Manche Mythen halten sich hartnäckig. Im gegenwärtigen Wettrennen um den Vorsitz der CDU im Bund haben Friedrich Merz und Norbert Röttgen ihre eigene Agenda und nicht wirklich viel zu verlieren. Lediglich Armin Laschet geht ein hohes Risiko ein, denn natürlich würde eine Niederlage seine Position als Ministerpräsident und CDU-Vorsitzender in Nordrhein-Westfalen schwächen. Der Mythos, den ich meine, ist aber ein anderer: Ein nordrhein-westfälischer Ministerpräsident, der jegliche Ambitionen auf die Kanzlerschaft verneint, sei in der Bundespolitik nur noch ein Leichtgewicht.
Als Beispiel wird gerne Hannelore Kraft genannt, die genau diesen Fehler gemacht habe und sich deswegen am Ende des Tages auch nicht als Ministerpräsidentin in NRW habe halten können. Aber die ständige Wiederholung dieser alten Leier macht die Sache nicht richtiger, und hinterher ist man immer schlauer. Ende November 2013, als Kraft in einer Sitzung der SPD-Landtagsfraktion beteuerte, dass sie „nie, nie als Kanzlerkandidatin antreten“ werde – die nächste Bundestagswahl stand erst 2017 an – war die Gemengelage eine andere: Sigmar Gabriel war seit 2009 SPD-Vorsitzender und gerade erst war der Koalitionsvertrag der großen Koalition paraphiert, den Kraft maßgeblich mitverhandelt hatte und der von der SPD-Basis noch gebilligt werden musste. Ein Anspruch auf die nächste Kanzlerkandidatur aus Düsseldorf hätte zu diesem Zeitpunkt vor allem den Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel in den Regen gestellt und den ausgehandelten Koalitionsvertrag gefährdet. Der Bericht in der WZ über den „Paukenschlag von Düsseldorf“ beschreibt Kraft als „bodenständig und nah bei den Menschen“ – von Machtverzicht ist noch keine Rede.
Die Absage an jegliche Ambitionen in der Bundespolitik war allenfalls deshalb unklug, weil sie umgehend öffentlich wurde. Hannelore Kraft sollte trotzdem auf dem Landesparteitag der SPD im September 2016 mit fast 98,5 Prozent erneut zur SPD-Landesvorsitzenden gewählt werden. Aber natürlich nutzte die Opposition jede sich bietende Gelegenheit, der nordrhein-westfälischen Ministerpräsidentin, der ersten Frau in diesem Amt, mangelnden Machtwillen zu unterstellen. Für die Presse war das Ganze eher bedauerlich, machte die von manchen als Hoffnungsträgerin der SPD gesehene Politikerin damit doch vielen Spekulationen um die Spitzenkandidatur bei der nächsten Bundestagswahl ein abruptes Ende. So verständlich es ist, dass Armin Laschet heute nicht in eine ähnliche Situation geraten will, so wenig taugt aber der Hinweis auf Hannelore Kraft. Laschet droht vielmehr zum Opfer eines Mythos zu werden, den er selbst beziehungsweise die CDU mit erzeugt hat.
So legitim nämlich der Anspruch eines NRW-Parteivorsitzenden ist, auch die jeweilige Bundespartei führen zu wollen, so wenig zwingend ist der sich daraus ergebende Anspruch auf die Kanzlerkandidatur. An diesem Konstruktionsfehler leidet die gesamte Debatte in der CDU um die Nachfolge von Annegret Kramp-Karrenbauer von Anfang an. Natürlich ist es legitim, beides anzustreben, aber das zweite Ziel von Anfang an in den Vordergrund zu stellen und das Nahziel Vorsitz nur als Steigbügel für das Kanzleramt zu sehen, war alles andere als gut. Schuld daran ist eigentlich nicht Armin Laschet, sondern viel eher Friedrich Merz. In diesem Sinne hat Merz seiner Partei und vor allem seinem Parteifreund Laschet einen Tort angetan, denn dieser ist Opfer des selbst erzeugten Mythos geworden. Er konnte fast gar nicht anders, als sich auf das Spiel von Merz einzulassen.
Ein zweiter Mythos spielt natürlich noch mit: Angeblich gehören Kanzlerschaft und Vorsitz der eigenen Partei in eine Hand. Aber hier gilt genau wie beim eingangs erwähnten Mythos, dass Beispiele aus der Vergangenheit nur sehr bedingt dazu taugen, daraus Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. Und der Mythos von der notwendigen Machtkonzentration in einer Hand unterstellt, dass sich zwei Alpha-Tiere ständig ins Gehege kommen. Aber sind verteilte Rollen, geteilte Aufgaben, Kooperation statt Konfrontation nicht auch vorstellbar?
Als Delegierter des CDU-Bundesparteitags Mitte Januar nächsten Jahres bin ich übrigens Opfer eines weiteren Mythos, nämlich zum Partei-Establishment zu gehören. Dabei bin ich lediglich Vorsitzender eines Stadtverbandes mit circa 1300 Mitgliedern und sehe mich als Vertreter der sprichwörtlichen Basis. Ich habe kein weiteres politisches Amt oder Mandat und strebe das auch nicht an. Damit mag ich zwar in einer Minderheit auf dem Parteitag sein, aber ich vermute, dass ein Großteil der Delegierten bis zum Schluss unentschlossen sein wird. Ich auf jeden Fall bin es noch. Das Unbehagen vieler über die jetzige Situation ist deutlich spürbar, aber vielleicht führt das Schaulaufen der Kandidaten ja zu einer Klärung der Lage und zu einer neuen, nicht von Mythen belasteten Konstellation.
Bildquelle: German Wikipedia user Holger Weinandt, CC BY-SA 3.0