79 Jahre alt ist Franz Müntefering, den sie in der SPD nur den „Münte“ nennen, oder „Franz“. Weil er immer einer von ihnen war, bodenständig, nie abgehoben, ein Mann der kurzen Sätze. Was der nicht alles war: SPD-Chef(“ das schönste Amt neben Papst“), Generalsekretär der Partei, der zusammen mit Matthias Machnig den Wahlkampf von Gerhard Schröder 1998 erfolgreich organisierte, Fraktionschef, Arbeitsminister, Vizekanzler. Zur Zeit reist er durchs Land und stellt sein Buch vor: „Unterwegs. Älterwerden in dieser Zeit.“ Geschrieben auf seiner alten Olympia-Schreibmaschine. So ist er halt, der Münte und hat drei Ratschläge parat: Laufen, Lernen, Lachen.
Älter ist er geworden, seit er die Politik verlassen hat. Ein paar Falten mehr zieren sein Gesicht. Aber das ist es auch. Er ist fit, schlank, springt auf das Podium, spricht mit lauter Stimme, für jeden verständlich. Wie früher. Nein, der Mann aus Sundern im Sauerland macht nicht auf jung, obwohl er mit einer Frau verheiratet ist, die 40 Jahre jünger ist als er. Kein Wort dazu bei seinem Auftritt im Saal der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn. Volles Haus, ein Heimspiel für ihn. Die Zuhörer sind meist in seiner Altersklasse, nur einige wenige Jüngere sind zu sehen, als er sein Buch über das Älterwerden vorstellt und später signiert.
Die drei L geben die Linie vor, an der entlang der jünger aussehende Mann auf dem Podium sein Leben im Alter lebt. Neben ihm der WDR-Redakteur Jürgen Wiebicke, der die Moderation übernommen hat und den Politiker reden lässt. Was auch gut ist, denn einer wie Münte macht was draus, er redet nicht zu lang, schwafelt nicht, macht es gern kurz und trocken. Laufen heißt eben nicht nur rennen, sondern sich bewegen, zu Fuß, auf dem Rad, Hauptsache nicht im Liegestuhl herumliegen. Lernen bedeutet: Interessiert bleiben, neugierig, nicht stehen zu bleiben, sondern Fragen zu stellen, Ratschläge zu geben aus seinem eigenen Leben. Lachen, klar: Sich freuen am Leben, Spaß haben, nicht zu vereinsamen. Dann wird man älter. Oder wie es ein älterer Kollege vor Jahren mal formuliert hat, der als Rentner eben nicht aufhörte zu schreiben: Ich will leben und nicht überleben. Heißt auch: Mitzumachen, Verantwortung zu übernehmen als Teil der Gesellschaft.
Werbung fürs Älterwerden
Er kriegt viel Beifall, der Münte von seinen zumeist Freundinnen und Freunden im Haus der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn. Weil er auch witzig erzählt. Beispiel: Der Geburtstag einer 106jährigen Frau. Der Bürgermeister besucht sie, obwohl die Geburtstagsbesuche eigentlich eingestellt werden sollen in dem Dorf, denn es gibt zu viele Alte. Aber dieser Geburtstag soll eine Ausnahme sein. Die Jubilarin erzählt aus ihrem Leben, weiß Geschichten über ein jedes Jahr zum Besten zu geben. Die Zeit verrinnt, nach einer Stunde redet sie immer noch. Der Bürgermeister schaut auf die Uhr, die Frau redet und redet. Am Ende fragt er sie, was sie so fit halte. Ja, antwortet sie, sie habe jetzt endlich ein sorgenfreies Leben, da sie ihre Kinder im Altersheim untergebracht habe
Münteferings Auftritt ist eine Werbung fürs Älterwerden. Er gibt seine Erfahrungen weiter, seine Erkenntnisse aus all den Jahren. wie man aktiv bleiben kann im Alter. Da ist er ein tolles Beispiel. Er selber joggt nicht mehr, die Knie schmerzen, also geht er stramm, auch auf dem Laufband, macht Gymnastik, interessiert sich für Fußball, Theater, Politik. Er redet frei, ohne jedes Stottern oder Zögern kommen seine Antworten, da ist kein Äh zu hören, der Mann muss zwischendurch nicht mal Luft holen oder ein Glas Wasser trinken. Der könnte doch jederzeit aktiv in der SPD mitmischen. Wäre Franz Müntefering nicht ein Gewinn in der am Boden liegenden ältesten deutschen Partei? Warum ruft ihn keiner oder will er einfach nicht mehr? Letzteres kann ich nicht glauben. Denn ohne Ehrgeiz war der Münte nicht. Man muss nur in die Gesichter seiner Zuhörerinnen und Zuhörer schauen, deren Reaktionen sich anhören. Beifall, es gibt immer wieder Beifall.
