Der Nationale Direktor der UNO-Flüchtlingshilfe, Peter Ruhenstroth-Bauer, war für einige Tage im Westen der Ukraine, um zu sehen, wie der UNHCR und seine Partner vor Ort arbeiten, welche Unterstützung jetzt für die Menschen wichtig ist und wie die Hilfe der deutschen Zivilgesellschaft wirkt.
Ich wusste, dass mein Kollege Fredo und ich in ein Land fahren, gegen das Krieg geführt wird. Aber das theoretischen Wissen und die ganz persönliche Erfahrung sind zwei vollkommen unterschiedlich Dinge. Das fängt schon am Grenzübergang zwischen der Slowakei und der Ukraine an: Langes Warten, genaueste Kontrolle auf der slowakischen Seite. Es folgen 250 Meter im Zickzack um Hindernisse und Sperren herum und dann die erneute Kontrolle durch den ukrainischen Grenzschutz.
Die Anspannung ist hier deutlich zu spüren.
Gleich hinter dem Grenzübergang treffen wir auf unsere UNHCR-Kolleg*innen, die uns die nächsten Tage begleiten werden. Sie stellen uns Juri, Mitte 20, vor: Er ist Mitarbeiter der NGO NEEKA, die als lokaler Partner mit dem UNHCR zusammenarbeitet. Sie überwachen den Grenzverkehr, befragen die ausreisenden Menschen und geben erste, wichtige Informationen über die Zielländer oder vermitteln Rechtsauskünfte durch die Anwält*innen der NGO. Juri steht mit weiteren NEEKA-Mitarbeitenden bei Wind und Wetter und natürlich auch bei Schnee und Eiseskälte an der Grenze – so wie bei unserer Ankunft. Im Gespräch berichtet er uns so motivierend und aufbauend über seine Arbeit, dass man versteht, dass die Kraftquelle der Zivilgesellschaft die Menschen selbst sind.
Kurz vor unserer Abfahrt werden wir zufällig Zeug*innen einer sehr berührenden Begegnung: Mutter Anna, ihr 14-jähriger Sohn und die 3-jährige Tochter, die vor einem Jahr aus Odesa fliehen mussten, sind eben an der Grenze angekommen und können nach einem Jahr endlich wieder den Ehemann und Vater in die Arme nehmen. Es fließen nicht nur Tränen des Glücks, sondern auch der Dankbarkeit.
Anna berichtet von der großartigen Unterstützung, die sie und ihre Kinder in Polen erhalten haben.
Nach längerer Fahrt in das Land kommen wir am Abend bei unserer ersten Station in Uzhhorod an. Beim gemeinsamen Abendessen wollen sich Genuss und Entspannung trotz der wunderbaren ukrainischen Küche nicht so richtig einstellen. Unser Restaurant ist geöffnet und hat Strom, weil hinter dem Haus ein Generator brummt. Aber das ist keine Normalität, denn Russland zerstört gezielt die Infrastruktur. Nachts ist die Stadt fast vollkommen abgedunkelt. Ein bedrückender Start unserer Ukraine-Mission.
Wie sehr die Zivilgesellschaft in der Ukraine zusammensteht, können wir am nächsten Tag beim Besuch der Universität von Mukachevo erfahren. Die Dekanin, eine sehr engagierte Pädagogik-Professorin, hat mit ihrem Team unmittelbar nach Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine die Türen der Universität ganz weit aufgemacht. Im Studierendenwohnheim werden Menschen untergebracht, die aus dem Osten des Landes fliehen mussten (sogenannte Binnenvertriebene).
Die Universität hat sofort Kurse für die überwiegend weiblichen Binnenvertriebenen eingerichtet, die mit psychologischer Hilfe verbunden werden. So soll neben der beruflichen Perspektive gleichzeitig auch immer dafür gesorgt werden, dass man die oft traumatischen Erlebnisse verarbeiten kann. Victoria, eine Psychologin aus dem Uni-Projekt, berichtete mir, wie wichtig gerade die Verbindung von Bewältigung des Erlebten mit einer Perspektive für die Zukunft für die Betroffenen ist.
Und während sich die Mütter beruflich orientieren, sind die Kinder nach der Schule in einem Koch- oder Back-Kurs. Die achtjährige Mascha und ihre Freundin Diana berichten uns stolz von den Ergebnissen: Zwei große Pizzableche, die dann gemeinsam mit den Müttern nach dem Kurs gegessen werden.
Ein Stück Normalität in einem aufgewühlten Kinderleben.
