Ausgangslage
Die Lage vor der Wahl: eine große Koalition, angeführt von einer Kanzlerin, die international erfahren ist und weit über Deutschland und Europa hinaus Ansehen genießt, aber bis in die eigenen Reihen hinein für ihre Flüchtlingspolitik im Jahr 2015 kritisiert wird. Ein Juniorpartner, der ein Trauma mit sich herumschleppt, nämlich in der Regierung vier Jahre lang erfolgreiche Politik, vor allem im Sozialbereich, gemacht zu haben, dafür aber nicht die Anerkennung zu finden, die eigentlich angebracht wäre. Die Meinungsumfragen zeigen seit 2013, dem Jahr der letzten Bundestagswahl, konstant den 10 bis 15 Prozentpunkte-Abstand zwischen Union und SPD, unterbrochen nur von wenigen Monaten, in denen der Schulz-Zug rollte, aber nach drei Landtagswahlen im Frühjahr 2017 entgleiste.
Und dann die Gewissheit – spätestens seit den drei Landtagswahlen genauso konstant -, dass vier kleinere Parteien den Einzug in den Bundestag schaffen werden. Die FDP, wieder erstarkt und kein Risiko der verschenkten Stimme mehr darstellend; die Grünen mit ihrem Kernanliegen der Sorge um Umwelt und Klima mit Union wie mit SPD als Koalitionspartner denkbar; die Linke mit dem Versuch, links von der SPD eigene Akzente zu setzen, aber selbst auf die SPD mehr abschreckend als anziehend wirkend. Gleichzeitig sind Grüne und Linke absehbar nicht stark genug, um mit der SPD eine rot-rot-grüne Regierung bilden zu können. Bleibt als Letztes die AfD, die einen rechtspopulistischen bis rechtsextremen Kurs steuert und mit der deshalb keine andere Partei etwas zu tun haben will.
Wahlkampf und Wahlergebnis
Union, SPD, FDP, Grüne und Linke haben in dieser Situation ihre Anstrengungen darauf konzentriert, die eigenen Anhänger zu mobilisieren und so viele Stimmen wie möglich aus dem Lager der nicht Festgelegten und der Nichtwähler zu gewinnen. Das war richtig und konsequent, galt es doch, für die absehbaren Koalitionsverhandlungen so stark wie möglich zu werden und erst nach der Wahl zu sehen, welche Koalitionsmöglichkeiten es dann überhaupt geben würde. Inhaltlich hatten die Parteiprogramme zwar genug Gegensätzliches, aber auch viele Schnittstellen, was insgesamt dazu beigetragen hat, dass der Wahlkampf als wenig kontrovers, ja von vielen als langweilig empfunden wurde. Wesentlich zu diesem Eindruck hat beigetragen, dass dies auch in den Medien immer wieder behauptet wurde.
Und genau hier, bei der mangelnden Spannung, den mangelnden Kontroversen, fing das Problem an, das der AfD in die Hände spielen sollte. Mehr als die Hälfte, wenn nicht zwei Drittel ihrer Wähler, so sagen es die Demoskopen, hat nicht die rechtsextremen Positionen der Partei geteilt, sondern nur eine zum Teil diffuse Unzufriedenheit mit der großen Koalition, den generellen politischen Verhältnissen und den zu wenig erkennbaren Differenzen zwischen den etablierten Parteien ausdrücken wollen. Dieses Protestverhalten wohlgemerkt gegen alle etablierten Parteien, nicht nur gegen die große Koalition, hat sich in unterschiedlichen Ausprägungen in allen Bundesländern, besonders aber in Ostdeutschland und überraschenderweise in Bayern gezeigt. Gerade im Osten hat die AfD „der Linken als Sammelbecken der Unzufriedenen den Rang abgelaufen,“ wie es das Institut für Demoskopie Allensbach nur eine Woche vor der Wahl in der FAZ analysierte. Und in Bayern hat der Wähler anscheinend in erster Linie die CSU und ihren Vorsitzenden abgestraft für seine in vielen Augen zu selbstverliebte und zu sehr einem taktischen Kalkül geschuldete Politik seit 2015.
Apropos Demoskopie: Auch diesmal müssen die Institute eine sehr gemischte Bilanz ihrer eigenen Arbeit ziehen. Die Union sahen die renommierten Institute alle bei 36 % und mehr, bei der SPD hatte nur Infratest Dimap die SPD bei 20%, die Grünen sahen alle deutlich unter den 8,9%, die sie schließlich erreichte, die Linke hatten immerhin zwei Institute fast richtig, nämlich Allensbach und Infratest Dimap, und bei der AfD lag nur Infratest Dimap mit 12% nah an den erzielten 12,6%. Was uns lehrt, dass Umfragen nur grobe Orientierungen sein können, aber die tatsächlichen Stärkeverhältnisse nicht so zu prognostizieren sind, dass sie verlässlich wären. Selbst die oft zitierte Schwankungsbreite von drei Prozentpunkten haben Allensbach bei der Union und Forsa bei der AfD übertroffen: Allensbach hatte die Union bei 36,5%, Forsa die AfD bei 9%. Aber das nur am Rande.