Soziale Kontakte pflegen
Alter ist keine Messlatte für die Frage, ob jemand Recht hat oder nicht. Anders gesagt: Die Frage, wie alt jemand ist, sagt wenig darüber aus, ob er vernünftig ist und viel weiß. Oder bekloppt ist. Älterwerden, vorsorgen mit Vollmachten und Patientenverfügungen, Barrieren in der Wohnung wegräumen. Sitzdusche statt Badewanne, Teppiche lieber an die Wand hängen, damit man nicht drüber stürzt und sich verletzt. Älterwerden und nicht vereinsamen, ein großes Problem, das man anpacken müsse, soziale Kontakte pflegen. Lieber in der Gruppe mit Rädern zum Essen fahren, als Essen auf Rädern kommen lassen und allein essen. „Liegestuhl, Kreuzworträtsel und Gesundheitspillen ist eine Kombination, da kommt nicht viel bei heraus.“ Er hat mit Demenzforschern gesprochen und die hätten geraten: Bewegen, bewegen und nochmals bewegen und soziale Kontakte pflegen.
Franz Müntefering ist ein Mann, der eine klassische SPD-Karriere hinter sich hat. Acht Jahre Volksschule. Das wars mit der Schulbildung, kein Abitur, kein Studium. Und dennoch hat er es weit gebracht, hat sich weitergebildet, gelesen und gelesen. Später konnte er mit jedem mithalten, er war intellektuell in der Lage, zu jedem Problem sich zu äußern. Er konnte schwierige Sachverhalte einfach erklären.
Ja, räumt er heute ein, die jungen Leute haben andere Sorgen als wir damals, nach 1945. Er wurde Im Januar 1940 geboren, nur ein paar Jahre nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Wegen seiner Geburt habe sein Vater nicht nach Stalingrad gemusst, sondern wurde in den Süden geschickt, um mit Generalfeldmarschall Erwin Rommel zu kämpfen. Dazu schreibt er: „Ich denke, Krieg ist Krieg, aber auch im Krieg ist warm besser als eiskalt.“ Ein typischer Müntefering-Satz. Dieser „Kriegsmist hatte was zu tun mit Adolfittla“, schreibt er in der Kindersprache und dachte, dieser Adolfittla sei kein richtiger Mensch. Dann kamen die Amis und die Tommys und der junge Franz bekam wie andere Kinder auch von den Fremden ein Kaugummi geschenkt, uns schenkten sie auch ein Stück Schokolade. Die Amis waren Neger, so sagten sie damals bei uns und woanders, heute wäre das politisch nicht mehr korrekt. Aber es war nicht bös gemeint.
Bürgernähe suchen
1946 sei der Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, die geplante Auswanderung nach Florida habe man aufgegeben, der Vater als Industriearbeiter gearbeitet. Und dann habe es auch wieder genug zu essen gegeben. Das waren die Sorgen der Deutschen nach 1945, man musste die braune Zeit, die Schrecken der Nazi-Jahre verdauen, brauchte Arbeit, eine Wohnung- aber alles lag in Trümmern. Müntefering schloss sich 1965 der SPD an, weil er enttäuscht war über die Wahlniederlage von Willy Brandt. SPD im Sauerland, das war nicht so einfach. Man wählte auf dem Dorf die CDU. Andererseits war Müntefering als Kind Messdiener gewesen.Ob er sich damit bei SPD-Leuten verdächtig gemacht hat? Er stellte fest, dass die CDU überall vertreten war, in der Feuerwehr, im Kirchenchor, Peter Glotz nannte das später den vorpolitischen Raum. Den habe die SPD dann auch aufgesucht, sei zu den Bürgern gegangen und so hätte man ihnen die Wahlkreise im Sauerland abgenommen.