Das fünfstöckige Studierendenwohnheim ist heute noch auf einer Etage komplett mit über 50 Binnenvertriebenen belegt. Hier unterstützen Ulana und Roman von der NGO NEEKA den UNHCR. Sie kümmern sich um viele Belange der Bewohner*innen, angefangen von der wärmenden Decke über die Reparatur der Fensterscheibe bis zur Kinderbetreuung oder psychologischen Unterstützung. Die beiden lassen sich nicht aus der Ruhe bringen, wenn der Strom für die nächsten sechs Stunden wieder abgestellt wird, sondern sorgen sich rund um die Uhr um ihre Landsleute aus dem Osten der Ukraine, die hier jetzt Schutz gefunden haben.
Der Nachtzug bringt uns schließlich nach Lviv. Die Stadt im Westen der Ukraine ist immer noch Ankunfts- und Schutzort für viele Ukrainer*innen, die in ihrem Zuhause im Osten des Landes ausgeharrt haben. Valentin nimmt uns gleich am Bahnhof in Empfang. Mit der NGO „Medical & Psychological Help” empfängt er die Binnenvertriebenen. Jeden Tag kommen hier Menschen an und suchen Schutz. Mittlerweile sind es vor allem ältere Menschen, die bis zuletzt gehofft hatten, weiter zuhause leben zu können. Sie erhalten von den Freiwilligen erste Informationen, und, wie der Name ihrer Organisation sagt, medizinische und psychologische Hilfe.
Während Valentin mit uns spricht, kommt eine Lieferung weiterer Hilfsgüter des UNHCR für die Erstversorgung an. Doch als wir auf einen Zug mit Binnenvertriebenen aus dem Osten des Landes warten, heulen mitten in unserem Gespräch plötzlich Sirenen auf und unsere Luftalarm-Warnapp gibt ein schrilles, durchdringendes Signal. Wir werden aufgefordert, sofort einen Bunker aufzusuchen. Wir und alle Kolleg*innen springen auf und rennen in den nächsten Bunker.
Dort sitzt oder liegt man auf Stockbetten – aus Holz gezimmert – in warmer, stickiger Luft. Man bangt, denn Bahnhöfe sind strategische Ziele. Und man hofft und wartet auf den erlösenden Sirenenton zu Entwarnung.
Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich die Kriegsgeschichten meiner Eltern und Großeltern selbst hautnah miterlebe.
Kaum draußen geht das Leben weiter, als wäre nichts passiert. Der Zug aus dem Osten ist wegen des Alarms noch nicht im Bahnhof eingefahren. So sind wir dabei, als die Neuankömmlinge in Empfang genommen werden. Aus ihren Gesichtern spricht nicht die Freude, endlich in Sicherheit zu sein, sondern vor allem Unsicherheit, Furcht und manchmal auch Angst.
Später am Tag besuchen wir die Nationale Polytechnische Universität in Lviv , die ihr Studierendenwohnheim für studierende Vertriebene geöffnet hat. Aber ein Studium mit ständig unterbrochener Stromversorgung ist gar nicht so einfach. Deshalb hat der UNHCR einen Generator bereitgestellt, der einige Universitätsgebäude mit Energie versorgt. Ein Beispiel praktischer Unterstützung – die auch durch Sie, unsere Unterstützer*innen, ermöglicht wird.
Etwas außerhalb Lvivs können wir schließlich das Mutter-Kind-Haus der „Unbroken Mothers” besuchen. Der NGO-Koordinator des Hauses Nestor berichtet uns, dass er selbst aus dem Osten der Ukraine stammt und jetzt im Westen gelandet ist.
Das ist eine der wichtigsten Beobachtungen, die wir in der Ukraine machen konnten:
Eine starke und mutige Zivilgesellschaft, die sich ganz auf die gegenseitige Unterstützung konzentriert. Unsere Reise hat auch gezeigt, wie wichtig die Unterstützung des UNHCR in dieser lebensrettenden Mission ist und welche Bedeutung der Zusammenarbeit mit den lokalen NGOs zukommt, die die Bemühungen der Regierungen ergänzen. Alle NGO-Partner des UNHCR in der Ukraine haben es uns so deutlich gemacht, dass ihre Arbeit durch unsere gemeinsame Unterstützung dringend weiter fortgesetzt werden muss. Deshalb dürfen wir nicht nachlassen, wenn es darum geht, für die Ukraine einzustehen.
SO KÖNNEN SIE GEFLÜCHTETE IN UND AUS DER UKRAINE UNTERSTÜTZEN
Dieser Beitrag unseres Autors Peter Ruhenstroth-Bauer wurde erstveröffentlicht am 24.2. auf dem Blog Blaupause der UNO-Flüchtlingshilfe