetzte ein, um unliebsame Beiträge zu vermeiden oder um langatmig über Veranstaltung der Regierungsparteien berichten zu lassen, während anderswo Aktuelles brennt. Das Privatfernsehen ist allerdings nicht automatisch vollständig auf Seiten der Regierungskoalition. So äußerte sich Berlusconis Tochter, die beherrschenden Einfluss auf die Privatfernsehgruppe Mediaset hat, eher zustimmend zu gesellschaftspolitisch liberalen Positionen, wie zur Abtreibung. Die Berlusconis finanzieren weiterhin die FI, die Partei des Vaters, und erlauben sich auch Kritik an der Koalition. Immer wieder kommen Gerüchte auf, dass Sohn Piersilvio in die politische Arena „heruntersteigt“, wie sein Vater vor Jahrzehnten. Auch mit dem kleineren privaten TV Sender La7, der ein starkes politisches Redaktionsteam hat, ist Meloni oft nicht glücklich. Bei den Printmedien ist das Spiel auch noch nicht zugunsten der politischen Rechten entschieden, auch wenn eine journalistische Ikone wie „Il Giornale“ von einem Lega- Abgeordneten und Gesundheits-Unternehmer übernommen wurde und zu einem Kampagnen-Blatt verkommen ist.
Dieses Muster der Machtverschiebungen zugunsten der regierenden Exekutive erinnert an Vorgänge des letzten Jahrzehnts in Ungarn und Polen. Sie stecken zwar noch in einer frühen Phase, aber die Weichen sind gestellt. Wenn der „Presidentialismo“ durchkommt, wird man 2027 eine völlig veränderte politische Landschaft bekommen. Es kann aber sein, dass die Mehrheit der Italiener einen solchen Umbruch per Referendum vereitelt.
Die politische Landschaft Italiens wird derzeit noch von einer anderen Initiative aufgewühlt, die das Zeug für Nord-Süd Konflikte und innerer Spaltung hat, nämlich die „differenzierte Autonomie“ der Regionen, einem Herzensprojekt der „alten“ Lega Nord. Auf dem Papier sieht diese „differenzierte Autonomie“ wie ein klärendes Konzept dafür aus, welche Politikfelder die Regionen künftig in eigener Zuständigkeit betreiben können und welches Leistungsniveau der Zentralstaat den Regionen durch seine Unterstützung garantiert. Das Gesetz wurde mit klarer Mehrheit der Koalition in beiden Häusern des Parlaments schon beschlossen. Es muss aber in den nächsten zwei Jahren noch sowohl von den Regionen als auch der Regierung mit Inhalt gefüllt werden. Damit hat es eine Reihe von praktischen Umsetzungsvoraussetzungen, deren Nichteinhaltung von vielen Beobachtern im Süden und in der Opposition befürchtet wird. Dann würde diese Reform eine Art Schwindel sein, auf den die südlichen Regionen hereinfallen, wie Kritiker sagen. Das Projekt ist bisher ein Triumph der Lega und wird von den Koalitionspartnern mitgetragen, allerdings mit zunehmenden Bauchschmerzen. FI und FdI könnten in dem Konflikt darüber die Vorherrschaft in Sizilien, Kalabrien und der Basilikata verlieren. Es laufen landesweite Unterschriftensammlungen dagegen und es fallen Entscheidungen von südlichen Regionalregierungen, die ein Referendum erzwingen können.
Sollte es zu dem einen (gegen den Presidentalismo) oder anderen (gegen die differenzierte Autonomie) Referendum kommen, und Meloni eines davon mit der Vertrauensfrage verbindet und verliert, könnte die Koalition tatsächlich kippen. Angesichts des glücklosen Beispiels von Renzi wird sie das aber vermutlich bleiben lassen.
So ist allerdings nicht gewiss, wie die politische und institutionelle Landschaft Italiens am Ende der laufenden Legislaturperiode im Jahr 2027 aussieht. Wenn Meloni und Koalitionäre ihren Willen bekommen, wird in Italien eine völlig veränderte Institutionenlandschaft unter einer Regierung mit autoritären Tendenzen stehen; wenn die beiden Großprojekte der Koalition nicht erfolgreich umgesetzt werden, wird es die Abenddämmerung einer vermeintlichen „Göttertruppe“ sein oder es gibt zwischenzeitlich doch schon eine neue Regierung.
„Bei aller Kritik, die die italienische Politik Jahr für Jahr zu hören bekommt, halte ich sie dennoch für eines der wirklich guten Beispiele einer funktionierenden Demokratie. Besonders bemerkenswert finde ich, dass es in Italien keine 5%-Hürde gibt, was es auch kleineren Parteien und Minderheiten ermöglicht, eine Stimme im Parlament zu haben. Das fördert die politische Vielfalt und sorgt dafür, dass auch unterschiedliche Interessen Gehör finden.“