Dass die jungen Leute wegen des Klimawandels auf die Straße gehen, findet er gut. Die Älteren, wir Älteren müssten den Jungen zuhören, um deren Sorgen zu verstehen, ihre Ängste, dass der Planet, auf dem wir leben, kaputt gemacht wird. Müntefering spricht vom Generationendialog, will den Jungen dabei auch seine Sicht erklären, wie wichtig Europa sei. Europa sei unsere Lebensgeschichte, 75 Jahre Frieden nach all den Kriegen mit den vielen Toten und Zerstörungen. Er wünscht sich mehr Engagement für die Europa-Wahl im Mai, mehr Begeisterung, man müsse aufpassen, dass die Nationalisten nicht überall in Europa noch mehr Zulauf bekämen. Der Nationalstaat, stellt er in der abschließenden Fragerunde fest, müsse bleiben, aber die Probleme müssten international gelöst werden. Klimawandel hört nicht an der Grenze auf. Und wirtschaftlich könne Europa nur gemeinsam überleben gegen die Riesen aus China, Indien und den USA, Deutschland allein habe keine Chance, andere EU-Ländern genauso wenig.
Der SPD rät er von Gedankenspielen ab, die Große Koalition vorzeitig zu verlassen. Im Herbst will man ja Bilanz ziehen. Der Hobby-Fußballer Müntefering meint: „Wer zur Halbzeit nicht wieder auf den Platz kommt, hat wenig Chancen zu gewinnen.. Die Zahl der Zuschauer wird abnehmen. Die der Wählerinnen und Wähler auch. Er gerät in Vergessenheit.“ Damit die SPD aus der Krise findet, müsse sie wieder Volkspartei sein. Der Fehler der Partei sei, dass die SPD sich „zu gern schmal statt breit“ mache. Die Werte der Partei müssten immer mal wieder herausgestellt werden: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität. Die Menschen müssten erfahren, wohin die Reise gehe. Man müsse „entschlossen handeln, sammeln und führen. Es gibt Themen und Bedarf. Noch mal: Fangt an!“
Große Fragen im Parlament diskutieren
Und was die Republik betreffe und die abnehmende Lust der Menschen an der Demokratie oder besser der Politik überhaupt, rät der Alte aus dem Sauerland, der heute im Ruhrgebiet und in Berlin lebt: die großen, bewegenden Fragen müssten wieder in den Parlamenten erörtert werden, nicht in Talkrunden, dazu könne man sich ruhig ein paar Tage Zeit nehmen. Das Parlament müsse darüber diskutieren, was die Menschen bewegt und ärgert. Wenn man das Wahlalter auf 16 herabsetzen wolle, solle man das nicht einfach beschließen, sondern offen im Bundestag debattieren. Wenn man mehr Frauen in den Parlamenten wolle, solle man das offen in den Parlamenten diskutieren. Oder: Jetzt lebten rund 7,5 Milliarden Menschen auf der Erde, in wenigen Jahren werden es rund zehn Milliarden sein. Darüber müsse offen geredet werden, über den Frieden, über Wohlstand, den Klimawandel.
Franz Müntefering: Unterwegs. Älterwerden in dieser Zeit. Verlag Dietz, Bonn, 2019. 224 Seiten. 23 Euro.
„Wäre Franz Müntefering nicht ein Gewinn in der am Boden liegenden ältesten deutschen Partei? Warum ruft ihn keiner …?“
Ein Parteigenosse meint den Grund zu wissen: „In Münteferings Zeit und Verantwortung als Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und als SPD-Vorsitzender ist die SPD bei der Bundestagswahl 2005 von 40,9 % im Jahr 1998 und 38,5 % im Jahr 2002 auf 34,2 % abgestürzt – in nur sieben Jahren, und dann noch einmal mit minus gut 11 Prozentpunkten auf 23 % im Jahr 2009 gelandet. Das ist Münteferings Leistungsbilanz. Verlorene Wahlen.“
Quelle: https://tinyurl.com/y3xrog56