Also: eine selbstsichere Union, aber mit einem Klotz am Bein, nämlich der Flüchtlingspolitik und dem nicht wirklich beigelegten Streit darüber zwischen CDU und CSU, noch koalierend mit einer verunsicherten SPD, deren Personal und vor allem deren Spitzenkandidat keinen Glanz ausstrahlen kann, und dann ein buntes Lager kleinerer Parteien mit einem Schmuddelkind, mit dem niemand spielen will. Was vor diesem Hintergrund am 24. September passiert ist, dürfte eigentlich nicht wirklich verwundern. Eine große Koalition, in der sich beide Partner nicht mehr wohl fühlten und deutlich gemacht hatten, dass es für sie keine Fortsetzung geben sollte, falls das irgendwie zu vermeiden war, strahlte nicht unbedingt Attraktivität aus. Deswegen gab es für diejenigen, die entweder mit der Union oder der SPD sympathisierten, ein Dilemma, dass nämlich das Kreuz bei der einen oder der anderen dieser beiden Parteien möglicherweise doch ein „Weiter so“ bedeuten konnte. Die Angst vor oder die Unzufriedenheit mit einem „Weiter so“ wurde dann auch noch verstärkt durch das TV-Duell zwischen Kanzlerin und Kanzlerkandidat. Er-innert sei nur an die Karikatur auf der Titelseite der FAZ am folgenden Tag, mit „Angela“ und „Martin“ auf der Parkbank, beide sich bestätigend, wie gut sie waren. Diese Karikatur ist das Symbolbild dieser Wahl, besser kann man nicht zum Ausdruck bringen, worin das Dilemma für den Wähler bestand.
Es versteht sich von selbst, dass sich in einer solchen Situation natürlich die Blicke und das Interesse auf die kleineren Parteien richteten. Sie waren jetzt automatisch potentielle Mehrheitsbeschaffer für die Großen, in welcher Konstellation auch immer. Jeder CDU- und jeder SPD-Wähler musste sich also überlegen, mit welcher der kleineren Parteien am ehesten zu koalieren wäre, was im Ergebnis dazu führte, dass von CDU wie von SPD Stimmen zu den Kleinen wanderten, die teils stärker als prognostiziert abschnitten – FDP und Grüne -, teils aber auch schwächer als erwartet – die Linke. Dies wäre alles im Rahmen des bisher in der Geschichte der Wahlen Üblichen bzw. Vertrauten geblieben, wenn nicht mit der AfD die große Unbekannte mit im Spiel gewesen wäre und als Sammelbecken der Unzufriedenen zahlreiche Wähler aus allen Lagern und besonders auch bisherige Nichtwähler angezogen hätte. Das Abschneiden der AfD erklärt sich zuallererst aus der Unzufriedenheit zu vieler Menschen im Lande, nicht aus ihren Inhalten und Parolen.
Und nun?
Es ist wie so oft: Statt an die Ursachen heranzugehen, hat man sich mit den Symptomen beschäftigt. Es war aus meiner Sicht ein Fehler, den Aktionen und Provokationen der AfD hinterherzulaufen bzw. ihnen so viel Aufmerksamkeit zu schenken. Beide, Politik und Medien, haben diesen Fehler gemacht. Vielmehr hätte man sich stattdessen viel intensiver um die Ursachen der Unzufriedenheit kümmern müssen, um die Anliegen und Sorgen der sich abgehängt und vergessen Gefühlten. Auch die Medien hätten ihr Interesse weniger auf die AfD und ihr Personal richten, sondern intensiver die inhaltlichen Themen behandeln müssen, sprich die prekären Verhältnisse vieler Menschen, die Altersarmut, die Angst um die durch Digitalisierung und Globalisierung bedrohten Arbeitsplätze, die wirtschaftliche und demographische Situation in Ostdeutschland etc. Durch die vertiefte inhaltliche Auseinandersetzung mit diesen Themen wären Unterschiede zwischen den Parteien deutlich geworden, wären die Ursachen für die Unzufriedenheit und den Protest zu kontern gewesen. Stattdessen haben sich Politik und Medien zu sehr mit den Symptomen befasst, nämlich mit der AfD bzw. deren populistischen und rechtsextremen Seiten und ihrem Identifikationsthema Flüchtlingspolitik. Das TV-Duell war in diesem Sinne Wasser auf die Mühlen der AfD, deren rechtspopulistische und rechtsextreme Töne allein nicht ausgereicht hätten, sie über die 5%-Hürde zu heben.
Was lehrt uns das? Wir brauchen eine Politik für Wirtschaft und Gesellschaft, die bei denen, die jetzt Protest gewählt haben, das Gefühl vermittelt, nicht mehr protestieren zu müssen. Medien und Politik sollten sich darauf konzentrieren, um den besten Weg zur Lösung der Probleme zu streiten, die den Menschen ganz persönlich Sorgen machen. Nur so kann die Unzufriedenheit mit dem politischen System überwunden werden. Wahlen werden in erster Linie über Sachfragen und Inhalte entschieden, und die Parteien müssen genauer hinschauen und zuhören, wo die Probleme liegen. Sie müssen die Menschen mitnehmen, statt ihnen ihre parteipolitischen Weisheiten zu verkünden. Sie müssen sich wieder auf das besinnen, was das Grundgesetz als Aufgabe der Parteien definiert hat, nämlich an der Willensbildung des Volkes „mitzuwirken“. Das Mitwirken muss wieder gelernt werden. Und auch der Satz, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden.
Bildquelle: Wikipedia, User Mcschreck , gemeinfrei